Anfang Dezember 2015 erhielt die Gesamtschule Unterstrass den Klaus J. Jacobs Best Practice Price 2015. Anlass war das Projekt „Selbstführung und soziales Handeln in Schule und Unterricht“. Die kleine Schule für 3- bis 15-Jährige geht einen etwas anderen Weg, als ihn auch der Lehrplan 21 mit der Dominanz des selbstorientierten Lernens aufzeichnet. Darüber nachzudenken lohnt sich, vor allem über die zentrale Frage, welche Rolle die Lehrerin spielt, welche Aufgabe dem Lehrer zukommt.
Die Welt ist anders geworden
Der Computer, das Internet, die Sozialen Medien lassen sich aus unserer Welt nicht mehr wegdenken; sie bestimmen unseren Alltag. Ohne Wenn und Aber. Wir alle benutzen und schätzen sie. Ein Zurück gibt es nicht.
Das digitale Panoptikum von Internet, Smartphone und Google Glass verändert auch das Unterrichten, der Schulalltag digitalisiert sich. Das hat Folgen. Angesagt ist Laptop-Unterricht. Das iPad mit individualisierter Lernsoftware bietet Zugang zur Welt der Information und des Wissens.
Der digitale Imperativ
Das sei die Zukunft, schreibt Olaf-Axel Burow in seinem neuen Buch „Digitale Dividende“. Von virtuellen Lehrern schwärmt auch Salman Khan, Autor der Publikation „Die Khan Akademie“. Er plädiert für Lehrvideos und interaktive Prüfungsfragen. Damit entfalle der „Beziehungsstress zwischen Schülern und Lehrern“. So steht es auf dem Buchrücken. Gefordert ist eine Totaldigitalisierung der Schulen. Die technisierte Berufswelt des 21. Jahrhunderts verlange dies. Unbedingt. Nur so seien die Schüler auf die Zukunft vorbereitet.
Wie hältst du mit dem Menschen?, ist man geneigt zu fragen. Wo bleibt das Zwischenmenschliche, wo der Lehrer, welche Funktion übernimmt die Lehrerin? Sprungbereit, sobald Schüler technische Probleme haben? Und sonst im Hintergrund und notfalls abrufbar?
Soll die Schule mithalten oder gegenhalten?
In die Schule kommt heute eine Generation, die viel Zeit mit dem Handy und am Computer verbringt. Sie kennt kaum etwas anderes. Und wer Wirklichkeiten wahrnimmt, der erkennt schnell: Ein gewisser Narzissmus beherrscht die digitale Kommunikation. Sie ist nur bedingt ein dialogisches Medium. Im Gegenteil. Der Mausklick ersetzt den Diskurs. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Die Fähigkeit zum Dialog, die Fähigkeit zum Anderen, ja zum Zuhören wird kleiner. Die dialogische Bindungsstärke schwindet, die Selfie-Sucht nimmt zu, die Vereinzelung verstärkt sich. Socius weicht solus, resümiert der Berliner Philosoph und Essayist Byung-Chul Han.
Man schaue sich nur die schulischen Pausen an. Zwischenzeiten sind Handy-Zeiten. Dabei müssten sich alle Kinder und Jugendlichen in ein soziales Ganzes integrieren können – unabhängig von ihren Voraussetzungen. Aus den Egos ist ein Wir zu bilden. Das verlangt die Berufswelt, das erfordert das soziale Miteinander, das gebietet der gesellschaftliche Zusammenhalt.
Schulisches Lernen ist Beziehungsgeschehen
Gerade darum stellt sich die Frage: Braucht es in Zeiten flinker Tastenklicks und schöner Oberflächen nicht eine gegenhaltende Kraft, eine Form von Gegenwelt? Braucht die Generation WhatsApp nicht ein lebendiges Vis-à-Vis, ein interessiertes Gegenüber, ein menschliches Du? So wie es der Religionsphilosoph Martin Buber eindrücklich formuliert hat?
In diesem Sinne gehören Lehrerin und Schüler zusammen, bilden Lehrer und Schülerinnen eine soziale Gemeinschaft. Aktuelle methodische Trends gefährden dieses Bündnis; doch die Allianz muss bestehen bleiben. Denn alles schulische Lehren und Lernen ist eingebettet in ein interaktives und dialogisches Beziehungsgeschehen. Darauf verweist auch die Hirnforschung. Die Lernpsychologie weiss es schon lange: Der Geist erwacht angesichts des Anderen. Lernen vollzieht sich primär von Mensch zu Mensch, von Auge zu Auge, von Ohr zu Ohr. Wer nur auf sich selbst bezogen ist, wer in sich verharrt, dem geht diese zwischenmenschliche Erfahrung ab, dem fehlt, was Bindung, Beziehung und Nähe ausmachen. Er bleibt ein isoliertes Individuum.
