In der Moskauer Metro, Ende Juni 2021. Vor wenigen Tagen hatte die Stadtverwaltung Alarm geschlagen wegen rasant zunehmender Corona-Infektionen. Eine optimistische Lockerheit – Russland war ja bei den ersten Staaten, die einen Impfstoff freigaben – verwandelte sich in strikte Vorgaben. Alle fünf Minuten hörte man die Durchsage, dass die Passagiere verpflichtet sind, Maske und Handschuhe zu tragen. Ich stellte im gut besetzten Wagen fest, dass niemand Handschuhe trug und geschätzt ein Drittel die Maske korrekt anwendete, etwa ein Drittel sie unter der Nase trug und ein Drittel ganz ohne Maske mitfuhr.
Strenge Corona-Befehle, lockerer Gehorsam
Der Befehl der Staatsmacht schien niemanden zu beeindrucken. Ein ähnliches Bild später unterwegs von Moskau nach Irkutsk im voll besetzten Flugzeug, dann im ÖV in und um Irkutsk. Hier klebt an den Bustüren eine Mitteilung: «Die Benutzung des Transportmittels ohne Schutz der Atemorgane ist streng verboten. Weigert sich ein Passagier, seine Atemorgane zu schützen, setzt der Bus die Fahrt nicht fort.» Der Bus fährt, auch wenn kaum die Hälfte der Nutzer die Maske korrekt trägt. Es steigen zwei Polizistinnen ein und fordern die Passagiere auf, eine Maske aufzusetzen. Sie steigen wieder aus, ohne ihre Autorität durchzusetzen. Nie hörte ich einen Passagier mit Maske einen Nachbarn ohne Maske zurechtweisen – eine Szene, die mir aus der Schweiz gut vertraut war.
In einem Land, bei dem Denunziation 70 Jahre zum politischen System gehört hatte, hörte ich nie davon, dass jemand von Nachbarn, die eine nicht zulässige Anzahl von Menschen entdeckt hatten, bei der Polizei verzeigt worden wäre – im Gegensatz zur Schweiz. Es gab nicht einmal Vorschriften über das Verhalten im privaten Raum – im Gegensatz zur Schweiz mit ihrer Wertschätzung des Privatraums. Das schien mir paradox: Die Befehle und Drohungen einer Regierung, die für ihre rücksichtslose Herrschaftspraxis bekannt ist, werden locker missachtet. Die Anordnungen einer wenig durchsetzungsfähigen Regierung, des Schweizer Bundesrats, werden fast hundertprozentig befolgt, sogar da, wo es offensichtlich keinen Sinn macht. Angeordnet ist angeordnet – in der Schweiz!
Dieses Paradox gab mir zu denken. Es sind einzelne persönliche, zufällige Beobachtungen von einem Monat Aufenthalt in Russland im Sommer 2021, das heisst sie haben keinen statistischen Aussagewert und beweisen nichts. Aber sie wurden mir zur Anregung, über das Verhältnis des einzelnen Menschen zur Staatsmacht in Russland nachzudenken.
Die Macht …
Die Staatsmacht oder ganz einfach «die Macht» – man weiss sofort, wovon die Rede ist – trägt den bedeutungsvollen Namen Vlast’ (власть). Schon das Wort legt nicht die Vermutung nahe, dass sie begrenzt sein könnte durch kleinliche Behinderungen, genannt Justiz, Menschenrechte, Parlament, Gemeindeautonomie usw. Ihre Würde liegt eben darin, dass sie unterwirft, aber selber nichts unterworfen ist, ausser vielleicht «Gott». Ihr angemessen ist der Kreml zu Moskau, am nicht nach menschlichem Mass entworfenen Roten Platz, über den, im Gegensatz zum Berner Bundesplatz, auch die grössten Atomraketen in Formation paradieren können.
Diese erhabene Grösse (velitschje/величие) der Macht überdauerte alle Wechsel: sie war der Macht des Zaren eigen, der Macht des Führers bzw. Generalsekretärs der KPdSU, sie steht auch der Macht des Präsidenten Putin zu und gibt sich gerne kund im regierungseigenen Fernsehen. Es gibt in der Geschichte Russlands kein Beispiel, wie man sie auch nur für kurze Zeit zur gemeinen Verwaltung im Dienste des Volkes erniedrigen könnte.
