Seit dem 9. Februar 2014 herrscht im Schweizerland Konfusion. Die Hälfte der Abstimmenden (50,3%) hatte „gegen Masseneinwanderung“ votiert, da „Masslosigkeit schadet“ (SVP-Propaganda). Die andere Hälfte hatte vergeblich davor gewarnt, die Initiative setze nicht nur die Personenfreizügigkeit mit der EU aufs Spiel, sondern stelle die gesamte Europapolitik der Schweiz der vergangenen 20 Jahre in Frage. 14 Monate später stapeln sich die gutgemeinten Lösungsvorschläge, die professoralen Lehrmeinungen, die parteipolitischen Werbekampagnen, die diametral auseinanderdriftenden Analysen. Alle kennen sie die Lösung – doch die Vielzahl der Vorschläge lässt ahnen: Das helvetische Geschäftsmodell „Fünfer und Weggli“ ist inzwischen aus dem Sortiment gestrichen.
Die Bilateralen
Die bilateralen Abkommen der Schweiz mit der EU sichern uns seit 1972 den Zugang zum Europäischen Binnenmarkt der EU. Die Hauptetappen dieses Vertragswerks: das Freihandelsabkommen von 1972, das Versicherungsabkommen von 1989, die bilateralen Abkommen I von 1999 und die bilateralen Abkommen II von 2004.
Die Kündigung dieser Verträge, wie es AUNS und „Weltwoche“ forderten, und deren Ersatz durch Freihandelsabkommen, diese Idee der einfachen Lösung ist in ihrer Konsequenz wohl ziemlich abenteuerlich. Für Verträge braucht es bekanntlich zwei Partner.
Die Einwanderung wieder mit Kontingenten zu steuern, wie es die Initiative fordert, widerspricht dem Freizügigkeitsabkommen mit der EU, das mit sechs bilateralen Verträgen verknüpft ist (Guillotine-Klausel). Es erstaunt nicht, dass von Seiten der EU-Kommission seither signalisiert wird: Verhandlungen über Ausländerkontingente und Inländervorrang sei kein Thema.
Exportbilanz der Schweiz
Die Schweizerische Nationalbank hat im Februar 2015 mit einem weltweit registrierten Paukenschlag den Mindestkurs des Schweizer Frankens aufgehoben.
Dieser Entscheid hat zur Folge, dass Schweizer Exporte auf einen Schlag erheblich verteuert wurden, die Konkurrenzfähigkeit unserer Exportindustrie abnahm.
Unsere wichtigsten Abnehmer in der EU waren 2012, gemäss SNB: Deutschland mit 41,8 Milliarden Franken, Italien (15 Mia), Frankreich (15 Mia), Vereinigtes Königreich (11,4 Mia), Österreich (6,2 Mia.), Niederlande (5,2 Mia.), Spanien (5,5 Mia.). Dass wir im gleichen Zeitraum in die USA (23,5 Mia.), China (7,8 Mia.) und Japan (7,0 Mia.) exportierten, dient zum Vergleich: der Zugang zum Europäischen Binnenmarkt ist für die Schweiz von absoluter Priorität. Unser Wohlstand, das wissen Befürworter und Gegner der Initiative, wird nicht nur, aber auch von der Exportindustrie erzeugt.
Diese Binsenwahrheit ist im Auge zu behalten. Das Freizügigkeitsabkommen mit der EU neu zu verhandeln, wie es die SVP verlangt, ist deren legitime Forderung. Zu suggerieren, dass dann zumal die Schweiz frei sein würde, die Steuerung der Zuwanderung autonom zu regeln und damit alles in Butter wäre, ist dagegen reisserische Propaganda.
Schweizer Werte
Die Schweiz ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Innerhalb von 50 Jahren hat es sich von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft entwickelt. Der Vergleich der Erwerbstätigen spricht Bände. Waren 1960 14,5% im Primärsektor (Landwirtschaft), 46,5% im Sekundärsektor (Industrie und Gewerbe) und 39% im Tertiärsektor (Dienstleistungen) beschäftigt, waren es 2013 noch 3,6% im Primär-, 22,1% im Sekundär- (Chemie, Pharma, Uhren) und 74,3% im Tertiärsektor (grosser Beitrag der Finanzdienstleistungen).
