Putin scheint seit sieben Jahren alles zu tun, um sich als Aggressor gegen friedliche Nachbarn, als Auftraggeber eines Heers von Trollen, die sich in demokratische Wahlen einmischen, als Protektor von folternden Diktatoren und Mitwisser von Mordversuchen an Oppositionellen einen Namen zu machen.
I. Das Feindbild
Es gelingt ihm, in einem zerstrittenen Westen einen Rest von Wir-Gefühl zum Leben zu erwecken, indem er seine Eignung als Feindbild immer neu bestätigt. Ohne ihn wäre es schwer zu begründen, weshalb US-Truppen existenziell wichtig seien für Europa und neuste Kampfflugzeuge in Kooperation mit der NATO für die Schweiz unabdingbar. In Deutschland spricht man es offen aus, in der Schweiz begnügt man sich mit Andeutungen, die man doch versteht: Man will ja nicht im Ernst serbische Bodentruppen, iranische Panzer und chinesische Kampfflugzeuge abwehren.
Schon immer ein aggressiver Bär?
Übrigens: war Russland nicht schon immer aggressiv? 1980, als Reaktion auf die sowjetische Intervention in Afghanistan, schockierte die ZEIT mit einem Titelbild unter der rhetorischen Frage: Wann ist der Bär satt? Ein monsterhafter Bär, die Pranken auf dem Iran, Afghanistan schon zugedeckt von einem sowjetischen Panzer, Europa von zaristischer Kavallerie. Er rast unaufhaltsam auf den wehrlosen Nahen Osten zu, dessen Staatsgrenzen sich schon in Blutspuren verwandelt haben. In seinem Dunst erkennt man sowohl die Symbole der Sowjetunion wie die des Zarenreichs.
Die Botschaft war klar: Aggressiv ist der Bär nicht nur aktuell, sondern das aggressive Wesen Russlands stellt für Europa eine zeitlose Bedrohung dar (Herausgeber und Zeichner rechneten offenbar damit, dass die Betrachter keine Ahnung haben von 1605, 1812 und 1941). [1]
Derselbe Anlass gab dem Kommandanten meines WKs Gelegenheit, den im Januar 1980 einrückenden Soldaten klar zu machen, dass es wieder guten Grund gibt, sich auf den Ernstfall vorzubereiten. Warum sollte die Grossmacht, die in einem ihrer asiatischen Nachbarstaaten im Zusammenhang mit Islamismus interveniert, nicht auch die Schweiz überfallen und endlich das in jedem Manöver vorweggenommene Szenario verwirklichen, dass «Rot» bei Sargans die Grenze überschreitet? Das fiel nicht aus dem Rahmen der akzeptierten Logik im Kalten Krieg.
Das Titelbild von 1980 entspricht bald der aktuellen Stimmung, nur dass vierzig Jahre später die linke Pranke auf der Krim liegen würde (während in Afghanistan inzwischen nimmersatte NATO-Truppen stehen) und dass neben Zaren- und Sowjetsymbolik noch Putins Agentengesicht im Fell des Bären zu erkennen wäre. Heute gilt als Logik, dass ein Staat, in dem Oppositionelle ihres Lebens nicht sicher sind, die Aufstockung der Militärbudgets in Europa notwendig macht. Wenn die Emotionen einmal angefacht sind, fallen die Lücken in der Logik nicht mehr auf.
Dass wir uns in einem neuen Kalten Krieg befinden, ist zum Gemeinplatz geworden, und es klingt in den Feststellungen der Politiker und Journalisten eher selten ein tiefgreifendes Bedauern darüber an. Es ist nur das instinktiv Erwartete eingetreten für den, dem das Bild vom bedrohlichen Wesen Russlands in den Knochen sitzt. Putin als ehemaliger KGB-Agent, der sich immer noch zu den Idealen des KGB bekennt, den Anschluss der Krim veranlasst, die Ostukraine destabilisiert und dem Diktator von Belarus, wenn auch zögerlich, Unterstützung gegen friedliche Demonstranten zusichert – er erfüllt die Anforderungen des Klischees in idealer Weise.
Linke und rechte Putin-Sympathisanten
Trotz allem bleiben ihm im Westen zahlreiche Freunde in Parteien und Medien treu, quer durch die politische Landschaft – auch solche Freunde, die sonst wenig eint, wie Infosperber und Weltwoche, AfD und Die Linke. [2] Putin-Versteher dürfte eine irreführende Kennzeichnung sein für diejenigen, die sich mit instinktiver Antipathie gegen die USA und instinktiver Sympathie für Russland reflexartig vor Putin stellen, als ob Putin Russland wäre.
Aber auch die, welche instinktiv oder mit strategischer Absicht das Feindbild pflegen, haben sich nicht vorgenommen, Putin als aufschlussreiches Phänomen des 21. Jahrhunderts zu verstehen. Aus den gewollten Einseitigkeiten der Wahrnehmungen lässt sich kein fruchtbarer Dialog mehr komponieren. Das Verhältnis zwischen Russland und «Europa» verschlechtert sich so dramatisch, dass Wege gefunden werden müssen, die angebliche Gefährlichkeit und die angebliche Friedlichkeit Russlands unter Putin differenziert zu verstehen, mit Sinn für die Widersprüchlichkeit des Lebens.
Es gibt kaum ein Feindbild, das – wenn auch ausgehend von Tatsachen – nicht Instrument fremder, destruktiver Absichten wird. In der aktuellen Tendenz zur Entfremdung braucht es eine erhöhte Denkdisziplin, um das instinktiv vorhandene und strategisch geschürte Feindbild zu unterscheiden von wahrnehmbaren Gefahren für die europäische und die russische Bevölkerung, die aus der Regierungstätigkeit Putins hervorgehen. Ebenso um die dringend notwendigen Ansatzpunkte für eine deeskalierende Verständigung nüchtern zu unterscheiden von naivem oder strategischem Verharmlosen.
II. Das richtige historische Erinnern und Vergessen
Unumstritten lässt sich zum Beispiel feststellen, dass die richtige Erinnerung an die Geschichte des Vaterlands und an dessen Rolle in der Weltpolitik Putin zunehmend am Herzen liegt. Damit steht er keineswegs allein, sondern es gehört zur Renaissance des Patriotismus in vielen Staaten, dass die richtige Erinnerung – diejenige, die den Patriotismus stärkt, ganz besonders in den Schulen – wieder ein wichtiges Anliegen von Politikern ist.
Die Leidenschaft, als Nichthistoriker detailreich über Geschichte zu dozieren und Schlüsse daraus für die Gegenwart zu ziehen, verbindet Vladimir Putin z. B. mit Christoph Blocher. Beiden geht es übereinstimmend darum, dass wir stolz sein können beim Erinnern der Geschichte unseres Vaterlands, da es sich immer heldenhaft gegen übermächtige Feinde verteidigt hat, dass es auch jetzt wie schon immer einen Angreifer abzuwehren gilt und dass die Behauptung «neuer» Historiker, es gebe dunkle Flecken, die eher Scham als Stolz wecken müssten, als Nestbeschmutzung zurückgewiesen wird. Was diese beiden von Donald Trumps richtiger patriotischer Erinnerung unterscheidet, ist ihre Detailkenntnis, während Trump sich mit seinem Wissen begnügt, dass Amerika schon immer very very great war.
Patriotismus versus Geschichtswissenschaft
Aber auch er stimmt gerade am 20. 09. 2020 wieder mit Putin und Blocher überein, dass die ruhmvolle Geschichte des Vaterlands noch energischer gegen Verfälschungen verteidigt werden muss. Man «hat die vaterländische Geschichte mit Täuschungen, Unwahrheiten und Lügen verzerrt, verdreht und besudelt». Sagt das Blocher, Trump oder Putin? Man könnte wenigstens neidlos zugestehen, dass Putin in einer anderen intellektuellen Liga spielt als der Führer der Freien Welt, auch wenn ihn Ulrich Schmid in der NZZ vom 2. Juli 2020 als «selbsternannten Chefhistoriker» disqualifizieren will.
Dass sich Patriotismus schlecht mit Geschichtswissenschaft verträgt, lässt sich in der Schweiz wie in Russland, in den USA wie in Polen nachweisen. Ulrich Schmids Vorwurf: «Er legt sich die Vergangenheit nach seinen Bedürfnissen zurecht und versucht nicht einmal, das historische Material in eine differenzierte und kritische Deutung überzuführen», dürfte an Dutzende von Politikern ausserhalb Russlands gehen.
