Journal21: Kurt Spillmann, die Lage in der Ostukraine wird immer unübersichtlicher. Vieles deutet darauf hin, dass Russland pro-russische Aufständische unterstützt und die Rebellion schürt. Putin provoziert auf hohem Niveau. Wie gefährlich ist das?
Kurt R. Spillmann: Putin provoziert und ist sich gleichzeitig der Schwäche seiner Position bewusst. Er ist als vermeintlich „starker Mann“ beliebt bei breiten Massen seines Volkes, wird aber von Oligarchen und der entstehenden Mittelschicht mit wachsendem Misstrauen betrachtet.
Russland ist wirtschaftlich auf einer schiefen Ebene: Die industrielle Basis schwächelt, die Abhängigkeit von Gas- und Erdöleinnahmen schränkt die Handlungsfähigkeit gegenüber Europa massiv ein, der Rubel verliert laufend an Wert, die Börsenkurse fallen kontinuierlich und ein wachsender Strom reicher Russen siedelt sich in westlichen Ländern an und zieht Kapital und Know-how ab (Kapital im Wert von über 70 Milliarden $ soll in den ersten drei Monaten dieses Jahres bereits abgeflossen sein). Der Erwerb der Krim, eben noch als patriotische Heldentat Putins hochgejubelt, wird langsam auch als zusätzliche Bürde bewusst wegen ihrer schwachen eigenen Wirtschaft, steigenden Preisen und gewaltigen Infrastrukturbedürfnissen.
Obama scheint ziemlich erzürnt zu sein. Er spricht ständig von Sanktionen, von der Gefahr einer „ernsthaften Eskalation“. Steht er der russischen Provokation nicht ziemlich machtlos gegenüber?
Obama ist ein nüchterner Politiker, der sich weder in die Revolutionen des „arabischen Frühlings“ noch in die Wirren des syrischen Bürgerkrieg hineinziehen liess. Er hat für sich und die USA bewusste Schlüsse gezogen aus den verlorenen Kriegen in Vietnam, Irak und Afghanistan und will sich wegen der Ukraine keinesfalls in eine kriegerische Konfrontation mit Russland hineinziehen lassen. Jedoch will er auch die neuen Nato-Mitglieder in Osteuropa – allen voran die baltischen Staaten – seiner Verlässlichkeit versichern. Deshalb sind jetzt auch Truppenübungen mit amerikanischen Truppen in Estland und Polen angekündigt worden, die das Vertrauen der Osteuropäer stärken sollen. Die Nato und die amerikanischen Streitkräfte sind den russischen Streitkräften zahlenmässig und technisch überlegen. Doch wollen beide Seiten eine Konfrontation verhindern und versuchen die Kriegstreiber in den eigenen Lagern zurückzubinden, wie das Genfer Abkommen vom 17. April über die Entwaffnung irregulärer bewaffneter Verbände in Ost und West der Ukraine gezeigt hat.
Letztes Jahr hatte Obama in Syrien eine „Rote Linie“ gezogen. Diese wurde zwar überschritten, doch Putin gelang es, Obama auszuspielen. Wiederholt sich jetzt dieses Szenario?
Die „Rote Linie“ in Syrien war aus einer Seitenbemerkung von Obama abgeleitet worden und war in keiner Weise als Ultimatum formuliert worden. Es war sogar eine Entlastung auch für die USA, dass Lawrow mit der Vernichtung der syrischen Chemiewaffen einen Ausweg fand, der Russlands Weltbedeutung unterstrich, der Syrien absicherte gegen ein Eingreifen der USA in den syrischen Bürgerkrieg, und der Obama erlaubte, sein Gesicht zu wahren, ohne in Syrien Krieg führen zu müssen.
In Syrien hat Obama nichts ausrichten können, im Nahen Osten kommt Aussenminister Kerry nicht weiter. Der Annexion der Krim mussten die USA tatenlos zusehen. In der Ostukraine sieht es nicht anders aus. Ist die Weltmacht USA zu einem zahnlosen Löwen geworden?
Die amerikanischen Streitkräfte sind immer noch allen anderen Armeen der Welt weit überlegen und haben als einzige der Welt das Potenzial, weltweit an jedem beliebigen Punkt mit wirklicher Macht einzugreifen. Von Zahnlosigkeit kann also militärisch keine Rede sein. Hingegen ist der Wille, Weltpolizist und Weltordnungsmacht zu sein, erheblich kleiner geworden unter Obama. Während sein Amtsvorgänger nach 9/11 noch die Gelegenheit ergriff, den weltweiten „Krieg gegen den Terrorismus“ zu verkünden und der ganzen Welt die technische Überlegenheit der USA durch überlegene Einsätze in Afghanistan und Irak zu demonstrieren, gehörte Obama schon als Senator zu den Kritikern eines überzogenen Supermachts-Gehabes. Er spielt seine Macht weit zurückhaltender aus als sein Amtsvorgänger, der noch nicht mit den Bürden der Bankenkrise und der inneren Selbstlähmung zu kämpfen hatte.
Wer ständig droht und die Drohungen nicht wahrmachen kann, gilt bald als Schwächling. Obama weiss das. Könnte es sein, dass er sich zu einem nicht zu Ende gedachten militärischen Eingreifen hinreissen lässt?
Gerade im Hinblick auf sein ganzes bisheriges aussen- und sicherheitspolitisches Denken und Handeln ist von diesem Präsidenten ein solche mangelhaft überlegte Impulshandlung nicht zu erwarten.
Wie weit wird Obama gehen?
