Keine zwingende, aber doch eine überraschend stimmige Kombination: Das Kunsthaus Zürich lässt die weltweit gefragte Künstlerin Mona Hatoum (*1952 in Beirut) reagieren auf die bekannten bedrückend-traurigen Werke von Käthe Kollwitz (1867–1945) .
Käthe Kollwitz ist wohl Deutschlands populärste Künstlerin des vergangenen Jahrhunderts. Ihr Werk war in Deutschland, mit je anderer politischer Gewichtung, «Schulbuchstoff» in West und Ost. Käthe Kollwitz gewidmete Museen gibt es in Berlin und in Köln. In Schinkels Neuer Wache in Berlin stehen Tausende Schüler und Touristinnen vor der Skulptur «Pietà», die 1993 hier auf Geheiss von Helmut Kohl errichtet wurde: Es ist die aufs Vierfache vergrösserte Fassung der Kleinplastik, die Käthe Kollwitz 1937–39 in Erinnerung an den Kriegstod ihres Sohnes Peter (1914) schuf.
Auch hierzulande kennt man Käthe Kollwitz, wenn auch nicht im gleichen Masse wie in Deutschland, mit dessen Geschichte vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ihr Leben und ihr Werk eng verbunden sind. Bekannt ist sie vor allem wegen ihrer sozialkritischen Themen wie Armut, Arbeiterelend, Frauenunterdrückung, Aufbegehren und Kriegsfolgen. Käthe Kollwitz’ Werke sind auf eine bedrückende Weise auf Traurigkeit gestimmt.
Allerdings und trotz dieser Thematik: Eine Revolutionärin war sie nicht und auch nicht Kommunistin, obwohl sie ein ikonisches Gedenkblatt für Karl Liebknecht schuf. Sie war Sozialdemokratin und hatte über den Arztberuf ihres Mannes Einblick in die Misere der Berliner Arbeiterviertel, die sie in Bildern schilderte, die unter die Haut gehen. Daneben führte sie mehrheitlich eine gutbürgerliche Existenz. Sie ist auch nicht dem Widerstand zuzurechnen. Als das Nazi-Regime sie bedrängte und ihr de facto ein Ausstellungsverbot auferlegte, wählte sie die Innere Emigration. Sie starb im April 1945 im Alter von 78 Jahren in Moritzburg bei Dresden.
Technische Raffinesse
Das Kunsthaus Zürich bietet in der Ausstellung mit dem Titel «Stellung beziehen – Kollwitz mit Interventionen von Mona Hatoum» Gelegenheit zu intensiver Auseinandersetzung mit Werken beider Künstlerinnen. Beginnen wir mit dem Schaffen von Käthe Kollwitz, das wegen seiner mitunter an Sentimentalität grenzenden Emotionalität leicht zugänglich ist, gleichzeitig aber mit seiner Authentizität und mit der persönlichen Integrität der Künstlerin beeindruckt.
Zu sehen sind originale Grafikblätter, Zeichnungen, wenige der frühen Malereien und drei Skulpturen. Besucherinnen und Besucher erhalten Einblicke in die vor allem in der Druckgrafik hohe technische Perfektion. Mit Raffinesse erzielte Käthe Kollwitz subtilste Abstufungen der Tonwerte. Doch die Künstlerin liess die fast alchimistisch anmutenden Überlagerungen verschiedener Drucktechniken nie Selbstzweck werden. Sie setzte die Perfektion auch der Bildkompositionen und die Wahl der Perspektiven stets in Beziehung zu den im Werk engagiert formulierten inhaltlichen Komponenten.
Künstlerisches Umfeld
Die Schau gibt damit einen guten Überblick über ein während Jahrzehnten vorangetriebenes Werk, in dem das Selbstporträt als Selbstbefragung eine tragende Konstante bildet. Prägend für ihr Schaffen sind auch die Grafik-Serien zum Beispiel zum schlesischen Weberaufstand von 1844 (sie wohnte 1893 der privaten Uraufführung von Gerhart Hauptmanns «Die Weber» bei und machte sich unmittelbar danach an die Arbeit) oder zum deutschen Bauernkrieg von 1524 (1907).
Weitere Schwerpunkt sind der weibliche Akt sowie – auch das emotional aufgeladen – das Thema Mutter und Kind sowie die Auseinandersetzung mit dem Thema Tod. Deutlich macht die Zürcher Präsentation auch, in welchem künstlerischen Umfeld ihrer Zeit sich Käthe Kollwitz vernetzt fühlte. Da liessen sich Karl Stauffer-Bern (1857–1891) nennen, bei dem sie in Berlin Unterricht nahm, oder der rund zehn Jahre ältere Max Klinger (1857–1920), dessen Radierfolgen (zum Beispiel «Ein Leben») sie beeinflussten, und schliesslich Max Liebermann (1847–1935), die weitgehend unumstrittene grosse Instanz der Berliner Malerei seiner Zeit. Liebermann, mit dem sie in der Berliner Akademie in engem Kontakt stand, förderte sie.