… und ihre Heiligkeit
Eigentlich ist es nur natürlich, dass ihre Erhabenheit vom höchsten Geistlichen, vom Patriarchen «von Moskau und der ganzen Rus», geweiht wird. Die «Russische Welt» ist in Ordnung, wenn Macht und Wahres Christentum (Pravoslavje) einen harmonischen Zusammenklang, eine Symphonia bilden, um «russische Werte» zu wahren. Zur geheiligten Macht gehören auch die Streitkräfte, die jetzt ihren eigenen, vom Patriarchen im Beisein Putins eingeweihten Tempel (Храм Вооруженных Сил) in Tarnfarbe bekommen haben. Jede Teilstreitkraft hat dort ihren eigenen Heiligen und über all der Streitbarkeit in der zentralen Ikone aufersteht Christus.
Unmittelbar am Zentrum der Macht steht aber immer noch das babylonische Mausoleum mit der Mumie, die nach der Parteilosung «lebendiger als alle Lebenden» sein sollte, ganz besonders lebendiger als Christus. Putin mag zwar diesen atheistischen, unpatriotischen Untoten nicht, wie er auch in seinem neusten historischen Aufsatz deutlich macht, aber er will ihn auch nicht entfernen, solange russische Bürger Verehrung zu ihm bewahren. Nostalgie ist ja der ganze geistige Unterbau der heutigen Macht.
Der väterliche Sozialstaat und der Herr
Auch der «Staat» ist im Russischen nicht ein nüchterner Zustand wie der stato, sondern ist als Gosudarstvo/государство bis heute untrennbar mit dem Herrn, dem Herrscher, dem Gosudar verknüpft. Auf Russisch kann eine Eidgenossenschaft mit einer kollegialen Exekutive kein Staat sein, denn wo ist da der Herr?
Entsprechend wird auch der Sozialstaat, der den Pensionierten und Invaliden ein kümmerliches Überleben erlaubt, verbreitet nicht als Leistung der Steuerzahler auf der Grundlage der vom Parlament beschlossenen Gesetze aufgefasst. Der Herr, der Gosudar, erhöht immer wieder die Pensionen, die Nothilfe für alleingelassene Mütter, die Löhne der Lehrer usw. Regelmässig zeigt das Fernsehen, wie Putin die zuständigen Minister zur Umsetzung ermahnt.
«Putin hat die Sozialleistungen erhöht» ist eine selbstverständliche Ausdrucksweise. Die Indexierung der Pension hat angesichts der aktuell bedrohlichen Inflationserfahrung eine lebenswichtige Bedeutung. Die Wähler konnten sie vor einem Jahr in der Verfassung festschreiben lassen unter der Bedingung, dass sie auch zwei weitere Amtszeiten Putins und seine anschliessende Immunität gegen Strafverfolgung durch eine Verfassungsänderung guthiessen: Es gab nur 1 Kreuz zu setzen für das Gesamtpaket.
Was sagt mir dieser Exkurs über den Umgang mit Corona in Russland?
Stiller Widerstand «mit den Füssen»
Diese seltsam fremd in der modernen Zeit stehende theokratisch-patriarchale Atmosphäre kann unmöglich dem wirklichen Leben der Menschen in Russland entsprechen, deren Lebensstil in den Städten völlig dem westlichen bzw. globalen Standard digitalisierter Zivilisation entspricht. Mit Repression oder Bürokratie versucht die MACHT seit je, dieses konkrete Leben in den Griff zu bekommen – oft vergeblich. Zum Beispiel gegenwärtig, indem jeder Lehrer täglich in ein von der Behörde einsehbares Programm eingeben soll, was er mit den Schülern gearbeitet hat.
Ebenso charakteristisch wie die MACHT gehört zu Russland in historischer Kontinuität auch ein anarchistischer Zug, die Erfahrung, dass sich das Leben individuell und gemeinschaftlich am Staat vorbei organisieren lässt bzw. dass es gar nicht anders geht. Ganz besonders lud dazu seit Ivan Grosny im 17. Jh. der fast grenzenlose Raum ein: die Binnenwanderung als Flucht vor der Knechtung durch die Zentrale in die südlichen Steppen, die nördlichen Wälder, das östliche Sibirien, vom 19. Jh. bis heute auch die Emigration – traditionelle russische Formen der «Abstimmung mit den Füssen».
