Reflexionen über ein grosses Land zwischen Europa und Russland, das weder zum einen noch zum anderen Nachbarn ein tragfähiges Verhältnis gefunden hat. Wie gestaltet sich für die Menschen das Leben in diesem Dazwischen, in der «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen»?
Vielleicht sind Schweizer Medienkonsumenten und Journalisten es müde geworden, neben allem Wichtigen sich noch mit diesem flächenmässig grössten Staat Europas zu beschäftigen. Zu lange hat sich nichts mehr bewegt. Die Krim bleibt ungeachtet der Sanktionen Teil der Russländischen Föderation, der Donbass bleibt ein perspektivloses Niemandsland mit stehender Frontlinie und einer unauffälligen Anzahl von Toten auf beiden Seiten – «im Osten nichts Neues». Die ständigen Drohgebärden von Russland und NATO mit Manövern und Zwischenfällen stumpfen die Aufmerksamkeit ab. Die Ukraine kommt keinen Schritt voran in der Korruptionsbekämpfung und Festigung des Rechtsstaats, und sie bleibt international Bittsteller ohne Gewicht trotz bedeutender strategischer Lage. Die Sympathien von 2014 sind verflogen. Dass ein Land Sympathie und Militärhilfe auf sich zieht, bloss weil es Russland widersteht, erweist sich nicht als ausreichende Grundlage einer europäischen Partnerschaft.
Im Oktober kehrte ich nach zwei Jahren Corona-Pause wieder in das mir seit 1993 vertraute Kiew zurück. Da eskalierten gerade die Kennzahlen der Pandemie, die Regierung verhängte einen Lockdown mit vollständiger Schulschliessung und Nutzung des ÖV nur mit Zertifikat – eine schwerwiegende, zum Vornherein illusionäre Massnahme in einer Grossstadt mit hohem Anteil von Bewohnern ohne eigenes Auto und bei einer landesweiten Impfquote von 20 Prozent. Auch meine Möglichkeiten der Recherche waren eingeschränkt. So versuche ich, meine Reflexionen zur Lage der Ukraine an einige alltägliche Wahrnehmungen und persönliche Begegnungen anzuknüpfen.
Wer soll hier wohnen?
Auf der Fahrt vom Flughafen zum Stadtzentrum fällt auf, was nur schon in zwei Jahren an gigantischen Hochhäusern neu entstanden ist und wie weiterhin in der grenzenlosen Weite ziellos gebaut wird. Der Verdacht drängt sich auf, dass Bautätigkeit in dieser Form nicht Ausdruck gesunden Wachstums sein kann. Wer soll hier wohnen, wenn doch die Bevölkerung in der Ukraine seit Jahren abnimmt? (Gegenwärtig beträgt der Verlust jährlich etwa 0,5 Prozent, im Wesentlichen durch ein Überwiegen der Todesfälle über die Geburten.) Entweder es entstehen sozial problematische Leerräume aus spekulativer Fehlinvestition oder die Kleinstädte und Dörfer entvölkern sich, damit die Metropole ihre Hochhäuser füllen kann.
Sogar die anderen Grossstädte, einst bedeutende Industriezentren der Sowjetunion, verlieren Einwohner, allein Kiew wächst. Dazu kommt der Eindruck, dass hier am Rande der Hauptstadt nichts geplant ist, was den Stadtraum als Ganzes, z. B. für Kinder, lebens- und liebenswert macht. Es wachsen Wohn- und Bürotürme «an und für sich» aus dem Sandboden, den der Dnjepr angeschwemmt hat.
Wohnen in Kiew – futuristisch und nostalgisch
Den Gegenpol dazu bildet eine 2012 eröffnete Siedlung mitten im Stadtgebiet, die den nicht ukrainisch klingenden Namen «Comfort Town» trägt, errichtet von einem Architektenbüro, das weltweit, auch in Dubai und New York, projektiert. Eine vollkommen, von den Innen- bis zu den Zwischenräumen und den ungewöhnlichsten Fassadenfarben gestylte Sonderzone auf 115 Hektaren, die durch Gitter und Wachposten sauber von der unvollkommenen Normalität abgegrenzt ist, so dass man nur als einer der rund 20’000 Bewohner oder als persönlich Eingeladener Zutritt bekommt. Sie ist auch aus dem Flugzeug gut erkennbar wie eine Animation, vom historischen Zusammenhang gelöst.