Ungewöhnlich ist trotzdem, dass ein amtierender Präsident einen historischen Aufsatz im Ausland (auf Englisch in den USA!) veröffentlicht, von den Botschaftern seines Landes an bekannte Historiker verschicken und schliesslich gegen Kritik ausführlich verteidigen lässt. [3] Ob Putin ihn selber verfasst hat, halte ich für eine unwesentliche Frage, umso mehr, als er über den Inhalt an unzähligen Fernseh-Auftritten souverän spricht, ohne abzulesen oder sich in den Fakten zu verwickeln. [4]
Putins Aufsatz zum 75. Jahrestag des Sieges
Der Aufsatz zum 75-Jahr-Jubiläum des Sieges von 1945 ist deklariert als Aufruf an den Westen, der Russland immer feindseliger gegenüberstehe und deshalb die wahre Geschichte des 20. Jahrhunderts «durch Informationsangriffe» mit aktueller politischer Zielsetzung verfälsche, anstatt aus gemeinsamer Erinnerung heraus die Lektion der Geschichte zu verstehen. [5]
Der Aufsatz beginnt aber mit einem Aufruf an die Jugend Russlands, und der Inhalt ist identisch mit dem Geschichtsbild, das unermüdlich seit Jahren auf allen Kommunikationskanälen der eigenen Bevölkerung und besonders den Schülern der Russischen Föderation vorgetragen wird. Dieser Adressat scheint mir für Putin wichtiger zu sein, auch wenn sich der Aufruf formal an die kaum belehrbare «Weltöffentlichkeit» wendet.
Der Botschaft fehlt ein aggressiver Ton, sie ist vielmehr ausgerichtet auf das versöhnliche Angebot einer erneuerten Kooperation im Geiste des Bündnisses gegen Hitler. Das Angebot ist Teil eines historischen Konzepts, das ich in eigenen Worten wiederzugeben versuche:
Es soll anerkannt werden, dass die Sowjetunion im Verhalten zum Nationalsozialismus bis 1939 nicht mehr Schuld und Schande auf sich geladen hat als seine westlichen Partner. Indem die Sowjetunion die Hauptlast der Zerstörung durch die deutsche Kriegführung und beim Erringen des Sieges getragen hat, verdient sie sogar besonders ehrenhafte Anerkennung. Das heutige Russland ist der legitime Nachfolger der Sowjetunion, und deren Geschichte «mit all ihren Triumphen und Tragödien ist ein untrennbarer Bestandteil unserer tausendjährigen Geschichte». Daher verdient Russland ebenso als ehrbarer Partner auf Augenhöhe respektiert zu werden, wie damals Stalin durch Roosevelt und Churchill respektiert wurde.
Russland war und ist eine Grossmacht und Siegermacht, keine scheiternde «Regionalmacht», wie Obama es herablassend einstufte.
Dass Stalin Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung begangen hat, ist schon mehrmals von der russischen Regierung anerkannt worden und wird auch jetzt, allerdings nur in einem einzigen Satz des langen Textes, noch einmal als «Entsetzlichkeit» bestätigt. Stalins Verbrechen gegen fremde Bevölkerungen zur Zeit der «angeblichen» Besetzung hingegen (in Wirklichkeit war es eine Befreiung) werden hier nicht einmal erwähnt, wie auch die Erschiessung Tausender polnischer Offiziere in Katyn, die Putin 2010 feierlich vor Ort als Verbrechen des NKWD, möglicherweise im Auftrag Stalins, anerkannt hat. [6] Putins Verteidigungsstrategie arbeitet in der Regel nicht damit, dass Verbrechen und (Mit)schuld geleugnet werden, sondern dass sie nicht mehr erwähnt werden, da sie schon von russischer Seite eingestanden worden sind und insofern ad acta gelegt werden können.
Die Weltfriedensordnung soll heute wie 1945 nicht auf die Zustimmung von Kleinstaaten und Bevölkerungen gebaut werden, sondern auf eine pragmatische Kooperation zwischen den Grossmächten, die sich gegenseitig in ihren Sicherheitsinteressen und ihren Einflusszonen respektieren. Angemessener Ausdruck davon ist deshalb auch das Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat. Die UNO ist das Ergebnis dieser Kooperation.
Weltanschauliche Gegensätze können für die Kooperation kein Hindernis bilden. 2013 erläuterte Putin diesen Aspekt damit, dass es sich heute keineswegs mehr um ideologische Gegensätze handle wie damals, sondern um kulturologische. Kulturologie ist eine in Russland vom Staat geförderte, in den USA nach dem Krieg entstandene Wissenschaft, die das Besondere jeder Kultur herausarbeitet. In Russland neigt dieses Besondere zu etwas zeitlos Mystischem: Es geht um das Wesen Russlands, dem gegenüber Ideologien viel vergänglicher sind. Der marxistisch-leninistische Kommunismus der Bolschewiki mit seinem «Nihilismus und Spott über nationale Geschichte, Tradition und Glauben» stellt für Putin keinen mit Russlands Wesen verbundenen Wert dar. Stalin, der Hunderttausende wegen Abfall vom Marxismus-Leninismus in den Tod schickte, erscheint in Putins Geschichtsbild nie als dessen Repräsentant.
Aus der Geschichte der USA gehe ganz natürlich der Individualismus als höchster Wert hervor, der sich allerdings durch eine ethnische Säuberung Platz geschaffen und durch Sklaverei mit Nachwirkungen bis heute befestigt habe. [7] Zum Wesen Russlands hingegen gehöre ein Kollektivismus, etwas, was über den Horizont hinaus, auf etwas Seelisches, auf die Zukunft – auf Gott – gerichtet ist. [8]
Dass im Westen das Angebot einer gemeinsamen, die Mitschuld bekennenden Erinnerung an die Vorgeschichte des 2. Weltkriegs empört abgelehnt wurde, lässt sich nicht durch Geschichtswissenschaft begründen. Was Putin im folgenden Zitat ausspricht, ist durch die Quellen einwandfrei belegt. Schade, dass man diese seltene Gelegenheit zur Übereinstimmung verpassen wollte.
Die Weichen für den 2. Weltkrieg gestellt?
Fast geschlossen stellte man sich hinter den Beschluss des EU-Parlaments vom 19. 09. 2019, dass mit dem Pakt, den Stalin am 23. August 1939 mit Hitler schloss, «die Weichen für den 2. Weltkrieg gestellt» worden seien. [9] Dass ein Parlamentsbeschluss geschichtliche Wahrheit festschreibe – und trotz der katastrophalen Erfahrung von Versailles sogar mit einer Alleinschuldthese – wurde überwiegend gerechtfertigt. [10] Müsste Geschichtswissenschaft nicht grundsätzlich gegen eine von staatlicher Autorität verkündete Wahrheit über historische Ursachen protestieren? [11] Der neue, noch nicht Eiserne Vorhang trennt nicht unwissenschaftlich argumentierende Politiker im Osten von wissenschaftlich argumentierenden Politikern im Westen.
Putin: «Der Zweite Weltkrieg brach nicht von heute auf morgen aus. … Alle Vorkriegsereignisse reihten sich in eine schicksalshafte Kette ein. Aber das Wichtigste, was die grösste Tragödie in der Geschichte der Menschheit vorbestimmte, war natürlich der staatliche Egoismus, die Feigheit, die Nachsicht gegenüber einem Aggressor, der an Stärke gewann, und die Nichtbereitschaft der politischen Eliten, einen Kompromiss (im Zusammenschluss gegen den Faschismus) zu suchen. … Alle führenden Länder haben den Ausbruch (des Weltkriegs) in dem einen oder andern Masse zu verantworten (also nicht im gleichen Mass! P. L.). Jedes von ihnen hat nicht wiedergutzumachende Fehler in der selbstgefälligen Zuversicht begangen, dass man andere überlisten, einseitige Vorteile für sich gewinnen und dem heranrückenden globalen Unheil ausweichen kann. … Ich schreibe das ohne die geringste Absicht, die Rolle eines Richters zu übernehmen, jemanden zu beschuldigen oder zu rechtfertigen.»
(Beim Blick auf die USA kommt vielleicht weniger klar der Staat für dieses von Putin vorgeschlagene gemeinsame Bekenntnis in Frage, aber doch – auch gut belegt – sind Grossbanken und Konzerne einzuschliessen, die die Aufrüstung Hitlers finanziell und technologisch begünstigten, ebenfalls «um einseitige Vorteile für sich zu gewinnen».)