Hinter den erfreulichen Leistungen unserer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft steht die Forschung. Neue Konzepte, neue Produkte, neue Lösungen werden oft an unseren Universitäten „geboren“. Diese Forschungsinstitutionen der Schweiz sind in Gefahr. Dies sagt Patrick Aebischer, Präsident der ETH Lausanne (EPFL): „Wenn wir vom wissenschaftlichen Netzwerk in Europa ausgeschlossen würden, wäre das eine Katastrophe“ (Weltwoche Nr. 51/51 2014). Nach dem Entscheid vom 9.2.2014 waren sie aus dem EU-Forschungsprogramm „Horizon 2020“ herausgeworfen worden, jetzt sind sie provisorisch bis 2016 dabei. „Wird das Problem der Freizügigkeit nicht gelöst, fliegen wir wieder raus!“
Bilaterale retten, Zuwanderung drosseln
Diese Herkulesaufgabe zu lösen, grenzt an Überforderung. Wohl deshalb hat es ein Jahr gedauert, bis der Bundesrat verlauten liess, dass er „nichts Bahnbrechendes entschieden hätte“. Neu soll es für alle Ausländergruppen Kontingente geben. Für EU-Bürger soll das Freizügigkeitsabkommen angepasst werden. Was passiert, wenn die EU nicht mitmacht, lässt der Bundesrat offen. Die beiden Ziele des Bundesrates, die Umsetzung der Initiative und den Erhalt der bilateralen Verträge mit der EU in Einklang zu bringen, gleicht offensichtlich der Quadratur des Kreises.
Die Ratschläge an den Bundesrat füllen mittlerweile ganze A4-Ordner. Ob es tatsächlich hilfreich wäre, mit ein wenig griechischer Frechheit in die Gespräche mit der EU einzusteigen? Patentrezepte sind nicht in Sicht. Economiesuisse und Arbeitgeberverbände sprechen sich für eine Erweiterung der Schutzklausel im Freizügigkeitsabkommen aus. Allenthalben wird taktiert. Man soll dem Volk reinen Wein einschenken. Und neuerdings: Mit der Aufhebung der Franken-Untergrenze und der sich abzeichnenden Abkühlung der Konjunktur dürften eh weniger Ausländer in die Schweiz einwandern und damit das Problem der hohen Immigration entschärfen.
Auch das schweizerische Geschäftsmodell der Ansiedlung ausländischer Unternehmen gerät in Schieflage. Auf der einen Seite versprechen die kantonalen Standortförderer diesen grosszügüge Steuerrabatte, während gleichzeitig die Heimatförderer angesichts der Zuwanderung rufen: Genug ist genug!
Das Parlament ist zerstritten, die Parteien fokussieren auf den Wahlkampf und die Wiederwahl ihrer Exponenten im Bundeshaus. Sie überlassen die heisse Kartoffel gern der Exekutive.
Böse EU, gute Schweiz
Dieses infantile Schwarzweissbild, das durch die bekannten „Land-Wirte“ seit 25 Jahren am Leben erhalten wird, obwohl inzwischen weltweit Schwarzweiss durch Farbe ersetzt wurde, vergilbt trotzdem immer mehr. Mit „Land-Wirten“ sind natürlich jene Kreise gemeint, die unser Land im Sinne ihres „Glaubens“ bewirtschaften.
In allen Ländern dieser Welt läuft einiges schief, anderes ist positiv. Dies gilt auch für die EU – und die Schweiz.