Obama wird sich nicht einmischen in die Regelung der inneren Verhältnisse der ukrainischen Machtverteilung. Die Interessengruppen sind äusserst vielfältig gespalten. Es gibt nicht nur diese scheinbar einfache West-Ost-Teilung. Korruptionsnetzwerke verschiedener Art spielen ebenso mit wie politische, ethnische, nationalistische Interessengruppen. Obama wird die Frontarbeit der Uno, der EU und natürlich der OSZE überlassen, deren Vorsitzender gegenwärtig der schweizerische Bundespräsident ist und dessen Sondergesandter Tim Guldimann sich nach Kräften bemüht, die verschiedenen Knoten diplomatisch zu lösen. Aber eine unerwartete emotionale Reaktion von Seiten Obamas ist kaum zu befürchten.
Könnte es bald zu einem Stellvertreter-Krieg kommen? Der Westen unterstützt die Regierung in Kiew, Russland unterstützt die Rebellen.
Das halte ich für hoch unwahrscheinlich, weil weder die USA noch Russland an einer solchen Konfrontation interessiert sind und der Streit um die Machtverteilung in der Ukraine von den Interessengruppen selbst gelöst werden muss.
Putin scheint zur gefährlichen Eskalation bereit, ungeachtet der Schäden für die eigene Wirtschaft. Will er damit testen, wie weit er bei Obama gehen kann?
Es ist denkbar, dass Putin in seiner besonderen Geistesverfassung zu solchen Opfern bereit sein könnte. Auch findet in nationalen Krisen immer ein nationaler Schulterschluss statt, und Putins Beliebtheit bei den Massen hat ja im Gefolge der Krimkrise die 80 Prozent überschritten. Davon könnte er kurzfristig noch profitieren. Doch ist Putin als altgedienter Funktionär auch nüchtern genug, um zu wissen, dass er Obama nicht beliebig provozieren kann, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Diese Konsequenzen sind wirtschaftlicher Art. Aber gerade als solche für Putin gefährlich, denn wenn die Preise steigen, Produkte rar werden und die Währung zerfällt, dann wird der Unmut und die Enttäuschung der Massen früher oder später auf Putin zurückfallen. Er wird also dafür sorgen müssen, dass er die Krise beendet, bevor solche Rückwirkungen Russland allzu schwer geschädigt haben. Zur Zeit – Ostersamstag – ist alles noch offen und eine diplomatische Lösung noch möglich.
Will Putin wirklich die Ost-Ukraine, oder will er einfach Obama in die Knie zwingen?
Es wäre zwar ein weiterer Triumph für Putin, wenn er auch Teile der Ost-Ukraine für Russland „zurückgewinnen“ könnte und die Nationalisten und Patrioten würden ihn sicher mächtig dafür bejubeln. Doch auch hier gilt wie bei der Krim: Jede Medaille hat ihre Kehrseite in Form von Kosten, und gerade in der wirtschaftlich sehr schwachen Ost-Ukraine mit ihrer ebenfalls sehr schwachen Infrastruktur wären die Lasten für Russland enorm. Obama kann in der Ukraine weder wirtschaftlich noch militärisch bezwungen werden. Weder ist die Ukraine für das westliche Sicherheitsbündnis von vitaler Bedeutung, noch hat die ukrainische Wirtschaft eine grössere Bedeutung. Von der Schadensanalyse her gesprochen geht es für beide Seiten darum, in diesem Gezerre um die Machtverteilung die eigenen Interessen möglichst ohne Gesichtsverlust (für Obama prioritär) und ohne nachhaltigen wirtschaftlichen Schaden (für Putin prioritär) zu bewältigen.
Glauben Sie, dass Putin nach einem lange vorbereiteten Drehbuch handelt – oder sieht er einfach plötzlich die Möglichkeit, das geschwächte Russland wieder als weltpolitischen unumgänglichen Player ins Spiel zu bringen?
Genau dieses Anliegen motiviert ihn seit jeher, hat er doch wiederholt bestätigt, dass für ihn der Untergang der Sowjetunion die grösste geschichtliche Katastrophe des 20. Jahrhunderts darstellt und er alles daran zu setzen bereit ist, diesen Verlust wettzumachen.
Könnte, 25 Jahre nach seinem Ende, der Kalte Krieg wieder aufleben?
Das halte ich für hoch unwahrscheinlich, die Zeiten sind anders geworden, die Globalisierung hat die ganze entwickelte Welt mit einem Netzwerk von gegenseitigen Abhängigkeiten überzogen, für die Westeuropas Abhängigkeit vom russischen Erdgas und Russlands Abhängigkeit von den westlichen Gas-Einnahmen bespielhaft stehen können. Auch wenn Interessengegensätze zwischen Ländern und Ländergruppen nach wie vor wichtig sind, so halte ich doch die heute lebenden Politiker wie auch die Menschen allgemein für weniger romantisch als vor hundert Jahren, als die grossen Nationen Europas bereit waren, ihre ganze Existenz und damit ihren Wohlstand, ihre Kultur und ihr Dasein schlechthin einem nationalistischen Rausch zu opfern. Und schliesslich war ja der Kalte Krieg gewissermassen die Abschlussphase und der Ausklang der Epoche der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Das neue globale Zeitalter, in das die Welt seit dem Ende des Kalten Krieges, also seit 1989/91, eingetreten ist, hat neue Erfordernisse an uns alle gestellt. Nur schon die Erhaltung der Lebensmöglichkeiten auf diesem Planeten angesichts der menschenverursachten negativen Einwirkungen auf das Klima zeigen, dass Fragen der nationalen Ehre und Bedeutung dahinter eigentlich zurücktreten sollten.
(Das Gespräch mit Kurt Spillmann führte Heiner Hug)