«Glieder in der Kette» zum Zweiten Weltkrieg
Obwohl Putin noch über bisher geheim gebliebene Dokumente spekuliert, sind solche gar nicht nötig, um die Politik des British Empire bis in die Motivationen der Handelnden hinein aus den Quellen nachzuvollziehen [12]: die Verbreitung von echten Sympathien für Hitler und den Nationalsozialismus in der englischen Elite, die Hoffnung auf den NS als ein Bollwerk gegen den Weltkommunismus, die Kenntnis von Hitlers in «Mein Kampf» dargelegtem weltpolitischem Ziel – dem Lebensraum im Osten – und das einzig leitende Kriterium: der Machterhalt des weltweiten Empires bei offenkundigen Alarmzeichen des Niedergangs; Frieden, wenn er diesem Kriterium dient.
Putins in Einzelheiten anfechtbare Provokation könnte als Anlass genutzt werden, die Erzählung vom konsequenten Friedenswillen und von der naiven Gutgläubigkeit in Unkenntnis des Nationalsozialismus auf Seiten des British Empire endlich fallen zu lassen, anstatt sie erneut ins Feld zu führen. Putin erinnert zurecht an die von den Westmächten zu verantwortenden Verträge von Versailles und München als verhängnisvolle «Glieder in der Kette». Die Empörung darüber ist Verdrängung. [13]
Hier nur zwei Stimmen, nicht in Putins Diensten, dazu: Der stellvertretende Aussenminister der USA, Sumner Welles, schrieb 1944: «In diesen Vorkriegsjahren waren die Finanz- und Handelsmächte der westlichen Demokratien einschliesslich der USA absolut davon überzeugt, dass ein Krieg zwischen Hitlerdeutschland und der Sowjetunion nur ihrem eigenen Interesse dienen würde. Sie glaubten, dass Russland bestimmt besiegt und damit der Kommunismus vernichtet würde.» [14] Thomas Mann sprach in New York 1938, nach München, öffentlich aus: «Es war kein Zweifel mehr möglich. England wünschte und betrieb die Erhaltung und Stärkung der nationalsozialistischen Herrschaft; es bewilligte ihr eine Gebietserweiterung, die für jeden Sehenden der erste Schritt zu weiteren war. Genau das, der Zusammenbruch des Faschismus, war das, was die Herrschenden Englands nicht wollten. Sie hatten ihn nie gewollt.» [15]
III. Die legitimen Interessen der Imperien
Wenn Russland in die Kooperation sich gegenseitig respektierender Grossmächte zurückkehren will, stellt sich die Frage: Was dürfen Grossmächte? Was durften alle Imperien des 20. Jahrhunderts? Ihre Interessen über das Recht stellen, bzw. sie zum Recht erklären. Als Recht galt es ihnen immer, dass eine Grossmacht über die formalen Grenzen hinaus sogenannt legitime Sicherheitsinteressen hat, die paradoxerweise umso dringender sind, je besser die Grossmacht militärisch gerüstet ist, so dass sie sich ständig bedroht fühlen darf, sei es im Kaukasus, in Afghanistan oder in Vietnam, Chile, Irak. Gerade Atommächte fühlen sich erfahrungsgemäss immer bedroht.
In der Regel gehört dazu das Recht, einen Hinter- bzw. Vorhof zu haben, eine anerkannte Einflusszone, in dem das Selbstbestimmungsrecht der Völker aufgehoben oder zum Nutzen der Grossmacht umgedeutet wird, in der Karibik, im Baltikum, am Chinesischen Meer. Grossmächte dürfen auch weltweit von ihnen definierte Terroristen jagen, Desinformationskampagnen führen und Geheimdienste einsetzen, die mit Methoden, die keinem Recht unterstehen wie Mord, Folter, Destabilisierung, Terror (auch unter falscher Flagge), ihre legitimen Sicherheitsinteressen unterstützen.
Genauso eine Grossmacht zu sein wie alle andern in der jüngeren Geschichte, das gehört nach Russlands Schwächeanfall der 90er Jahre auch zum Selbstverständnis und zur Praxis von Putins Russland. Das stellt für seine kleineren, militärisch hoffnungslos unterlegenen Nachbarn eine latente Bedrohung dar, die wie jeder Grossmacht gegenüber zwei Auswege offen lässt: Man stellt sich sogenannt in den Schutz der benachbarten Grossmacht und vermeidet es, sie zu provozieren, oder man stellt sich provokativ in den Schutz einer entfernten Grossmacht (wie Kuba, Taiwan, Ukraine).
Grossmachtsrecht und Völkerrecht
Dieses äusserst problematische Verhältnis von Grossmachtsrecht und Völkerrecht hat Putin nicht erfunden. Es stellt sich die Frage, von welchem konsequenten Standpunkt aus man die Anklage gegen das erneuerte imperiale Selbstverständnis Russlands führen könnte. Vielleicht von demjenigen einer wahren Neutralität aus, von dem die Schweiz weit entfernt ist? In atlantischer Bündnistreue dürfte sie kaum glaubhaft zu begründen sein.
Dass Putin selber Russland als ein Imperium versteht, als eine Grossmacht mit weltpolitischem Ordnungsauftrag im Sinne des Imperium Romanum, bezeugt er in Wort und Tat. Die ihm wohlwollend gesinnten Stimmen im Anti-Mainstream bezeugen es ebenfalls, indem sie Russlands schwachen Nachbarn raten, das Imperium nicht zu provozieren und aus Klugheit auf ein Stück Selbstbestimmung in den Bündnisoptionen zu verzichten, und indem sie das Recht Russlands auf einen Kriegshafen am Schwarzen Meer anerkennen, ohne den es die sogenannten Rechte einer Grossmacht im Mittelmeerraum nur erschwert ausüben könnte. (Mit dem täglichen legitimen Sicherheitsbedürfnis der russländischen Bevölkerung lässt sich die Unverzichtbarkeit dieses Kriegshafens nicht begründen.)
Erstaunlich ist die Annahme in den Anti-Mainstream-Medien, Russland unter Putin sei die Ausnahme-Grossmacht, in der die Geheimdienste vom Präsidenten dazu angehalten würden, sich nur legaler Methoden zu bedienen und Morde den westlichen Geheimdiensten zu überlassen. Wird in den Leitmedien den russischen Geheimdiensten eine Untat zugeschrieben, gilt in den alternativen Medien reflexartig die Unschuldsvermutung. [16]
Aber wie und für wen stellt Putins imperial verstandenes Russland eine Bedrohung dar – ausser für die Oppositionellen im eigenen Land? Hängt über Kiew, Minsk und Riga das Damoklesschwert einer russischen Intervention? Braucht Polen US-Truppen und die Schweiz Kampfflugzeuge? Muss Europa «Sicherheitslücken» wachsam vermeiden, damit Putin nicht seine latente Aggressionsbereitschaft umsetzt?
IV. Imperiale Ideen
Für eine realistische Einschätzung von geopolitischen Gefahren ist es notwendig, neben den Gemeinsamkeiten auch die Eigenheiten der verschiedenen Imperialismen ins Auge zu fassen, wie sie sich über einen längeren Zeitraum, auch unabhängig von Putin und Trump, aus der Geschichte ablesen lassen.
Die angloamerikanischen Imperialismen verstehen sich als weitsichtige Weltpolitik auf sämtlichen Ozeanen und in sämtlichen Lufträumen. Hinter den militärischen Operationen und den unübertreffbaren weltweiten Stützpunktnetzen steht seit dem 19. Jh. bis heute eine Mission [17]: Die Menschheit soll zivilisiert werden mit bestimmten Vorstellungen von protestantischem Christentum, Recht, Individualismus, Warenkonsum, englischer Sprache, amerikanischem Way of Life, neustens auch mit einer – an US-Konzerne gebundenen, von den Geheimdiensten kontrollierbaren – digitalen Vernetzung. Gelegentlich standen die Slawen besonders im Fokus dieser Mission.