Ich allerdings wohne in einem nur neungeschossigen, dafür langgezogenen Wohnblock nahe dem Zentrum, am linken Ufer des Dnjepr, wo nach dem Weltkrieg auch mit Hilfe deutscher Kriegsgefangener ein neuer Stadtteil zur Behebung der drängendsten Wohnungsnot im weitgehend zerstörten Kiew aus dem Boden gestampft wurde. Ein solcher Bau macht mitsamt Umgebung durch nichts darauf aufmerksam, dass die Sowjetunion vor exakt 30 Jahren zu Ende gegangen ist. (Gerade gegen diese Bauweise will Comfort Town ausdrücklich einen farbigen Kontrapunkt setzen.)
Praktische Trampelpfade und zerbrechende Zementplatten erlauben den Fussgängern damals wie heute die kürzesten Wege durch die Wohnblocklandschaft zu gehen; wegen dieser erdigen, dörflichen Pfade in der Grossstadt ist das Anziehen von Pantoffeln («tapotschki») beim Betreten einer Stadtwohnung seit je unumgänglich. Die Metalltüren, die den Zugang zu den damals wie heute verwahrlosten Treppenhäusern freigeben, schlagen mit unverkennbarem, rücksichtslosem Geräusch zu, und sofort erkennt man innen die vertrauten Ölfarben und die schmucklos in der Fassung hängende, nicht immer intakte einzige Glühbirne auf jeder Etage.
Es ist in Irkutsk nicht anders. Ein eigenartiger Stillstand der Zeit, aber ohne Denkmalpflege, auf riesiger Fläche. Im Innern der Wohnungen, die nach Auflösung der sowjetischen Wohnungsbehörden weitgehend den Bewohnern als Eigentum übergeben wurden, hat sich allerdings unsowjetische Individualisierung ausgebreitet. So hat dieses Wohnen gegenüber der Comfort Town und dem Wuchern am Stadtrand etwas nostalgisch Liebenswürdiges.
Das Gespenst sowjetischer Gewohnheiten
Gravierender ist, dass die Sowjetunion noch tief in den Gewohnheiten sitzt, zum Beispiel in denjenigen der Politiker. Sie sprechen noch im gleichen Gestus, mit denselben Ausdrucksweisen, versichert mir ein Freund, von Ausbildung Jurist. Auch die Richter seien nicht über die in der Sowjetunion eingeübte Selbstverständlichkeit hinausgekommen, dass es nicht ein Recht gibt, sondern gegenüber dem Recht unterschiedlich privilegierte Menschengruppen, die bei der Urteilsfindung zu beachten sind.
Aber auch den instinktiven Umgang grosser Teile der Bevölkerung mit der Beamten- und Politikerklasse versteht er als vor 1991 eingeübt: die selbstverständliche Verachtung gegenüber den hohlen Phrasen und Versprechen der Mächtigen, der vollständige Vertrauensverlust gegenüber ihrer Fähigkeit, das Land in die Zukunft zu führen, die daraus folgende Gewohnheit, sich das Leben möglichst am unfähigen Staat vorbei einzurichten, seine unsinnigen Kontrollen und Anordnungen zu ignorieren – jetzt eben auch seine Anordnungen zur Pandemie, die das Leben abwürgen könnten. Von diesen «volkstümlichen» Verfahren der Selbstbehauptung werden mir manche Beispiele erzählt – ein anderes Konzept des «mündigen Bürgers» als in der Schweiz. Die bekannte Liebe zur Datscha mag unter anderem auch darin begründet sein: Jeder braucht dringend seinen staatsfreien Raum. Darin gleichen sich Sowjetunion, Russische Föderation und Ukraine trotz entgegengesetzter staatlicher Strukturen.
Nationalpatriotismus statt Sowjetpatriotismus
Eigentlich wurden Schulreformen verordnet, welche die Zugehörigkeit der Ukraine zu westlichen Bildungskonzepten beweisen sollten. Betritt man ein staatliches Schulhaus, hockt aber die abgestandene Luft noch in den Ecken: Nationalpatriotismus anstatt Sowjetpatriotismus besetzt nun ohne Stilwechsel das Foyer, der Nationaldichter Schewtschenko anstatt Lenin (ich gebe zu: ein grosser Fortschritt) ist verordnetes Vorbild geworden, ebenso wie die Helden des ukrainischen Verteidigungskrieges gegen Russland. Sie werden auch in Schulhäusern mit «ewigem Ruhm» geehrt, anstelle der Helden des Grossen Vaterländischen Krieges gegen den Faschismus. Kaum ein frisch aus dem Zusammenleben mit Kindern wachsendes Gestalten. Beamte waren und sind am Werk.