Die EU – eine ausgewiesene Friedens- und Wertegemeinschaft (Ausweis: 70 Jahre Frieden, nach Jahrhunderte dauernden Abfolgen von kriegerischen Ereignissen), kämpft mit grossen internen Problemen. Da sich die Welt, Menschen, Regierungen seit Mitte des letzten Jahrhunderts verändert haben, ist die ursprüngliche EU-Devise „unverhandelbar“ obsolet geworden. Auch die Rettung des Euro um jeden Preis ist nicht mehr zeitgemäss. Spätestens dann, wenn sie die EU selbst gefährdet, dürfte klar werden: lieber noch ein EU-Land ohne Euro als eine unendliche Abfolge von Euro-Rettungsaktionen zum Preis eines Scheiterns der EU. Bis dies überall akzeptiert wird, dürfte noch einige Zeit vergehen.
„Sonderfall“ Schweiz
Dass in der Schweiz, deren Wohlstand zu einem grossen Teil auf intakten Handelsbeziehungen vor allem mit den EU-Ländern beruht, einflussreiche Kräfte am Werk sind, deren wichtigste Aufgabe es ist, die EU permanent schlecht zu reden, gibt zu denken. Bevor die Zuwanderung für Probleme in der Schweiz verantwortlich gemacht wird, wäre es angezeigt, vor der eigenen Türe zu wischen.
Warum kennen wir einen Numerus Clausus für das medizinische Studium (1628 Studienplätze) und rufen dafür 30 Prozent des Ärztebedarfs aus dem Ausland? Warum beklagen wir uns über Dichtestress im Zug und verteilen jährlich Tausende enorm verbilligter Tageskarten? Warum schicken wir ebenfalls jährlich Tausende von arbeitswilligen Frauen und Männer in die Pension, obwohl sie noch gerne weiter arbeiten würden? Warum lassen wir Konzerne massenweise billige IT-Kräfte im Ausland rekrutieren und die dadurch arbeitslos gewordenen 3061 Schweizer-Informatiker Arbeitslosengeld kassieren? Warum das Lamento über dringend benötigte, aber fehlende Fachkräfte, wo dieser Mangel durch zwei zusätzliche wöchentliche Arbeitsstunden entschärft werden könnte? Warum lassen wir Tausende anerkannte Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene während Jahren nicht arbeiten?
Lösungssuche
Ob sich dereinst Schweizer Verfassung und Personenfreizügigkeit vereinbaren lassen werden, steht in den Sternen. Die Idee einer Schutzklausel ist ein bisschen Morgenröte am trüben Himmel, da die EU selbst zahlreiche solche kennt.
Nicht auf den Goodwill der EU angewiesen ist unser Land beim Problem des ausufernden staatlichen Stellenappetits, der die Zuwanderung verstärkt. Innerhalb von vier Jahren ist die Zahl der Staatsangestellten von 918‘000 auf über eine Million gestiegen.
Die EU-Frage ist die momentan wichtigste Herausforderung der Schweiz. Bereits vor dem abrupten Ende der Frankenstützung durch die SNB stellte die Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF) fest, dass 10 – 15% der befragten 2800 Schweizer Firmen als Folge der Annahme dieser Initiative Investitionen aufschöben oder gar ins Ausland verschieben würden. Dieses Bild hat sich durch den SNB-Entscheid zusätzlich verdüstert.
Viele Menschen im Land haben der Masseneinwanderungsinitiative nicht aus Fremdenfeindlichkeit, sondern aufgrund persönlicher Erfahrungen am Arbeitsplatz und realer Ängste (Jobverlust) zugestimmt. Diese Tatsache führt zur Überlegung, dass die grossen Arbeitgeber und deren Verbände es in der Hand hätten, mit einem Inländervorrang und veränderter Einstellung zum Pensionierungsfrage die ungemütliche Situation rasch zu verbessern.
Als Leitgedanken sollten wir nicht vergessen, dass die Idee des Westens (Freiheit, Innovationskraft, Neugier, Kreativität) nach wie vor magnetische Wirkung auf alle Auswanderungswilligen der Welt ausübt. Auch Europa gehört zum Westen. Wir können stolz sein darauf, dass wir uns zu Europa zählen können.