Es ist kein Vorwurf, wenn man feststellt, dass es für eine dominante Weltsicht in den führenden Kreisen der USA (bis 1945 des British Empire) ganz natürlich erscheint, über die Parteien hinweg, dass die Welt zu ihrem Heil anglisiert oder amerikanisiert werden soll (nur wenn es nicht anders geht, mit militärischer Gewalt). [18]
Das Weltbild des russischen Imperialismus
Der russische Imperialismus lebt geistig von einem anderen Weltbild, ebenfalls seit Jahrhunderten. Er soll nicht zu weit ausgreifen und missionieren, sondern eine grosse ostslawische Kultur mit ihren zukünftig die Menschheit rettenden Werten in ihrem angestammten Raum sich behaupten lassen. Schutzbedarf besteht gegen militärische Aggressoren aus Asien oder Europa, aber auch gegen ein unwahres (katholisches oder evangelikales) Christentum und dekadente gesellschaftliche Freiheitswerte.
Dem Imperium steht nicht die Kontrolle über die Welt zu, sondern über den kontinentalen Raum, der von den Ostslawen, den «Russen» im weitesten Sinn, durch ihre Sprache und ihr rechtgläubiges Christentum geschaffen und seit dem 16. Jahrhundert zu einem russisch geführten Vielvölkerstaat erweitert wurde, von Moskau als Drittem Rom [19] geleitet. Es gibt keine Symmetrie zur Vision einer Amerikanisierung der Menschheit: Weder Putin noch der Patriarch von Moskau oder nationalistische Parteien träumen von einer Russifizierung der Menschheit, von ihrer Zivilisierung durch orthodoxes Christentum, russische Sprache, russische Waren und Suchmaschinen oder durch eine russische Lebensart – aber sie träumen von der imperialen Einheit der «Russischen Erde», die im Lauf der Geschichte «gesammelt» wurde und von der abzufallen (wie 1991 die Ukraine) Verrat, ja Häresie ist.
In diesem geschützten Raum des Imperiums soll Russisches gedeihen können, bis hin zu einem russischen Internet und einer russischen Geschichtswissenschaft. Während die Amerikanisierung der Bundesrepublik – wenigstens aus Sicht der USA – eine Erfolgsgeschichte wurde (1945 mit Chewing Gum beginnend), blieb die Sowjetisierung bzw. Russifizierung Ostmitteleuropas eine zum Scheitern verurteilte Anomalie, die auch nicht zu Putins Vision gehört.
Die im Verhältnis zum Jahrtausend russischer Geschichte kurzen 70 Jahre sowjetischer Geschichte zeigen ein widersprüchliches Bild: Mit dem westeuropäischen Marxismus wurde durch Lenin die Vision einer Weltrevolution importiert, die jedoch nicht als militärisch imperiale Expansion geplant war. Aber bald drang wieder der sich abschottende Schutzcharakter des Imperiums stärker durch, paradox vermischt mit einer weltweiten Konkurrenz der Systeme, die Putins Denken ausserhalb von «Systemen» ebenfalls fremd ist.
Putins und Trumps Lieblingswort
Russland ist seinem Wesen nach gross, nicht nur in Quadratkilometern nach den vier Himmelsrichtungen, sondern auch in der Dimension von der Erde zum «Himmel». Dafür gibt es das in seiner Nuance nicht übersetzbare Wort velikij / великий, ein Lieblingswort Putins, das von Trumps Lieblingswort great deutlich zu unterscheiden ist und selbstverständlich in der Hymne nicht fehlen darf.
Zum Grossen Russland gehört seit dem Gründer des Russländischen Imperiums / Российская Империя, Peter dem Grossen, neben dem sibirischen Hinterland ein Vorland an der Ostsee und am Schwarzen Meer, welches das ostslawische Kernland strategisch absichert und eine Präsenz in der Weltpolitik ermöglicht. Dazu konnte als Ausnahme 1945 bis 1989 ein bis nach Mitteleuropa ausgedehntes Vorland gehören, eindeutig kein vorgefertigter Plan Stalins und kein weit zurückreichender Traum russischer Expansion wie etwa die Befreiung Konstantinopels von den Muslimen, sondern eine Gelegenheit, die sich überraschend durch die Aggression Deutschlands eröffnete und in Absprache mit den westlichen Siegermächten ergriffen wurde. Russland erstrebte Kontrolle des Vorlands, aber nie «Lebensraum im Westen». Das einzige Dokument, das den langfristigen Plan Russlands zur Unterwerfung Europas beweisen sollte, war das «Testament Peters des Grossen», seit langem als Fälschung entlarvt. Verfasst wurde es um 1795 von einem polnischen General, instrumentalisiert u. a. von Napoleon und Hitler, um ihre Russlandfeldzüge als Präventivkriege zu rechtfertigen. Auch als Fälschung erkannt, lebt es doch hartnäckig weiter in der erzeugten Stimmung bis ins 21. Jahrhundert
Die heutige Ostgrenze Polens entspricht ungefähr der Linie, die der englische Aussenminister Lord Curzon aufgrund seines Studiums der ethnisch-kulturellen Situation 1919 empfohlen hatte. Er widersprach damit dem nationalen Traum eines Grosspolens, das weit nach Osten über die Gebiete hinausgreifen wollte, die von polnisch sprechenden Katholiken als Mehrheit bewohnt wurden. Die tatsächliche Ostgrenze Polens bis 1939 war lediglich legitimiert durch Waffenstillstandsverträge aus den polnisch-russischen Auseinandersetzungen von 1919 bis 1921. Die ethnisch begründete Curzon-Linie wurde erst durch den Vertrag Stalins mit Hitler annähernd verwirklicht, der nach heutiger offizieller Auffassung der EU den 2. Weltkrieg auslöste. Zwar nicht der Vertrag, aber die Angemessenheit dieser Grenze wurde während des Weltkriegs von den Westmächten akzeptiert – schliesslich hatte ein prominenter Engländer sie vorgeschlagen.
Molotov-Ribbetrop-Pakt statt Stalin-Hitler-Pakt
Putin erinnert im Aufsatz daran, dass der Oberste Sowjet der UdSSR am 24.12.1989 den Vertrag verurteilt hat. Diese offizielle Stellungnahme nimmt er nicht zurück, stellt den Vertrag aber in einen Zusammenhang allgemeinen Versagens im Umgang mit Hitler, dramatischer Ungewissheit über den kommenden Krieg bei allen Akteuren und – wissenschaftlich ebenfalls nicht bestreitbar – verbreiteter antisemitisch-faschistischer Neigungen in Ostmitteleuropa.
Ein Faktum in möglichst vielschichtige Zusammenhänge zu stellen, das ist selbstverständliche Aufgabe von Geschichtswissenschaft, viel mehr als endgültige Schuldthesen zu proklamieren. Von Putin werden die Zusammenhänge nun so geordnet, dass sie Stalin entlasten sollen. Es ist nicht zufällig, dass er den Vertrag nie «Hitler-Stalin-Pakt» nennt, sondern «Molotov-Ribbentrop-Pakt», so dass die mögliche Unehre auf Molotov fällt, dem im neuen Patriotismus im Gegensatz zu Stalin kein Platz zusteht.
V. Wer ist durch Putins Imperium bedroht?
Für mich ergibt sich das Fazit: Putin hält nicht Ausschau nach Sicherheitslücken, um die längst geplante Aggression gegen Europa ins Werk zu setzen. Auch wenn alle US-Truppen und -Atomraketen aus Europa abgezogen und der Schweizer Himmel nur von Trainingsflugzeugen gesichert würde, ist eine darauffolgende russische Aggression durch absolut keinen militärischen oder ideologischen Hinweis auszumachen. Wer mit ihrer realistischen Möglichkeit heute Aufrüstung begründet, betrügt. Sie entspricht weder dem kohärenten Weltbild Putins und seiner bisherigen, immerhin seit zwei Jahrzehnten empirisch beurteilbaren Praxis noch einer traditionellen Bereitschaft in der russischen Bevölkerung. Diese würde bei solchen selbstzerstörerischen, expansiven Abenteuern in Richtung Europa dem Präsidenten nicht folgen. Schon die Interventionen in Syrien und Libyen verschaffen Putin kaum nachhaltige Popularität. [20]
Eine leichter ansprechbare Bereitschaft findet Putin bei seinen Wählern hingegen durch das der Bevölkerung vertraute Weltbild von der ewigen Bedrohung Russlands durch einen feindselig gestimmten Westen. Die NATO liefert ihm dazu auch einleuchtende Vorwände, in Symmetrie zur Bedienung antirussischer Instinkte und Ängste im Westen durch Putin. Man könnte das als Verschwörungstheoretiker für eine ost-westliche Verschwörung auf höchster Ebene halten, bei der man einander das für die innere Stabilität beider Seiten unverzichtbar scheinende Feindbild zu inszenieren verspricht.