Das hemmende Nachleben sowjetischen Geistes scheint begreiflicher in Russland, wo die Regierung die Sowjetnostalgie aktiv pflegt und dem neuen russländischen Patriotismus wieder zugrunde legt. Irritierend ist es vielmehr in der Ukraine, wo die Sowjetunion von der staatlichen Erinnerungspolitik nicht als Vorläufer des heutigen Staates akzeptiert, sondern als ein «russisches» Phänomen zum Feindbild erklärt wird, ungeachtet der vielen, auch führenden ukrainischen Parteikader in der KPdSU. Das Deklarieren vertreibt aber das Gespenst nicht. Hier wie in Moskau durchdringen sich modernste globale Technokratie und Kommerzialisierung mit Rückwärtswendung der staatstragenden Ideologie.
Helden in Russland und in der Ukraine
Darf man im Blick auf diese ideologisch gegensätzlichen ostslawischen «Bruderstaaten» den allgemeineren Schluss ziehen, dass Staatsmacht grundsätzlich nicht in der Lage sei, eine zukunftsfähige Idee hervorzubringen und dass sie vielleicht deshalb hoffnungslos der Vergangenheit verfällt? In beiden Staaten soll die Zukunft auf die Verehrung der heldenhaften Vorfahren und der traditionellen Werte gebaut werden, während im Westen sich die letzten Reste von diesem gesellschaftlichen Kitt verlieren. In Russland werden altorientalische Formen der Theokratie festgehalten. In der Ukraine lebt eine archaische Form des Märtyrerkults auf, nicht des christlichen Märtyrers, der durch seine Gewaltlosigkeit individueller Zeuge seiner Wahrheit wurde, sondern des slawisch-germanischen Helden, der durch kriegerischen Mut im Kampf für «das Volk» gefallen ist. Dennoch wirkt die ukrainische orthodoxe Nationalkirche mit bei der Heiligsprechung, so wie die russische orthodoxe Imperialkirche treu mitwirkt im theokratischen Bau der Staatsmacht. Während in Russland der Sieger der wahre Held der Erinnerungskultur ist, ist es in der Ukraine eher das Opfer, das kultisch erhöht wird.
So wird im Stadtzentrum von Kiew auf Plätzen und an Kirchen den Märtyrer-Helden des Majdan-Aufstands und der ersten, oft freiwilligen Fronteinsätze im Donbass von 2014 viel Raum gewährt mit erklärenden Schautafeln und Erinnerung an jeden Einzelnen mit Bild und Namen. Eine bedeutende Strasse (und nicht nur sie) trägt jetzt den Namen des «Himmlischen Hunderts», der hundert Demonstranten, die um den 19. Februar 2014 die eskalierenden Strassenkämpfe durch ungeklärte Schüsse aus dem Hinterhalt nicht überlebten. Der Name erhöht einen Begriff der militärischen Kosakentradition in die geistige Welt, vielleicht durch eine Dichterin zum ersten Mal ausgesprochen.
Ernüchterung und Vision
Für meine befreundeten Gesprächspartner zeichnet sich das Bild dieser Ereignisse sieben Jahre später kontrovers. Die einen, auch wenn sie konsequent europäisch orientiert sind, sind ernüchtert und schliessen aus dem unbefriedigenden Resultat des Volksaufstands doch zunehmend darauf, dass keine tragfähige Idee dahinterstand. Die berechtigte Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der mafiösen Regierung Janukowytschs und die Hoffnung auf europäische Normalität sei vermutlich zu anderen Zwecken organisiert und auf den Umsturz hin gelenkt worden.
Andere – besonders jene, die persönlich in diesen dramatischen Monaten auf dem Majdan als Augenzeugen und Aktivisten präsent waren – tragen immer noch das starke Erlebnis eines nie dagewesenen Aufbruchs in sich, der sich gewiss nicht durch Anstiftung und ausländische Finanzierung erklären lasse. (Das war auch mein Eindruck als Augenzeuge.) Einen historischen Augenblick lang war für sie die Vision des jungen Staates anwesend, der sich selber noch nicht gefunden hatte. Gerade bei diesen Menschen spielte die Hoffnung eine bedeutende Rolle, das sowjetische Erbe endgültig loszuwerden – das hiesse: in Kiew wieder europäisch zu werden wie in Mittelalter und Neuzeit, was Moskau nie war und auch nicht sein wollte.