Ungeliebte Bürokratie und väterlicher Präsident
Das führt dem Paradox näher: Auch wenn die MACHT unangefochten zu sein scheint, ist doch das Misstrauen und der instinktive Drang, sich ihrem Anspruch zu entziehen, viel weiter verbreitet, als die prozentuale Zustimmung in Wahlen und Umfragen vermuten lässt. So scheint es instinktiv einer Mehrheit klar, dass die staatlichen Statistiken über Corona und über die Impfung nicht glaubwürdig sein können. Die Bürokratie als konkrete Repräsentanz der MACHT im Alltag findet keine Verteidiger. Sie produziert nach vielfältigster Erfahrung so viel Unsinn mit dem einzig ersichtlichen Zweck, Gebühren einzuziehen und allen Beteiligten ein Stück davon «abzusägen» (so heisst der Fachausdruck), dass von einer Zustimmung der Mehrheit zum Staat unter welchem Präsidenten auch immer nicht die Rede sein kann.
Ein seit vielen Jahren in Irkutsk geschäftlich tätiger Schweizer erzählte mir von der Prozedur der staatsbürgerlichen und sprachlichen Prüfung zur Erteilung der Niederlassung: Die richtigen Antworten wurden ihm diktiert oder schon fertig angekreuzt nur noch zur Unterschrift vorgelegt. Ein so zügiges Verfahren bringt den Beamten auch beschleunigt Gebühren.
Paradoxerweise mindert diese ungeliebte, entwürdigende Allgegenwart der Staatsmacht seit je nicht unbedingt das Ansehen dessen, der an der Spitze der «Vertikale der Macht» steht. Wenn der Zar, wenn Stalin, wenn Putin wüsste, wie die Beamten uns plagen … Manchmal greift Putin medienwirksam inszeniert durch: vor laufender Kamera gibt er auf Klagen einfacher Bürger hin Anweisungen, die einem säumigen Beamten Beine machen. Wenn ein Schüler sich in der Sendung über die Aufgabenlast beklagt, sorgt ein Anruf beim Schuldirektor für sofortige Abhilfe. Auch hohe Beamte müssen mit einem Gerichtsverfahren rechnen – sobald sie im Kreml aus irgendwelchen Gründen in Ungnade gefallen sind.
Warum werden die Anordnungen zur Pandemie so wenig befolgt?
Die gegenüber Europa auffallend hohe Impf- und Massnahmenskepsis – erst knapp ein Viertel der Bevölkerung sind Ende Juli vollständig geimpft – kann mit den zunächst naheliegenden Gründen nicht erklärt werden:
1. Es fehlt nicht an einer das Leben durchdringenden Bürokratie, die den staatlichen Willen durchsetzen könnte.
2. Die staatlichen Medien mit ihrem Monopol im Fernsehen (aber nicht im Internet!) haben ihren Einfluss konsequent im Sinne der Regierungsmassnahmen ausgeübt. Es werden hier keine kritischen Recherchen oder kontradiktorischen Diskussionen gesendet, welche die Zuschauer «verunsichern könnten» (wie das bei uns erstaunlicherweise heisst). In diesem vielleicht einzigen Fall tragen sogar die kriminalisierten Oppositionsmedien im Internet die Massnahmen mit.
RT DE, das für das deutschsprachige Publikum konzipierte russische Staatsmedium, thematisiert hingegen besonders ausführlich die Kontroverse um Corona-Massnahmen im Westen, mit deutlicher Unterstützung der Skeptiker. Über die vermutlichen Übergriffe der Berliner Polizei gegen Massnahmen-Gegner werde ich bei RT DE gut informiert (natürlich mit keinem Wort über die Gewalttätigkeit der russischen Polizei gegen regierungskritische Demonstranten).
3. Es fehlt nicht an wissenschaftlicher Bildung. Seit den ersten Sowjetzeiten hat die Naturwissenschaft in Russland ein besonders hohes Ansehen. Gerade Frauen haben viel öfter und früher als in der Schweiz eine Ausbildung als Naturwissenschaftlerin oder Ingenieurin erhalten. Das materialistisch-naturwissenschaftliche Bild vom Menschen, das auch der Impftechnologie zugrunde liegt, wurde zur einzigen Wahrheit erhoben, und so wurden alle heute lebenden älteren Menschen geschult. Die bei uns oft als Ursache von Impfskepsis beklagte spirituelle Esoterik wurde nach Möglichkeit ausgerottet. Auch das Patriarchat unterstützt Massnahmen und Impfkampagne. Metropolit Hilarion Alfejev erklärte das Nichtimpfenlassen sogar zur Sünde.