Mona Hatoums Vieldeutigkeit
Das Kunsthaus Zürich zeigt aber Käthe Kollwitz nicht allein, sondern lud die in Beirut geborene, weltweit bekannte und erfolgreiche Künstlerin Mona Hatoum ein, mit eigenen Werken auf die Kunst von Käthe Kollwitz zu reagieren. Hatoum ist Palästinenserin mit britischem Pass. Ihre Kunst ist stark geprägt von ihrem eigenen Erleben kriegerischer Verwerfungen und ihrer damit zusammenhängenden nomadischen Künstlerinnenexistenz sowie von eigenen ambivalenten Körpererfahrungen. Sie thematisiert so in ihrer konzentrierten, sehr direkten und oft auch poetischen künstlerischen Sprache – Objekt, Skulptur, Video, Installation – Gewalt, leidvolle Erlebnisse, Identitätssuche und Enge, aber auch Fragilität, Zärtlichkeit und Erotik.
Dem entsprechen Vieldeutigkeit und Vielschichtigkeit mancher in Zürich präsentierter Installationen. «Cellules» zum Beispiel ist eine Gruppe von sechs leicht schiefstehenden käfigartigen Stelen unterschiedlicher Höhe aus Armierungseisen. Sie nehmen je ein oder mehrere mundgeblasene runde Objekte aus tiefrotem Muranoglas auf, die sich gegen die Eisenstäbe zu drängen scheinen, dem Käfig entrinnen wollen, aber gewaltsam daran gehindert werden. Die blutroten Objekte erinnern an verletzliche menschliche Organe. Wir werden Zeugen zerbrechlichen Lebens, das sich nicht entfalten kann. Weiches sucht sich gegenüber Härte durchzusetzen.
Um extreme Gefährdung geht es in «Cube 9x9x9». Mit dem Titel nimmt Mona Hatoum Bezug auf Sol LeWitts gleichnamige Skulptur aus den 1970er-Jahren, ein streng gerastertes Gitterwerk aus 729 in ihrer Grösse identischen Würfeln. Sol LeWitts Rasterelemente sind glatte und schneeweisse Balken – Minimal Art pur –, Mona Hatoum verwendet hingegen feinen Stacheldraht. Der wirkt aggressiv, doch gleichzeitig, weil filigran und poetisch, ambivalent.
Ganz direkt an Kriege denken lassen Mona Hatoums Skulpturen «Bourji» (das ist arabisch und bedeutet Turm). Die Künstlerin schichtet rechteckige röhrenähnliche Elemente so aufeinander, dass sie Türme bilden, denen Hatoum an Einschüsse gemahnende Verletzungen zugefügt hat: Ein Verweis auf die sinnlosen Zerstörungen im Bürgerkrieg in Mona Hatoums libanesischer Heimat.
Warum gerade Mona Hatoum?
Käthe Kollwitz und Mona Hatoum haben wenig gemeinsam, auch wenn das Biographische im Werk beider eine Rolle spielt und auch wenn beide Künstlerinnen auf ihre Weise unmissverständlich politisch «Stellung beziehen», wie der Titel der von Jonas Beyer (Zürich) und der Kollwitz-Spezialistin Hannelore Fischer (Köln) kuratierten Ausstellung lautet. Beide agieren – und darum funktioniert die Gegenüberstellung – auf hohem künstlerischem Niveau. Kollwitz’ Stellungnahme ist direkt – bis hin zum politischen Plakat «Nie wieder Krieg!» (1924). Hatoum wählt, auch im Charakter der Materialien, die Sprache der Metapher.
Das Kunsthaus möchte wohl mit den Interventionen Mona Hatoums an Gegenwartskunst Interessierte auf Käthe Kollwitz und, umgekehrt, Besucherinnen über Käthe Kollwitz auf Gegenwartskunst hinführen, wie das heute manche Museen tun. Doch dazu böten sich Werke manch anderer Künstlerinnen ebenso an.
Die Gründe für die Wahl Mona Hatoums sind denn auch eher pragmatischer als künstlerischer Natur: Die Akademie der Künste in Berlin verleiht seit 1960 jährlich den Käthe-Kollwitz-Preis, den die Jury 2010 Mona Hatoum zugesprochen hat. 2017 zeigte die Akademie in Zusammenarbeit mit dem Kölner Käthe-Kollwitz-Museum eine Ausstellung von Werken mehrerer Preisträgerinnen und Preisträger (darunter eben auch Mona Hatoum) mit dem Titel «Käthe Kollwitz neu denken». Die Zürcher Ausstellung, die im kommenden Jahr auch in der Kunsthalle Bielefeld gezeigt wird, ist gewissermassen eine Weiterführung jener Zusammenarbeit.
Kunsthaus Zürich, bis 12. November, Katalog 54 Franken