Widersprüchlicher Bandera-Kult
Eine besondere Gruppe von Schautafeln begründet die Verehrung der Nationalistischen Widerstandsorganisation OUN unter Bandera und deren militärischem Arm UPA mit dem Motto «Gemeinsam mit Europa gegen Nazismus und Bolschewismus». Es werden in den Texten selbstverständlich nicht die Vision der OUN von einer faschistischen, ethnisch gereinigten Ukraine oder die Verbrechen der UPA an jüdischer, polnischer und nicht kooperationswilliger ukrainischer Zivilbevölkerung geehrt. Diese militante Nationalbewegung des letzten Jahrhunderts (1929–1948) wird so zum Mythos umgebildet, dass sie Ehre verdient als Bewahrerin europäischer Werte, bedrängt vom Totalitarismus aus Ost und West.
Das ist in der Westukraine leichter zu vermitteln, während die OUN-UPA in Kiew und im Osten kaum verankert war und ein Bandera-Kult künstlich implementiert werden muss. Aber ohne diese antisowjetisch-antirussische Heldengeschichte von freiheitsliebenden Patrioten glaubt der ukrainische Staat im 21. Jahrhundert seine Daseinsberechtigung nicht beweisen zu können, und zwar unter allen westlich orientierten Präsidenten, von denen ja keiner in seiner Regierungstätigkeit faschistische Neigungen zeigte. Damit wird der russischen Staatspropaganda unnötig in die Hände gespielt, die den Fernsehkonsumenten seit 2014 klar macht, dass in Kiew die faschistischen «Banderovzy» die Macht ergriffen hätten.
Ein russischer Journalist im ukrainischen Exil
In diesem Stadtzentrum der Helden, unter der übermenschlich (62m) hohen Unabhängigkeitssäule am Majdan, architektonisch geprägt von Stalin-Empire-Bauten, verabredete ich mich mit einem jungen Mann aus Irkutsk. Er hat seit diesem Sommer die Ukraine als sein Exil gewählt, denn er ist Journalist. Das heisst, er kann in Russland sich entweder der staatlichen Propagandamaschinerie zu verkaufen versuchen oder ist gesetzlich verpflichtet, jeden seiner Artikel als Produkt eines ausländischen Agenten zu deklarieren. Einen staatsunabhängigen, staatskritischen Journalismus ausserhalb der Agentenliste gibt es in Russland nur noch in letzten Zügen (z. B. Echo Moskvy/Эхо Москвы). In seiner Heimat hat er für den oppositionellen Kanal Doschd/Дождь gearbeitet, bis dieser im letzten August auch in die immer länger werdende Liste eingefügt wurde. Um seinen Beruf weiter kritisch auszuüben, wich er nach Kiew aus.
Für einen Kritiker der russischen Regierung ist Kiew ein sicherer journalistischer Arbeitsort. Mein ehemaliger Schüler fühlt sich in keiner Weise von ukrainischem Nationalismus bedrängt, obwohl er Bürger des gesetzlich als Aggressor definierten Staates ist und nicht Ukrainisch spricht. Würde er russische Politik in ein positives Licht stellen, würde es schwierig für ihn.
Russisch-ukrainische Friedensgespräche unter Jugendlichen
Etwas bedrängt vom Vorwurf, einen Aggressor- und Okkupantenstaat zu repräsentieren, fühlten sich zunächst fünf Schülerinnen und Schüler aus russischen Waldorfschulen. Sie hatten sich mit ihrer Lehrerin durch nichts davon abhalten lassen, ausgerechnet zur Pandemiezeit ins «Feindesland» zu reisen, was nur auf einem Umweg über Minsk möglich war. Ich durfte ihre ersten Begegnungsgespräche mit gleichaltrigen, das heisst 16- bis 18-jährigen Waldorfschülerinnen und -schülern aus Kiew anleiten, an der verfügten Schulschliessung vorbei. Niemand in der Runde von etwa 30 Jugendlichen hatte je das Nachbarland besucht, mit dem ihr Staat seit sieben Jahren in einem anerkannten oder verleugneten Kriegszustand steht.
Die Generation ihrer Eltern und Lehrer hatte sich im selben Alter noch in diesem riesigen Raum frei bewegt: die Sowjetunion als grenzenlose Heimat eines konstruierten «Sowjetvolks». (Ausgerechnet Chruschtschew, der die Krim der Ukraine zugeeignet hat, hat auch dieses mythische «Volk» zur Doktrin erhoben. Der Zusammenhang ist erhellend.) Gerade die ältere Generation tat sich jetzt aber schwerer als die Schülergeneration, die Begegnung zwischen Menschen unbefangen freizuhalten von Gefühlen, die sich an den feindlichen Staat heften.