Die «Rückführung der Krim»
Innenpolitisch absolut erfolgreich kalkuliert hat Putin im Moment drastisch schwindender Popularität 2014 die «Rückführung» der Krim zum Heiligen Russland, die seiner imperialen Idee und der russländischen Volksstimmung vollständig entsprach. [21] Nur von sehr wohlwollenden Putin-Freunden kann sie als Verwirklichung des nationalen Selbstbestimmungsrechts für die Krimbewohner, anstatt als Verwirklichung des Imperiums bei günstiger Gelegenheit – mit innenpolitischem Motiv – eingeordnet werden.
Da die TV-gläubige Bevölkerung Russlands schon lange darauf eingestimmt war, dass in Kiew Faschisten gleich die Macht ergreifen werden, erhöhte sich der Symbolwert: Das Imperium unter geschickter Führung errang sowohl 1945 wie 2014 einen Sieg über den Faschismus, was besonders 2015 geschickt vermischt wurde, als die beiden Sieges-Jubiläen (70 Jahre und 1 Jahr) zusammenfielen. [22] Die gezielte Verwirrung wird dadurch erleichtert, dass im russischen Sprachgebrauch mit «Faschismus» in der Regel der Nationalsozialismus bezeichnet wird,
Es lohnt sich, den imperial grossartig inszenierten Auftritt Putins im Zarenpalast anzuschauen, als er den Anschluss der Krim verkündete – wie nach Fanfarenstössen feierliches Schweigen eintritt, bevor zaristische Gardeoffiziere die riesigen Portale öffnen, damit die Wiederherstellung des Reichs verkündet werde. [23] Oder wenigstens einen ersten Schritt dahin. Mit historischem Kurzzeitgedächtnis konnte sich damals verankern (auch bei Putin-Freunden im Westen), dass die Krim «schon immer» zu Russland gehörte, weil man vergessen wollte, dass «immer» heisst: seit 1783. [24]
Anderseits scheint mir die Bedrohungslage für die Bewohner der einst zum Zaren- und Sowjetreich gehörenden Nachbarn nicht von der Hand zu weisen. Putin gab wiederholt zu verstehen, dass er den Abfall der «Randgebiete» vom Russländischen Imperium der Zaren bzw. von der Sowjetunion als Unglück von welthistorischem Ausmass betrachtet. Dass Lenin nachlässig darin war, das territoriale Erbe des Zarenreichs zusammenzuhalten, und mit ethnischem Föderalismus zentrifugale Bestrebungen weckte, ist einer der Gründe, warum er im Gegensatz zu Stalin für Putin nicht der Ehre wert ist. Lenin sei eben Revolutionär – Stalin Staatsmann. [25] Es gibt keinen Zweifel, unter welcher Kategorie Putin seinen Nachruhm erringen will.
Die Sicherheitsinteressen von Russlands Nachbarn
Dass Putin in seinem Geschichtsaufsatz die Expansion Stalins in die baltischen Staaten unhaltbar schönredet, kann deren heutige Bewohner nicht beruhigen, auch wenn es für entsprechende Expansionspläne Putins gegenwärtig keinen Hinweis gibt. Es gibt auch absolut keinen Hinweis auf Pläne zu einer Besetzung Kiews, und dennoch ist es für das legitime Sicherheitsinteresse der Ukrainer nicht gleichgültig, dass Putin eine unabhängige Existenzberechtigung für dieses Land und eine Legitimität seiner Grenzen nicht in seinem Geschichtsbild vom Grossen Russland unterbringen kann. Auch für die künstlichen, zu weit gezogenen Grenzen der Ukraine, die seit 2014 durch die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk ein wenig korrigiert werden konnten, macht er Lenin mitverantwortlich, der sein parteipolitisches Denken über das staatspolitische Denken stellte – «ein fundamentaler Fehler». [26]
Weniger klar ausgesprochen und doch wirksam sind Hinweise, dass er als in Moskau residierender Präsident sich nicht nur die Aufsicht über die Bewohner der Russländischen Föderation, die Russländer / Pоссияне, zuschreibt, sondern auch über die Russen / Русские insgesamt, auch die jenseits der Grenzen. Die Idee vom Imperium kann im Blick auf das Heilige Russland solche Formalitäten wie zufällig entstandene Grenzen nicht ernst nehmen. Diese Idee von der «Russischen Welt / русский мир» wird unter Putin intensiv ausgearbeitet, auch mitgetragen von der Russischen Orthodoxen Kirche. [27]
Alexander Rahr erinnert an einen Auftritt des unbekannten stellvertretenden Bürgermeisters von St. Petersburg im Jahr 1994: Putin forderte die Anerkennung der über den aktuellen Staat hinausgehenden grossen russischen Nation, z. B. durch doppelte Staatsbürgerschaften für Bewohner derjenigen Gebiete, die «schon immer» zu Russland gehörten. [28] Die Gefahren dieser grosszügigen Auffassung liegen auf der Hand und werden in Kiew begreiflicherweise als bedrohlich wahrgenommen. Europa hat nach bitteren Lernprozessen davon Abstand genommen, dass ein Staat seine «Volksgenossen» im Nachbarstaat unter Schutz stellt. Dass in Europa die Heimführung der Krim-«Russen» ins Reich die Alarmglocken läuten lässt, ist auch dann nachvollziehbar, falls es sich nicht um eine Annexion nach Völkerrecht handelte.
VI. Imperiale Innenpolitik
Imperiale Politik wird in der Regel als Aussenpolitik aufgefasst. Ganz besonders in Putins Russland ist sie mindestens so bedeutungsvoll Innenpolitik. Das Imperium soll von den Bewohnern Russlands verinnerlicht und geliebt werden, nicht in erster Linie weil es Eroberungen tätigt, sondern weil diese Idee das grosse Land hinter der starken Staatsmacht eint, die zum Sieg führt. Diese Staatsmacht [29] stellt einen Wert für sich dar, indem sie in den sakralen Bereich hineinragt und sich nicht erschöpft im Dienst an den kleinlichen Bedürfnissen der Individuen und deshalb an deren Befriedigung allein nicht gemessen werden darf – das ist das Imperium nach innen, an dem Putin mit aller Energie arbeitet.
Wo der Spass mit der Gewaltenteilung aufhört
Erst in diesem Zusammenhang wird verständlich, was die Zaren für Putin bedeuten, was ihm Stalin und was ihm der Kult des Sieges und der Waffen bedeuten, der in diesem Jahr eskaliert. Angloamerikanischer Imperialismus kann offenbar erfolgreich sein auf der Grundlage von Demokratie und Gewaltenteilung, russischer Imperialismus kaum – so wenigstens sieht es Putin und er glaubt die historische Erfahrung und die Auskunft der Kulturologie auf seiner Seite. Wenn es, umgeben von Feinden, um Grösse und Sieg geht (und darum geht es ja), hört der Spass mit der Gewaltenteilung auf. In diesem Sinn ist für ihn die Reihe Peter der Grosse–Stalin–Putin ohne Alternative. [30]
Auf eine – zwar sehr langsame – Demokratisierung Russlands unter Putin bis 2036 zu hoffen [31], scheint mir nicht Putins imperialer Idee zu entsprechen. Er muss sich selber missverstanden fühlen von seinen Verstehern, wenn sie ihm zuschreiben, dass er das russisch inspirierte Imperium dem westlich inspirierten demokratischen Rechtsstaat unterordnen und durch Teilung der geheiligten Gewalt schwächen will. Der Staatssender RT präsentiert ihn mit Stolz in einem Video als «Imperator Wladimir Putin». [32]
Wenn in 20 Jahren nie das Parlament oder das Oberste Gericht dem Präsidenten widersprochen haben, ist es sinnlos, formale Verfassungsänderungen zugunsten der Gewaltenteilung als beginnende Weichenstellung zur Demokratie zu lesen. [33]
Millionen von Opfern, die nicht als Helden umgekommen sind
Gewiss gedenkt Putin am Beginn seines historischen Aufsatzes zum richtigen Erinnern und zum richtigen Lernen der Lektionen nicht nur des Sieges, sondern auch der Opfer, und er fordert die Jugend auf, sich in die Opferbereitschaft zu vertiefen, welche die ältere Generation im Existenzkampf gegen das Böse erbringen musste, und den Krieg zu erinnern, der «eine tiefe Spur in der Geschichte jeder Familie hinterlassen hat», damit wir «alles tun, um eine Wiederholung der schrecklichen Tragödien zu verhindern».
