Verzweifelt und bitter tönen die Fragen eines ukrainischen Bloggers: „ Russische Leute, habt Ihr schon vergessen, dass Ihr vor noch nicht allzu langer Zeit auch für Demokratie und gegen Diktatur gekämpft habt ?“. Die Parallelen zwischen den Massendemonstrationen in Moskau 1990/91 und dem Euro - Maidan in Kiew von heute seien doch offensichtlich. Damals und heute träumten Menschen von einer demokratischen Gesellschaft und Freiheit. „Warum glaubt ihr“, so fragt der Blogger frustriert, „dass in Kiew nur Faschisten und Extremisten auf die Strasse gingen ?“… „ Vergesst nicht, liebe Russen, ihr hattet auch Euren Maidan!“ (www.mykola.in.ua)
Abschreckende Gewalt in Kiew
Der ukrainische Blogger belegt seinen Aufruf mit eindrücklichen Fotos: Massendemonstrationen auf dem Manege-Platz in Moskau 1991 und heute auf dem Maidan in Kiew. Nur die Gebäudekulissen sind anders. Es gibt aber auch wichtige Unterschiede. Nach wochenlangen friedlichen Demonstrationen kam es in Kiew zu brutalen Gewaltausbrüchen mit über hundert Todesopfern und zahlreichen Verletzten. Die Hintergründe und Verantwortlichen dieser Gewaltexplosion sind bis heute nicht bekannt. Genau diese Szenen der Gewaltexzesse in Kiew wurden vom staatlich kontrollierten russischen Fernsehen ständig wiederholt, was in der russischen Bevölkerung eine abschreckende Wirkung auslösen sollte.
Friedliche Proteste in Moskau
Im Unterschied zum Maidan in Kiew flogen 1991 in Moskau keine Brandflaschen und es schossen keine Scharfschützen. Präsident Gorbatschow hatte mit seinen grosszügigen Konzessionen an den Westen für ein friedliches Ende des Kalten Krieges gesorgt. Und im August 1991 brach ein Putschversuch von Altkommunisten gewaltlos in sich zusammen. Dank eines mutigen Auftritts von Boris Jelzin und der Befehlsverweigerung einer Luftlandedivision. Nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden 15 neue Staaten. Die Begeisterung war gross - aber nur von kurzer Dauer.
Der gleiche Jelzin liess im Oktober 1993 das Parlament stürmen, wo sich die Opposition gegen Jelzins radikale Privatisierung verschanzt hatte. Der Gewaltakt, der über tausend Tote forderte, brachte Jelzin in die Abhängigkeit der Generäle, was ihn ein Jahr später zu einem Einmarsch in das abtrünnige Tschetschenien bewegte. Der erneute Versuch, einen politischen Konflikt mit Gewalt zu lösen, endete 1996 mit einer demütigenden Niederlage der russischen Armee und Zehntausenden von Opfern vor allem in der Zivilbevölkerung von Tschetschenien. In Russland herrschten Armut, Massenarbeitslosigkeit und Hyperinflation. Viele Russen begannen, der Demokratie westlichen Stils zu misstrauen und träumten wieder von der untergegangenen Sowjetunion.
Putin wurde zum „Retter Russlands“
Jelzins Ruf, der im Westen weiterhin als grosser Reformer gefeiert wurde, war in Russland entscheidend beschädigt. Das Land begann zu zerfallen und geriet unter die Kontrolle von korrupten Regionalfürsten. So war es kein Wunder, dass die Bevölkerung im Jahr 2000 Putin als neuen starken Mann und „Retter Russlands“ begrüsste.
Erst im Winter 2011/12 begann man die Widersprüche in Putins System zu erkennen. Praktisch über Nacht protestierte in Moskau eine gut informierte, moderne Mittelschicht gegen die „Diebe und Gauner“ im Kreml und forderte ein „Russland ohne Putin“. Auf dem Moskauer Sacharow Boulevard entstand ein russischer Maidan. Im übrigen Russland blieb es aber ruhig. Die schweigende Mehrheit in der Provinz schaute skeptisch auf die verwöhnte neue grossstädtische Mittelschicht, die im Wasserkopf Moskau protestierte. Mit einer Repressionswelle unterdrückte der Kreml die unerwartete Kritik. Die Protestbewegung blockierte sich aber auch selber. Ihre Akteure sind heute zerstritten, unter ihnen herrscht tiefes Misstrauen.