Wir wagten es, nicht etwa über Sport oder Klima zu sprechen, sondern über die «verflochtene Geschichte» von Ukraine und Russland, das heisst an die Wunde zu rühren. Das war befreiend möglich durch etwas, was ich als «Jugendweisheit» bezeichnen möchte, die sich in jedem Beitrag äusserte und auf die sich – bei sorgfältiger Vorbereitung und Fragestellung – offenbar bauen lässt. Das im globalen Wettbewerb abgewertete Schulfach Geschichte bekommt dabei eine lebenswichtige Bedeutung, weil es um gegenwärtigen Willen zu Krieg und Frieden geht. Und gerade dieses Schulfach liegt in beiden Staaten fest im Griff der Zielsetzung, Patriotismus zu erzeugen – das heisst, es ist völlig wertlos für Schritte zum Verstehen. Die Waldorfschulen wenigstens können ihren Freiraum nutzen und an ihren ohnehin internationalen Ansatz des Geschichtsunterrichts anknüpfen.
Hemmschwellen der Versöhnung
Diese Gespräche machten mir bewusst, dass natürlich ein allgemeiner Wille zu Toleranz und Menschlichkeit, zur Wertschätzung der nicht an die Nationalität gebundenen Individualität Voraussetzung der Verständigung ist. Aber darüber hinaus muss man konkreter werden, und da wird es schwieriger: Was an emotionaler Geste der Versöhnung erforderlich ist, kann nicht symmetrisch sein (vielleicht darf man hier vorsichtig an die Schwierigkeit israelisch-palästinensischer Versöhnungsgespräche denken). Der ukrainische Staat hat sich kein Territorium der Russländischen Föderation angeeignet und unterstützt keine Separatisten in Russland militärisch.
Die russische Sprache ist nie zugunsten der ukrainischen Sprache diskriminiert oder gar verboten worden, aber das Gegenteil war zeitweise die entschlossene Politik der russisch dominierten Zentrale (1863–1905, 1946–1956 und ab 1972 bis zur Perestrojka). Erst 2019 hat sich das Blatt gewendet zu einer aggressiv antirussischen Sprachenpolitik. Dennoch nahm ich auf meinen vielen Fusswegen in Kiew immer noch überwiegend in Russisch geführte Gespräche der Passanten wahr. Das Russisch ist selbstverständlich nicht verboten, aber in seiner nichtprivaten Nutzung stark diskriminiert und gelegentlich auch mit persönlichem Hass belegt.
Gewichtiger ist aber eine emotionale Tatsache: Bewohner der Ukraine können vor der oft zur Schau gestellten militärischen Übermacht des Nachbarn Angst empfinden. Bewohner Russlands können vor der offensichtlich geschwächten Ukraine, der jede militärische und imperiale Tradition fehlt, keine Angst haben. Menschen mit russischer Staatsbürgerschaft kann es irritieren, dass sie in der Ukraine persönlich für die Aussenpolitik ihrer Regierung verantwortlich gemacht werden. Menschen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft kann es irritieren, dass jene sich dafür nicht verantwortlich fühlen.
Bewohner eines Staates mit imperialer Staatstradition können schwer verstehen, dass vernünftige Menschen mit ganzer Seele von einer ethnisch aufgefassten nationalen Ideologie ergriffen, ja wie besessen werden können. Bewohner eines Nationalstaats können nicht fassen, mit was für einer selbstverständlichen Grosszügigkeit Bewohner eines Imperiums sich überall in «Ihrem» fühlen und z. B. auf der Krim Schülerlager durchführen, als ob nichts wäre. («War die Krim, ja war die Ukraine nicht schon immer russisch?», kann ein apolitischer Russe unschuldig fragen.)
Hilfreiche Literatur zur Orientierung
Mit einem intensivierten Bewusstsein, Schweizer zu sein, kehrte ich von dieser Gesprächsvermittlung in meine Heimat zurück. Viel verdanke ich auch für meine Aufgabe mit den Jugendlichen Andreas Kappelers Büchern «Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer» (2017) und «Russland und Ukraine. Verflochtene Biographien» (2012). Es mag kein Zufall sein, dass er mit seinem Anliegen, wie es schon in den Titeln zum Ausdruck kommt, ein Schweizer ist. Kein patriotischer, ein internationaler.