Aber Millionen von Opfern des Bösen werden vom Gedenken ausgeschlossen – alle diejenigen, die nicht heldenhaft unter Leitung der Staatsmacht im Kampf gegen die bösen Deutschen umgekommen sind, sondern die ohne Heldentum umgekommen sind durch die eigene böse Staatsmacht. Sie haben nichts zum Sieg beigetragen, haben nur gelitten. Der Krieg Stalins gegen die eigene Bevölkerung hat ebenfalls «Spuren in jeder Familie hinterlassen». Warum sollen wir nicht «alles tun, um eine Wiederholung der schrecklichen Tragödien zu verhindern», gerade indem wir auch diesen Krieg weiterhin erinnern? Darauf bleibt Putin die Antwort schuldig.
Das Gedenken an die Opfer von Stalins Terror wird nicht nur mit Stillschweigen übergangen, sondern seit einigen Jahren von Putins Regierung zunehmend aktiv behindert. Die einzige Straflager-Gedenkstätte Perm-36 wurde 2016 geschlossen, unter anderem mit dem Argument, dass dort auch ukrainische Faschisten zurecht gelitten hätten, und dass die letzten noch lebenden Lagerwärter sich ungerecht an den Pranger gestellt fühlten. [34] Die Archive werden feierlich für die Forschung zum Grossen Sieg im Vaterländischen Krieg geöffnet, aber für die Forschung zu Opfern Stalins oder gar zur Täterbefehlskette, die noch nie dokumentiert wurde, wieder geschlossen.
Die «fünfte Kolonne»
Wer die Erinnerung weiterhin voranbringen will, und sei es nur durch die öffentliche Nennung der Namen von Erschossenen, kann strafrechtlich unter offensichtlich konstruierten Anklagen verfolgt werden. [35] Kein einziger Strafprozess wurde hingegen geführt gegen Organisatoren oder Ausführende der Repressionen (auch die milderen, pharmakologischen Gewalttaten gegen Oppositionelle unter Breshnev wurden nie rechtlich aufgeklärt). Die Organisation Memorial, die sich seit Gorbatschov der Erinnerung an die Opfer Stalins widmet und würdige, in versöhnlichem Geist gehaltene Gedenkstätten an den Orten der Hinrichtungen eingerichtet hat, wurde immer wieder Hausdurchsuchungen unterzogen und wurde nach einem neuen Gesetz als «Agent des Auslands» deklariert.
An die Verbrechen Stalins nicht nur vorbildlich abstrakt und nebenbei wie Putin, sondern anstössig konkret zu erinnern, wird zu einem Kennzeichen der «5. Kolonne», die im Dienst des Westens das Ansehen Russlands herabsetzt. Pjataja Kolonna / Пятая Колонна – so heisst die Reportage, die manipulativ zur Schliessung des Lagermuseums Perm-36 im Fernsehen aufrief.[36] Auch diese zur Stalinzeit bedeutungsvolle, über Leben und Tod entscheidende Kennzeichnung von Staatsfeinden ist mit Billigung durch die Regierung wieder im Gebrauch.
Das tatsächlich ungeheure Leid der Bevölkerung in der Sowjetunion zwischen 1917 und 1953 erhält in Putins Erinnerung nur seinen Wert durch Anteil am Sieg. Deshalb gehört auch das Leid der sowjetischen Kriegsgefangenen nicht zum richtigen Erinnern, die nach ihrer Rückkehr ins Vaterland als Strafe dafür, dass sie nicht heldenhaft kämpfend in den Tod gegangen sind, sondern in Gefangenschaft für den Feind gearbeitet haben, für Jahre in eigene Straflager geschickt wurden.
Umgekehrt erhält der Sieg seinen Wert gerade durch das Leiden unter der deutschen Aggression. Er wurde nicht etwa durch Überlegenheit der Waffentechnik, der Ressourcen und Finanzmittel errungen, sondern durch den Opfermut und das Heldentum des Volkes, das sich der straffen, unvermeidlich grausamen, aber letztlich weisen Leitung des Führers unterordnete [37], die durch den Sieg endgültig legitimiert ist. Die verheerenden Fehler Stalins in der Kriegsführung, die in den 90er Jahren auch in der russischen Forschung thematisiert wurden, sind wieder tabu, und die wissenschaftlich zu rechtfertigende Möglichkeit, den Sieg dem Sowjetvolk zuzuschreiben, trotz der Unfähigkeit Stalins und der enormen Schwächung der Widerstandskraft durch dessen Terror, wird von Putin gemieden. [38] Für das richtige Erinnern ist es wesentlich, dass das heldenhafte Volk nur unter starker Führung durch die Staatsmacht siegen kann.
Siegesparade und die Heiligkeit des Imperiums
Die Heiligkeit des Imperiums tritt immer mächtiger in Erscheinung, und das Moskauer Patriarchat der Russischen Orthodoxen Kirche nimmt willig teil an den kultischen Inszenierungen. Da ist die Siegesparade auf dem Roten Platz, für Putin der zentrale Festakt im Jahreslauf. [39] Sie beginnt damit, dass sich der Verteidigungsminister, wenn er die Parade eröffnet, bekreuzigt – vielleicht zurecht, wenn gleich die Hölle los ist?
Dann kann man sich nicht satt sehen – falls man sich der Intention Putins ergibt – an den Tausenden von jungen Menschen (auch Frauen sind dabei), deren individueller Wille in der Hand eines Kommandanten vollkommen ausgelöscht wird. Man kann sich das gespenstische Hurra aus Tausenden Kehlen, wie wenn es eine wäre, anhören und den Mechanismus des tausendfachen Lächelns vor dem Oberkommandierenden ansehen, oder den von Putin immer noch geliebten preussischen Stechschritt in seiner vollkommenen Ausführung bewundern (das Ideal der Besiegten lebt in der Parade der Sieger weiter!).
Wer nicht russisches Staatsfernsehen schaut, kann sich kaum eine Vorstellung machen, mit welcher Inbrunst und wie oft konventionelle und atomare Waffensysteme vor den einfachen Bürgern in den bescheidenen Wohnstuben zelebriert werden – Waffen, die natürlich einzigartig in der Welt sind – und wie kleine Kinder zur Begeisterung für Panzer hingeleitet werden und sie vor dem Mikrofon bekennen dürfen. Als Schüler dürfen sie dann auch, manchmal mit einem Sturmgewehr bewaffnet, zum Gedenken an die Helden im Stechschritt bei der Ewigen Flamme aufmarschieren, die in jeder Stadt brennt.
Der Konstrukteur der allerneusten interkontinentalen Atomwaffe, der gegenüber es Gott sei Dank keine Gegenwehr gibt, erhielt soeben den Orden des heiligen Apostels Andreas, des Erstberufenen, von Putin persönlich mit überschwänglicher Dankbarkeit gewürdigt vor den Kameras des Ersten TV-Kanals. [40] Atomwaffen hat man in anderen Grossmächten, aber in Putins Russland feiert und ehrt man sie selbst und ihre Erfinder.
Zusammenwirken von Staatsmacht und Kirche
Den Höhepunkt erreicht der antichristliche Kult im hastig zum Siegesjubiläum erstellten «Tempel der Streitkräfte Russlands/храм ВСР», der drittgrössten, mit reichster Pracht ausgestalteten Kathedrale der Russischen Orthodoxen Kirche, eine Meisterleistung im Zusammenwirken von Staatsmacht und Kirche zum Missbrauch Christi. Patriarch Kyrill selber ist ihr Vorsteher. Das byzantinische Mosaik, auf dem auch Stalin und Putin erscheinen, war schon fertiggestellt, wurde aber im letzten Moment doch nicht in der Kathedrale montiert. Putin kommentierte, es sei vielleicht noch zu früh für solche Würdigung vor der Ewigkeit. [41]
Zugleich mit diesem durch und durch sowjetischen Duktus der Inszenierungen wird auch das Zarentum neu zelebriert, was erstaunen mag bei einem ehemaligen KGB-Agenten. Putin ordnete die Neugestaltung der Rubelmünzen an: Der republikanisch armselige Doppeladler erhielt wieder Krönchen und drohendes Schwert als Insignien des Zaren, auch wenn sie, vorläufig noch, nur in einer Republik zirkulieren dürfen. Hauptsache Imperium.