Leben in Beziehungen
Wir erleben unser Leben als wertvoll in Beziehungen, sei das im privaten Bereich, sei es im beruflichen Feld. Beziehungen machen die Dinge erst wirklich. Sie sind aber nur lebendig, wo Gefühle mitschwingen. Wo ich beziehungsmässig nicht dabei bin, spielt sich kein Leben ab. Darum sind die menschlichen Beziehungen zwischen der Lehrerin und ihren Kindern, zwischen dem Lehrer und seinen Schülern so grundlegend. Auch fürs kognitive Lernen. Jedes Kind braucht das Interesse des Lehrers, die Achtsamkeit der Lehrerin, die soziale Anerkennung und die persönliche Wertschätzung eines vital präsenten Gegenübers – eines menschlichen Du, das Widerstand aushält und auch herzlich streng sein kann.
Das pädagogische Profil einer Schule ist darum beschreibbar: Ein hohes Bildungsniveau und tragenden Sozialformen bilden die beiden Eckpfeiler. Lernraum und gleichzeitig auch Lebensraum, das muss eine gute Schule sein: ein Mikrokosmos gemeinsamen und gemeinschaftlichen Handelns, ein Ort des Diskurses, ein Raum, in dem vor allem jüngere Schüler vorrangig mit Menschen zu tun haben und nicht prioritär mit Maschinen. Der Neurobiologe Joachim Bauer drückt das so aus: „Die stärkste Motivationsdroge für junge Menschen ist der andere Mensch!“ Das Gleiche unterstreicht der neuseeländische Schulforscher John Hattie mit seinen Daten: „Lehrpersonen gehören zu den wirkungsvollsten Einflüssen beim Lernen.“ Was der renommierte Autor normativ einfordert, kann er dank seiner umfassenden Studien empirisch breit belegen.
Arbeitsblätter und Dossiers duften nicht
Die konkrete Schulwelt sieht mancherorts anders aus. Lernarchitekturen sind das Zauberwort, Arbeitsblätter sollen es richten. Angesagt ist selbstorientiertes Arbeiten. Drei reale Beispiele illustrieren es:
Die Kinder einer vierten Klasse kommen ins Schulzimmer, sitzen an ihren Platz, fassen einen Stapel Papiere, lesen den Auftrag und beginnen zu schreiben. Wenn sie fertig sind, gehen sie zur Lehrerin und erhalten neue Unterlagen. „Ist das noch Unterricht?“ fragten mich kürzlich Eltern. Und eine Primarschülerin beklagte sich. „Planarbeit stinkt mir. Den ganzen Morgen an Arbeitsblättern sitzen. Das ist total langweilig!“ Selbst Berufsschülern ergeht es ähnlich. Der Lehrer betritt morgens den Raum, schreibt die Aufgabe an die Tafel, verweist auf die Lerndossiers und die Lernumgebung. Dann zieht er sich zurück, um Pendenzen abzubauen, wie er sagt. Vor Mittag taucht er wieder auf. In der Zwischenzeit lernen die Schüler selbstgesteuert, das heisst, sie sind sich selbst überlassen.
Bildung kommt aus dem Tun
Diese einseitige Fixierung auf selbstorganisiertes Lernen macht skeptisch, das Überhandnehmen von Lernateliers führt zu Fragen. Geht es wirklich ohne den pädagogischen Bezug und die didaktische Kraft der Lehrperson und somit ohne das, was die Hirnforschung fordert und John Hattie empirisch belegt: den Lehrer als Kapitän und Lotse ins Fremde und Schwierige, die Lehrerin als Brückenbauerin zu Neuem? Diese Kernaufgabe wird doch erst dann wahrgenommen, wenn Lehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler zu Tätigkeiten animieren, die herausfordern, die Selbstführung verlangen und im alten Wortsinne der „formatio“ bilden, das heisst: formen. Es sind Aufgaben und Situationen, die den Tätigkeitsdrang lenken, die Verantwortung nach sich ziehen, die Aufmerksamkeit schärfen, das Interesse bilden und so den Charakter entwickeln. Das geschieht nur im Austausch mit präsenten Lehrerinnen, im Dialog mit achtsamen Lehrern.
Das Projekt „Selbstführung und soziales Handeln in Schule und Unterricht“ der eingangs erwähnten Gesamtschule Unterstrass lebt dem nach. Für ihren Pioniergeist wurde sie zu Recht geehrt.