4. Die Pandemie war weder in Moskau noch in Irkutsk nur ein Gerücht, sondern reale Erfahrung des Erkrankens und Sterbens im Umkreis aller meiner Bekannten. Verstärkt wurde diese Erfahrung durch sehr unangenehme Erlebnisse im überforderten Gesundheitswesen. (Bei der ökonomischen Basis Russlands ist es nicht leicht, gleichzeitig die Atomstreitkräfte und die Spitäler auf den neusten Stand zu bringen.) Eine Bekannte, 80-jährig, wurde bei schwerem Verlauf in das für Corona reservierte Krankenhaus von Irkutsk gebracht und wurde dort in einem Raum mit zwölf anderen an Corona schwer Erkrankten abgestellt, von denen einige im Lauf der Woche in diesem Gemeinschaftsraum verstarben. Einige Zeit später, genesen, begrüsste mich diese Frau, die ihr Leben in wissenschaftlichem Milieu verbracht hat, energisch mit den Worten: «Bloss nicht impfen lassen!».
Die Bereitschaft, sich auf allen Lebensgebieten den Anordnungen der MACHT zu entziehen, scheint mir tiefgründiger ausgebildet als in Europa. Sie korreliert wenig mit der gleichzeitigen Bereitschaft, durch Referendum und Wahl ihr Mandat zu verlängern bzw. deren praktisch unbefristete Verlängerung enttäuscht, aber resigniert oder gelassen hinzunehmen.
Resignation – ist ein Machtwechsel unmöglich?
Die instinktive Resignation ist historisch verständlich: Es gibt kein Beispiel in der russischen Geschichte, in der es einer Mehrheit der Bevölkerung gelungen ist, in einem durch die Verfassung ermöglichten Prozess die MACHT friedlich auszuwechseln. Intrigen im Zarenpalast; eine entsetzlich gewalttätige Revolution, in deren Chaos eine kleine Gruppe die Macht ergriff; reformerische Absichten eines Generalsekretärs von oben, die in ein unkontrollierbares Chaos mündeten; der Schachzug eines kranken Präsidenten, der sich vor Strafverfolgung sichern wollte – das sind kurz gefasst die Erfahrungen mit tatsächlichem Machtwechsel.
Dass er nicht stattfinde, dafür sind alle Vorbereitungen von den Inhabern der gegenwärtigen Staatsmacht umsichtig getroffen. Sie sehen es gleich wie manche Anti-Mainstream-Medien im Westen: ein «regime change» kann nur durch die verbrecherische Planung ausländischer Mächte mithilfe einer kleinen Fünften Kolonne zustande kommen. Seit den ergebnislosen Demonstrationen um Navalnys Verhaftung ist es auch den hartnäckigsten Aktivisten klar: In absehbarer Zeit kann durch die verfassungsmässig vorgesehenen demokratischen Verfahren kein Einfluss genommen werden. Eine sowohl in den Staatsmedien wie in unabhängigen Medien zugelassene Diskussion über die Leistungen und Verantwortlichkeiten der Macht inklusive ihrer Korruption ist ebenso wenig vorgesehen wie eine freie Aufstellung von Kandidaten für demokratische Wahlen.
Nicht aufgeben! «Verteidiger des Rechts»
Zwei von solchen «Aktivisten», die dennoch ihre Lebensaufgabe darin sehen, nicht zu resignieren und weiter auf Veränderungen im gesellschaftlichen Leben hinzuwirken, lernte ich persönlich kennen: Svjatoslav Chomjakov und Zachar Sarapulov. Auch bei ihnen setzt sich eine historische Tradition fort in der scheinbar aussichtslosen Auseinandersetzung Einzelner mit der überwältigenden Staatsmacht, bei der keine die Macht hemmende Institution zu Hilfe kommt.
Besonders die Parallelen mit den Dissidenten der Sowjetzeit sind deutlich: Die heutigen Aktivisten, die noch in diesem Sommer bei drastisch zunehmender Repression an ihrer Aufgabe festhalten, sind Individualisten, keine typischen «Parteigänger», die einen Parteiapparat zu gründen versuchen oder darin mitlaufen wollen. Sie folgen ihrem Gewissen und verbauen sich dadurch Karrieren. Wie bei den Dissidenten der Sowjetzeit gab es bei Svjatoslav und bei Zachar ein individuelles «Erweckungserlebnis», bei dem das RECHT als unverzichtbare Lebensbedingung eines würdigen und das heisst auch freien Lebens erkannt wurde, als etwas, was man nicht nur dann geltend machen will, wenn man selber von einer Rechtsverletzung betroffen ist.
Bei Svjatoslav war es eigene Gefängniserfahrung, die ihn veranlasst hat, sich dem juristischen Kampf gegen die übliche Folter in den russischen Gefängnissen zu verschreiben, zugunsten ganz gewöhnlicher, politisch unbekannter, zu Recht oder zu Unrecht verurteilter Gefangener. Seine kleine Organisation, die sich im Schutz der UNO halten kann, heisst «Sibirien ohne Folter/Cибирь без пыток».