Sozialproteste in der Provinz
Die umstrittene Wiedereingliederung der Krim in die russische Föderation hat dem Protest gegen Putin wieder Aufwind gegeben. Eine Antikriegsdemonstration brachte mehrere 10 000 Leute auf die Strasse. Aber wiederum nur in Moskau. Im übrigen Russland kommt es auch zu Demonstrationen. Hier aber protestiert die Bevölkerung gegen die Schliessung von Spitälern, Schulen und steigende Lebenskosten. Die Sozialproteste sind nicht von Oppositionellen sondern von Einzelpersonen organisiert, zeigen aber, dass Putin das Wohlwollen seiner Klientel (Beamte, Militärisch-industrieller Komplex, Pensionierte) nicht mehr kaufen kann. Russland ist mit einer Wirtschaftskrise konfrontiert, die durch die Kosten des Krim-Anschlusses, mögliche Wirtschaftssanktionen und den Verlust Hunderttausender ukrainischer Billigarbeiter noch schärfer ausfallen könnte.
Nur Schichtwechsel in der Oberschicht
Unerwartete Schützenhilfe erhält Putin aus Kiew. Dort erweist sich die Uebergangsregierung immer mehr als ein Konglomerat aus unerfahrenen Politikern, dubiosen Oligarchen und hemmungslosen Ultranationalisten. Die provisorische Regierung hat die Lage in der Ukraine nicht unter Kontrolle. Diese Schlussfolgerung legt auch eine Studie der von der deutschen Regierung mitfinanzierten „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (Die Ukraine inmitten der Krise) nahe. In Kiew hat keine „Revolution“ stattgefunden sondern nur ein Schichtwechsel innerhalb der gleichen Oberschicht.
Aehnliches ist auch in Russland zu beobachten. Bis vor kurzem stützte sich Putin bei seinen Entscheiden auf ein Gremium, das sich aus liberalen Technokraten und Nationalisten zusammensetzte. Putin moderierte zwischen den Flügeln, neigte mal dem einen, mal dem anderen zu. Der Beschluss zur Annexion der Krim allerdings wurde gemäss gut informierten russischen Quellen im engsten Kreis von Putins Vertrauten aus den Sicherheitskräften gefällt. Heisst das, dass künftig im Kreml nur noch die Falken das Sagen haben werden ?
Auch Liberale stehen hinter Putin
Solche Fragen stehen zur Zeit nicht im Vordergrund, denn der Kremlchef kann sich Russland und der Welt als starke Führungsfigur präsentieren. Bis weit ins liberale Lager ist man stolz auf Putin, weil er der seit dem Ende des Kalten Krieges nach Osten expandierenden Nato endlich die Stirn geboten hat. Das Beschwören von Völkerrecht ist für russische Ohren hohles Geschwätz vor allem, wenn ein amerikanischer Aussenminister Russland davor warnt, in ein anderes Land einzumarschieren.
Stark nach aussen – schwach nach innen
Russland hat in der Ukraine - Krise aus einer Position politischer Stärke agiert. Russlands vermeintliche Stärke ist aber auf Sand gebaut. Das Land muss seine marode Industriestruktur modernisieren und diversifizieren. Der wenig Mehrwert produzierende Export von Oel und Gas führt in eine Sackgasse. Russland braucht einen neuen Wachstumspfad, den das Land nur mit westlichen Investoren und Knowhow beschreiten kann. Das Investitionsklima war schon bisher wegen Korruption, Bürokratie und Protektionismus nicht das Beste. Mit der Unsicherheit der Ukraine-Krise hat es sich noch mehr verschlechtert .
Putin wird wieder an Popularität verlieren, wenn die Bevölkerung den Widerspruch zwischen politischer Stärkedemonstration nach aussen und innerer Schwäche im Alltag zu spüren bekommt. Das schlimmste Szenario für den Kreml könnte dann eintreten, wenn nach den politisch motivierten Massenprotesten im Zentrum auch soziale und wirtschaftlich bedingte Brandherde im übrigen Russland aufflackern würden. Das wäre eine explosive Mischung. Pessimistische Beobachter glauben, nur so werde sich in Russland wieder etwas bewegen. Zu hoffen wäre dann, dass dieser Wandel trotz allem auf friedlichem Weg erfolgen wird.