Die FDP hat sich diesmal gegenüber einer Kanzlerin durchgesetzt, die nur in taktischen Kategorien zu denken vermag. Ein Wunder ist darin aber nicht zu erblicken. Schliesslich war es ebenfalls ein taktischer Vorteil, den die Führung der FDP auszunutzen verstand. Denn sehr schnell war klar geworden, dass kein einziger der als Alternative zu Joachim Gauck ins Gespräch gebrachten Kandidaten in der Wahlversammlung eine sichere Mehrheit bekommen würde. Die ist nur mit Gauck zu erreichen. Dennoch darf man diesmal vor der Führung der FDP den Hut ziehen. Denn sie hat im richtigen Moment das Richtige getan.
Das dürfte unter dem Einfluss einer Kanzlerin, der jeder Sinn für grosse Linien abgeht, alles andere als einfach gewesen sein. Wo kurzfristige Vorteile mit weiten Horizonten verwechselt werden, wird das politische Denken korrumpiert. Das konnte man schon bei der ersten Kandidatur von Gauck beobachten.
Der Pfarrer und die Pastorentochter
So war es nicht nur für links-liberale Kommentatoren wie Heribert Prantl von der "Süddeutschen Zeitung" völlig klar, dass es Joachim Gauck nicht ins höchste Staatsamt schaffen werde. Die Taktiererei der Kanzlerin stand gegen die Begeisterung derjenigen, die mit dem Amt des Bundespräsidenten etwas wie eine Vision verbanden. Dass Christian Wulff diesen Makel in der Banalität seiner gesamten Auf- und Fehltritte immer wieder neu sichtbar machte, wirkte wie eine Art running gag im tristen Politikbetrieb.
Es war nicht sonderlich originell, aus dem Namen von Wulff im Zusammenhang mit seinen Heimlichtuereien ein Verb zu machen. Aber vor der erneuten Kandidatur Gaucks bekommt dieser Vorgang eine zusätzliche Bedeutung. Denn auch Gaucks Name ist in der Zeit, als er von 1990 bis 2000 die Stasi-Unterlagen-Behörde leitete, zum Verb geworden: gaucken. Ehemalige Bürger der DDR aus dem Umkreis der Stasi wurden überprüft. Bezüglich ihrer Vergangenheit sollte Transparenz geschaffen werden - gaucken ist also das Gegenteil von wulffen.
Eine Art Tragik
Als sich Angela Merkel aus taktischen Gründen gegen Joachim Gauck und für Christian Wulff entschieden hatte, wurde darin so etwas wie eine Tragik gesehen. Denn immerhin stammten beide aus der ehemaligen DDR, kamen aus einem christlichen Umfeld – sie als Pastorentochter, er als Pfarrer – und hatten die Chance der Freiheit nach dem Ende der Diktatur ohne jede Zweideutigkeit begrüsst und genutzt. Kurz vor ihrer fatalen Entscheidung war Merkel noch bei einer privaten Geburtstagsfeier bei Gauck gewesen und soll sich bei ihm und mit ihm sehr wohlgefühlt haben.
Aber die Unterschiede zwischen beiden sind grösser als diese Gemeinsamkeiten. Joachim Gauck, dessen Vater 1951 willkürlich verhaftet, nach Sibirien verschleppt wurde und erst 1955 aufgrund der Moskauer Verhandlungen von Bundeskanzler Konrad Adenauer wieder freikam, stand mit seinem Elternhaus in einer Fundamentalopposition zur SED. Für das Studium der Theologie entschied er sich, weil er die „Kirche als einen Raum grösserer Freiheit erfahren habe – und Christen als vertrauenswürdiger als die, die in meinem Land das Sagen hatten.“ (NZZ vom 22. Mai 2010). Lange Zeit aber hatte er grosse Zweifel daran, ob er der Richtige für den Beruf des Pfarrers sei, denn er hatte „Angst, vom Zweifel verschlungen zu werden“, wie er in seinem autobiographischen Roman "Winter im Sommer, Sommer im Herbst" (2009) schrieb.
Die Stasi-Akten
Erst im Vikariat und in der Begegnung mit den Gemeindemitgliedern fand er Boden unter den Füssen und „konnte geistlich wachsen und etwas ausstrahlen". Zwischen 1982 und 1990 war Gauck Leiter der Kirchentagsarbeit in Mecklenburg. Ein Höhepunkt war der Kirchentag von 1988 mit einer Ansprache des Altkanzlers Helmut Schmidt von der Kanzel der Rostocker Marienkirche.
In der Revolution von 1989 schloss sich Gauck dem Neuen Forum an und wurde 1990 als Abgeordneter in die Volkskammer gewählt. Er engagierte sich speziell bei Fragen der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit. So stemmte er sich dagegen, dass die Unterlagen, wie es in Westdeutschland von einigen Kreisen gefordert wurde, ins Koblenzer Bundesarchiv überführt wurden.
Sozial gut integriert
Der Weg von Angela Merkel verlief völlig anders. Ihr Vater, der Pfarrer Horst Kasner, ging mit seiner Familie 1954 von Hamburg aus freiwillig in die DDR, weil dort Pfarrermangel herrschte. Er folgte damit dem ausdrücklichen Wunsch westdeutscher Kirchenleitungen, die die Kirche in der DDR stärken wollten. Kasner stand nicht in Fundamentalopposition zur SED. Vielmehr vertrat er eine Position der kritischen Loyalität gegenüber dem Regime, die auch bei westdeutschen Theologen verbreitet war.
An Stelle der Jugendweihe empfing Angela Merkel die Konfirmation, war aber Mitglied der Pionierorganisation Ernst Thälmann und der Freien Deutschen Jugend. Sie soll sozial gut integriert gewesen sein. Ihre herausragende mathematische Begabung führte sie auf den Weg der Naturwissenschaften. Erst während der Wende 1989 fing sie an, sich im „Demokratischen Aufbruch“ politisch zu engagieren. Dass ihr Weg sie dann in die CDU führte, hat manche ihrer Weggefährten überrascht, da sie bei ihr eine grössere Nähe zu den Grünen vermutet hatten.
Protestantische Tradition
In guter protestantischer Tradition ist Joachim Gauck ein Mensch, der mit der Wahrheit ringt und für den das Wort eine prinzipielle Bedeutung hat. Grundsätze sind für ihn die Basis seiner Existenz. Von diesem Fundament aus betrachtet er die Wirklichkeit distanziert, man kann auch sagen: gelassen. Das ist es, was ihm viel Sympathie einträgt und weswegen eine Mehrheit geradezu intuitiv davon überzeugt ist, dass er ein guter Bundespräsident wird. Weil er es sich mit seinen Überzeugungen nicht leicht gemacht hat, vermittelt er die Festigkeit seiner Haltung. Und er hat etwas zu sagen.
Es wäre ein Fehler, den Pragmatismus, der Angela Merkels Markenzeichen ist, als Vorwurf gegen sie zu wenden. Als Naturwissenschaftlerin und mit einer anderen Biographie stellt sie andere Fragen als Gauck. Was allerdings bei ihr irritiert, ist das, was Hans Magnus Enzensberger in anderem Zusammenhang als „Lernfähigkeit bis zum Identitätsverlust“ bezeichnet hat. Es ist eben nicht so, dass die Realität quasi von selbst die richtigen Lösungen diktiert. Es braucht den Widerstand von Überzeugungen und die Perspektiven, die sich aus dem Blick an die weiteren Horizonte ergeben. Vielleicht ergänzen sich Gauck und Merkel am Ende gar nicht so schlecht.