Durch neue Schulbücher [42], Schülerwettbewerbe wie «Mein Land. Meine Geschichte. Mein Sieg» und durch eine landesweite «Geschichtsstunde: Erinnern heisst Wissen» online mit dem Präsidenten persönlich zum ersten Schultag, dem 01. 09. 2020 [43], wird die kommende Generation eingeschworen. Den geschichtlichen Teil des Einheitlichen Schulabschlussexamens ЕГЭ, das über den Hochschulbesuch entscheidet, besteht man, ohne Genaueres über die Repressionen der Stalinzeit zu wissen. Wichtiger ist es, den Namen des Frontabschnitts und des Kommandanten bei einer grossen Schlacht von 1944 zu wissen, die zum Sieg beitrug.
Gewiss ist Putin ein kühl planender Stratege, der – im Gegensatz zu seinem amerikanischen Kollegen – sehr genau weiss, wann er die Wahrheit sagen und wann er lügen will. [44] Aber auch in ihm lebt unbewusst-instinktiv ein ganzes Erbe des sowjetischen Lebensstils, des sowjetischen Geschmacks, der sowjetisch uniformierten Seelenregungen fernab von aller lehrbaren Ideologie. Auch damit ist zu rechnen, das heisst, man muss sich als echter «Putin-Versteher» auch mit dem sowjetischen Leben, mit seinen Normen und Emotionen vertraut machen, in denen Putin aufgewachsen ist und seine KGB-Ausbildung erhalten hat, nicht nur, wie hier üblich, mit der sowjetischen Weltpolitik und Parteidiktatur.
VII. Fazit – Ja und Nein
Ich sehe in dieser wachsenden kultischen Militarisierung des Erinnerns als wichtigem Element der imperialen Innenpolitik keine Ankündigung einer aggressiven Aussenpolitik gegen Europa. Der Kult bildet sich (laut SIPRI) seit 2016 nicht mehr in einem wachsenden Militärbudget ab; dieses bleibt etwa im Rahmen von Saudi-Arabien, das heisst unter einem Zehntel des Militärbudgets der USA. Auch diese Tatsache erweist die Forderung, die NATO-Staaten müssten wegen Putin ihre Militärbudgets endlich anheben auf 2% des BIP, als reine Propaganda.
Ebenso wenig sehe ich in der Rehabilitierung Stalins die Vorboten neuer stalinistischer Repressionen. Putins Sicht und Strategie scheinen mir eindeutig: Nie äussert er Sympathien für die Repressionen, aber sie sollen aus dem Stalingesamtbild wie herausseziert und dem Vergessen übergeben werden, damit der grosse erfolgreiche Staatsmann und Führer übrigbleibe. Dass die Popularität Stalins in der Bevölkerung laut Levada-Umfragen [45] und vielen Augenzeugen zugenommen hat während Putins Regierungszeit, besonders seit 2015, dürfte wesentlich, wenn auch nicht ausschliesslich auf die staatliche Propaganda zurückzuführen sein. Sie lässt auf jeden Fall den europäischen Betrachter mit einer tiefen Ratlosigkeit zurück.
Der Preis des imperialen Patriotismus
Keinen Zweifel habe ich an der tiefen Tragik für die moralisch-geistige Entwicklung und damit für die gesamte Zukunft einer Gesellschaft, wenn mit allen Mitteln versucht wird, einen der grössten Verbrecher der Menschheit als doch auch und vor allem effizienten Manager und vorbildlichen Sieger, als fähigen Sachwalter der russischen Grossmacht zu erinnern; wenn unermessliche Verbrechen und Leiden möglichst für immer dem Vergessen zugesteuert werden; wenn das Mitleid als tragende soziale Fähigkeit zum selektiven Instrument des Imperiums umgeformt und militärisches Heldentum samt den Waffen im Verein mit der Kirche heiliggesprochen wird. Besonders dann, wenn der Staat die Macht, die er über die Kinder zu haben glaubt, ohne Hemmung für richtiges Erinnern, Vergessen und Verehren einsetzt.
Es verstärkt auch die sich abschliessende seelische Gebärde Russlands, weil ein solches Erinnern nicht dialogfähig mit dem Erinnern in Europa bleiben kann und kulturelle Verarmung durch Isolation begünstigt. Die besondere Tragik, die darin besteht, dass gleichzeitig in der Ukraine eine patriotische Erinnerungspolitik durchgesetzt wird, die in die entgegengesetzte, aber ebenfalls zukunftsfeindliche Richtung führt, wäre auch einer näheren Darstellung wert.
Es ist ausserdem nicht ungefährlich, Militarismus als Qualität des inneren Zusammenhalts und der staatlichen Daseinsberechtigung so intensiv zu pflegen, wie das derzeit durch Putin geschieht, weil ein gewisser Druck entstehen kann, diese eingeübte Qualität bei inneren Krisen doch noch nach aussen sich entladen zu lassen. Der Anschluss der Krim als integrierter Teil des Siegeskults liess etwas davon erahnen. Imperialer Patriotismus im Gegensatz zu kleinstaatlichem Patriotismus muss leider vielleicht ab und zu durch Siege, nicht nur durch Rituale von Siegen, genährt werden. [46] Aber eine zweite Krim steht dafür nicht zur Verfügung. Welches Territorium aus dem ehemaligen Bestand des Reichs dann?
Es ist kaum möglich, dabei nicht Belarus ins Auge zu fassen, die einzige Region im benachbarten Ausland, deren Bevölkerungsmehrheit keine tieferen Antipathien gegen Russland hegt und unter gewissen Umständen zu einem Anschluss in Form einer Union hingelenkt werden könnte. Ein weissrussischer Nationalismus steht dem nicht im Weg. Putins erste 20 Jahre legen nahe, ihn für einen zuverlässigen Realisten zu halten, der seine Vision nie aus den Augen verliert, aber sich von ihr auch nicht zu illusionären Abenteuern hinreissen lässt. Das Abenteuer einer Militärintervention zugunsten eines Diktators, die zu einem Besatzungsregime gegen eine aufständische Bevölkerung führen müsste, wird Putin nicht leichtsinnig eingehen, um einen weiteren Anschluss als Sieg zu verkünden.
Dass Patriotismus kategorisch nicht vereinbar sei mit Frieden – davor warnt einer der bedeutendsten Russen, Lev Tolstoj, schon 1895 in einem zur Veröffentlichung bestimmten Brief unter dem Titel «Patriotismus oder Frieden?». [47] «Man muss begreifen, dass, solange wir den Patriotismus verherrlichen und in den jungen Generationen aufziehen, bei uns die Kriegsbereitschaft herrschen wird.» Die Entscheidung, vor die man gestellt wird, ist für Tolstoj nichts anderes als die Entscheidung für «Patriotismus oder Christus». «Wenn der Patriotismus gut ist, so ist das Christentum, das den Frieden bringt, eine leere Phantasie.»
Putin und Russland ist nicht das Gleiche
Ich habe die Hoffnung, dass die verzweifelten Bemühungen Putins, den imperialen Gedanken neu in den Herzen und Köpfen zu verankern, doch in einem nicht kleinen Teil der Bevölkerung auf Widerstand treffe. Erstens gibt es da ganz andere, realere Sorgen, zum Beispiel um den Arbeitsplatz, um den Zustand des Gesundheitswesens und um regionale Selbstbestimmung. Die Bewohner von Chabarovsk lassen sich nicht vom Demonstrieren abhalten, weil Putin auf Video-Animationen phantastische Atomwaffen vorzeigen kann oder weil im Tempel der Streitkräfte Russlands hinter der traditionsgerecht gemalten Auferstehungsikone kunstvoll ein erbeutetes Nazi-Gewehr verborgen ist.
Zweitens gibt es auch ein kulturelles Niveau und spirituelles Wahrheitsempfinden, an dem Putins Propagandaspiritualität, verwesender Sowjetkitsch und patriotische Ersatzreligion abtropfen wird.
Immer wieder war ich erstaunt, wenn ich so viele Menschen kennen lernte, die ihre ganze Kindheit und Jugend unter dem Einfluss der Sowjetideologie verbracht hatten, das heisst vom Kindergarten an in Atheismus geschult und auf ihrem Bildungsweg an jeder Ecke in Marxismus-Leninismus geprüft wurden: In den 90er Jahren erwiesen sie sich als tief religiöse Menschen, die vom Marxismus-Leninismus kaum eine Ahnung hatten. Auch das Staatsmonopol kommt an seine Grenzen, wenn Kinder und Jugendliche die Ohren auf Durchzug stellen! Nicht nur die sprichwörtlichen frommen Babuschki, selbstverständlich glaubten auch die Parteikader nicht an den Unsinn, den sie immer wieder einander bezeugten: dass es keine geistige Welt gebe.