Bei Zachar war es eine Jubelfeier zum Anschluss der Krim, die er als Einzelgänger mit dem Hissen der ukrainischen Flagge beantwortete, ausgerechnet am Turm der Eliteuniversität MGU, diesem gigantischen Wahrzeichen des Stalinismus. Dabei hatte er keine persönlichen Bindungen an die Ukraine. Die zu erwartende sofortige Verhaftung beendete sein Studium und eröffnete seinen persönlichen Weg zum unnachgiebigen Recherchieren und Veröffentlichen von Rechtsbrüchen in der Region Irkutsk. Bei diesen wirkt in der Regel ein mächtiger Filz von Mitgliedern des Staatsapparats, Vertretern der Partei «Einiges Russland» und mafiösen Unternehmern. In der Region Irkutsk betrifft das oft Umweltverschmutzung und den illegalen, sehr profitablen Holzschlag. Nicht nur ein gewaltfreier Strafvollzug, sondern auch eine ökologische Zukunft ist offensichtlich nicht möglich ohne das Pochen auf einen funktionierenden Rechtsstaat.
Die Einzelnen, die Richter und die Mehrheit
Beide «Aktivisten» (und weitere Gesprächspartner) sind sich einig, dass es keine Hoffnung auf den Richterstand gibt. Der Gehorsam dieser privilegierten Kaste gegenüber den Direktiven von oben überwiege seit Generationen selbstverständlich die Beachtung von Verfassung und Gesetzen. Nur bei unnachgiebigem, fachkundigem Eintreten der sogenannten «Rechtsschützer/правозащитники» kann ausnahmsweise ein Erfolg verbucht werden, z. B. mit der Verurteilung von Gefängnisbeamten, die der Folter überführt wurden. «Schutz des Rechts» ist in Russland nicht Staatsaufgabe, sondern die Sache mutiger Individualisten.
Diese Rechtsschützer in Putins Russland finden sich in einer gemeinsamen Lage mit denjenigen damals in der Sowjetunion: Sie haben nicht nur die Staatsgewalt gegen sich, sondern sie haben dabei die Mehrheit der Bevölkerung nicht hinter sich. Nur wenn der Staat lokal eine Rote Linie überschreitet, wie zum Beispiel in Chabarovsk im Sommer 2020 bei der Verhaftung des gegen den Willen des Kremls gewählten Gouverneurs oder bei einem lokalen ökologischen Desaster, kommt es temporär zu einer Volksbewegung – von der aber der Konsument des Staatsfernsehens nichts erfährt.
«Russische Werte»
Putin hat im neusten Bericht zur Sicherheit der Russischen Föderation neu auch die «Russischen Werte» in das staatliche Sicherheitsdispositiv einbezogen. Ein Blick auf die Geschichte legt aber nahe, nicht die Inhaber der Macht zu fragen, worin die Werte der Menschen in Russland bestehen. Weder die Zaren seit Nikolaus I. (der als erster ihre Definition beanspruchte) noch Stalin oder Breshnev, aber auch nicht Putin können als glaubwürdige Interpreten der in der Bevölkerung Russlands lebenden Werte gelten. Der rückwärtsgewandte Patriotismus aus Zaren- und Sowjetnostalgie, den Putin zu kreieren versucht, scheint mir fern davon.
Den eher stillen anarchistischen Zug, der sich nicht um die staatstragenden, an der Spitze von Staat und Kirche ausgedachten Ideologien kümmert, halte ich hingegen für etwas wirklich Russisches und dabei Produktives. Ich halte auch den immer noch lebendigen Ostergruss «Christus ist wahrhaft auferstanden!» für einen russischen Wert und bin mir sicher, dass damit nicht der vom Patriarchen geweihte, gespenstisch auferstehende Herr der Streitkräfte gemeint ist.
Ich hoffe, viele Menschen aus Europa können russische Werte in menschlicher Begegnung kennen lernen.
*Peter Lüthi ist 1949 bei Glarus geboren und dort aufgewachsen. Geschichtsstudium an der Universität Basel mit Schwerpunkt Osteuropa und Russistik. Seit der Auflösung der Sowjetunion regelmässige Tätigkeit als Lehrer und Berater freier Waldorfschulen in Russland und der Ukraine mit den Schwerpunkten Pädagogik, Zeitgeschichte und Geschichtsunterricht.