70 Jahre lang biss sich die Sowjetideologie am heimlichen seelischen Widerstand die Zähne aus. Das könnte möglicherweise auch das Schicksal von Putins Patriotismus-Offensive werden, sogar wenn er es auf 36 Jahre Präsidentschaft bringt. Vielleicht nimmt man Putin zu ernst, wenn man sich zu Russland in ein wahres Verhältnis setzen will? Auf jeden Fall muss einer seriösen, nüchternen, differenzierten Beschäftigung mit Putin parallel gehend eine lebendige, farbige, menschlich konkrete Beziehung zu Russland gepflegt werden. Von Politikern und Journalisten zu erwarten, dass sie nicht gewohnheitsmässig Russland sagen, wenn sie Putin meinen – es wäre ein kleiner Schritt mit hohem Anspruch.
*Peter Lüthi ist 1949 bei Glarus geboren und dort aufgewachsen. Geschichtsstudium an der Universität Basel mit Schwerpunkt Osteuropa und Russistik. Mittelschullehrer in Deutsch und Geschichte bis 2015. Seit der Auflösung der Sowjetunion regelmässige Tätigkeit als Lehrer und Berater freier Waldorfschulen in Russland und der Ukraine mit den Schwerpunkten Pädagogik, Zeitgeschichte und Geschichtsunterricht.
Anmerkungen:
[1] Auch der Schweizer Schriftsteller Gerhard Meier konnte das Bild nicht vergessen. Borodino, 1982 (S. 76ff)
[2] In der Schweiz und in Ostdeutschland gab 2019 knapp ein Viertel der Befragten ein positives Verhältnis zu Putin an.
[3] so durch die Botschaft in Bern in klassischem Sowjetstil z. B. gegen Ulrich Schmids Verriss in der NZZ
[4] Z. B. https://youtu.be/S-yVkTwfMMU
[5] In seiner Ansprache vor der UNO am 22.9.2020 wiederholt Putin diese Anklage.
[6] https://youtu.be/38NdPCmONOo
[7] Er zitiert die Memoiren von Colin Powell, dem ersten schwarzen Generalstabchef
[8] https://youtu.be/S-yVkTwfMMU
[9] Im Abschnitt K des Beschlusses wird fälschlicherweise behauptet, Putin vertrete eine Alleinschuldthese des Westens und Polens. Seine Aufzählung von unbestreitbar den Aufstieg des Faschismus fördernden Aktionen der westlichen Staaten ist immer defensiv auf eine Mitschuld des Westens gerichtet, auf eine Abwehr des Etiketts vom Schurkenstaat Sowjetunion, das letztlich Russland meint.
[10] Der Holocaust kann juristisch als Tatsache festgeschrieben werden. Würde man auch seine Ursache und das Ereignis, mit welchem «die Weichen dazu gestellt wurden», durch Parlamentsbeschluss festlegen, würde man sich weder im Rahmen des Rechtsstaats noch auf dem Boden der Wissenschaft bewegen.
[11] Diese Aufgabe übernimmt z. B. in sehr differenzierter wissenschaftlicher Erörterung zwischen polnischen und deutschen Historikern der von Christoph Koch herausgegebene Band «Gab es einen Stalin-Hitler-Pakt?», erschienen im angesehenen Wissenschaftsverlag Peter Lang, Frankfurt 2015.
[12] Zum Beispiel bei Markus Osterrieder: Welt im Umbruch, Stuttgart 2014
[13] Auch Ulrich Schmid vermittelt dem Leser – wenigstens durch die Verwendung des Konjunktivs – dass Putins negative Beurteilung von Versailles und München bloss mit zu seiner Geschichtsklitterung gehöre und abseits von Wissenschaft stehe.
[14] Sumner Welles: Jetzt oder nie! Stockholm 1944 (S. 294)
[15] Zitiert nach Markus Osterrieder, a. a. O. (S. 1623)
[16] Ist sie für Geheimdienste in aller Welt nicht fast eine Beleidigung? Ein Zweifel an ihrer Existenzberechtigung?
[17] Zur Geschichte dieser missionarischen Auffassung siehe z. B. auch M. Osterrieder a.a.O., II, 1
[18] G. Friedman, C. Rice 2015 auf https://youtu.be/_6tgHFtWTK8 (von der staatsnahen «Russischen Welt» für deutschsprachige Hörer ins Netz gestellt)
[19] Nachdem Konstantinopel, das Zweite Rom, unter anderem verraten vom katholischen Westen, 1453 an die Muslime gefallen war, erklärte der Einsiedler Filofej Moskau zum letzten Hort des wahren Christentums.
[20] Umfrage des «Levada Zentrs», publiziert 06.05.2019: 55% für eine Beendigung der Syrienoperation.
[21] Umfrage des «Levada Zentrs», publiziert am 07.05.2020 von Radio Svoboda: Tiefpunkte von Putins Popularität 2013 (vor Krim-Anschluss) und 2020, Höhepunkte 2008 (Georgienkrieg) und 2014 (nach Krim-Anschluss)
[22] Christian Müller im Infosperber verbreitet diese Sicht für Schweizer Publikum.
[23] http://static.kremlin.ru/media/events/video/low/41d4ca1f3b6e62a2bd17.mp4
[24] Putin zitiert bei lenta.ru am 21.06.2020
[25] Pressekonferenz Moskau 19.12.2019. Der proletarische Osten sollte dem bäuerlichen antikommunistischen Westen ein Gegengewicht geben.
[26] A. a. O.
[27] Zeitschrift «Osteuropa» 3/2016 Thomas Bremer
[28] Alexander Rahr: Wladimir Putin, München 2000 (S. 11f)
[29] Auch das Wort vlast’ / власть hat eine kaum übersetzbare Note der Erhabenheit
[30] Oder kann man sich Medvedev und Navalny in dieser Reihe vorstellen?
[31] wie etwa der in Antimainstream-Kreisen anerkannte Russlandkenner Kai Ehlers
[32] https://youtu.be/-1thqDvdPSo
[33] Kai Ehlers auf seiner Homepage am 17.7.2020 «Putin bildet Vertrauen»
[34] Википедиа (russisches Wikipedia): Пермь-36. Man stelle sich diese Argumentation in Deutschland vor!
[35] Jurij Dmitrjev / Юрий Дмитрев wurde am 29.9.2020 zu 13 Jahren Straflager verurteilt.
[36] https://youtu.be/W99Y9aZ6C_o Man stelle sich diese Begründungen für Deutschland vor!
[37] das russische Wort für Führer вожд war eine offizielle Bezeichnung Stalins
[38] Andrej Kolesnikov in Zeitschrift «Osteuropa» 6/2020
[39] https://youtu.be/t54cfPg4ao4
[40] https://youtu.be/YjdnfBUNMAk (auch über die Website der Russischen Botschaft in Bern, 19. 9. 2020)
[41] https://youtu.be/-zPBfB-Tneg (kritisch vom Sender дождь) / https://youtu.be/x_lDNvwTx6Q (offiziell)
Bei der offiziellen TV-Übertragung von Putins Besuch der Messe entsteht eine Sekunde lang eine tief aussagekräftige stumme Situation zwischen Putin und Schojgu!
[42] Anna Becker: Mythos Stalin. Berlin 2016
[43] http://static.kremlin.ru/media/events/video/ru/video_low/sHuYd4dOoKsRsln8EKn3DWAAA2eSAdFV.mp4
[44] Lügen wollte er zum Beispiel, als 2014 Soldaten ohne Kennzeichen («grüne Männchen») auf der Krim auftauchten; beim Jahresjubiläum 2015 gestand er lächelnd, mit dem Stolz des siegreichen Strategen, die Unvermeidlichkeit dieser Kriegslist.
[45] Veröffentlichung vom 16. April 2019: 70% der Befragten beurteilten die Rolle Stalins für das Land positiv, 46% hielten sogar seine Verbrechen für begründbar durch seine grossen (velikije!) Ziele und Resultate.
[46] Man kann sich auch an die sprunghaft steigende Popularität der unbeliebt gewordenen Margaret Thatcher erinnern, als sie das in der Phantasie noch existierende British Empire zum Sieg auf den Falkland-Inseln führte.
[47] Zitiert nach der Textausgabe bei Projekt Gutenberg