Es ist noch kein Jahr her, da tönte der inzwischen geschasste Wirtschaftsminister Arnault Montebourg, der eine "Made in France-Kamapgne" gestartet hatte und so tat, als könne der Staat auch heute noch Fabrikschliessungen verhindern und darniederliegende Wirtschaftszweige retten: "Unsere Atomindustrie bleibt weiter eine Zukunftsindustrie". Niemand bot ihm damals öffentlich Paroli. Viele, die es besser wussten, runzelten aber schweigend die Stirn.
Beginn der Talfahrt
Sie erinnerten sich z.B. daran, dass der Atomkonzern Areva, das stolze, angeblich von der ganzen Welt bewunderte Flaggschiff der französischen Nuklearindustrie, 2011 2,5 Milliarden Verluste eingefahren hatte, im Jahr darauf noch mal 100 Millionen und 2013 schliesslich knapp 500 Millionen. Und einige wenige wussten zudem etwas, was noch wichtiger ist: die grossen, internationalen Investoren haben die Atomindustrie schon seit einem Jahrzehnt links liegenlassen, weil sie dort keine interessanten Perspektiven mehr sehen für ihre langfristigen Investitionen. Doch in Frankreich, wo diese Atomindustrie seit über einem halben Jahrhundert ein Staat im Staat ist, sagt man so etwas nicht laut.
Schwarzer Tag
Mehr als drei Jahre lang tat man so, als habe auch Fukushima der brillanten französischen Atomindustrie nichts anhaben können, bis zum 18. November 2014, dem schwarzen Tag für Areva, das atomare Aushängeschild Frankreichs.
Der Areva-Konzern sah sich an diesem Tag gezwungen, seine bislang veröffentlichten Finanzziele für die Jahre 2015 und 2016 zu kassieren - ein bislang einmaliger Vorgang. Die Verluste allein für das erste Halbjahr 2014 lagen bereits bei knapp 700 Millionen Euro - am Jahresende werden es mehr als eine Milliarde sein. Doch damit nicht genug.
Am gleichen Tag hatte der Betreiber der 19 französischen AKWs mit insgesamt 58 Reaktoren, der Stromriese EDF, bekanntgegeben, dass sich die Inbetriebnahme des neuen, von Areva gebauten EPR-Reaktors im westfranzösischen Flamanville nochmals um ein Jahr bis 2017 verzögern wird. Die Aktie von Areva stürzte am Tag darauf um knapp 20% ab. Ursprünglich hätte dieser Prototyp des noch gemeinsam mit Siemens entwickelten Europäischen Druckwasserreaktors bereits 2012 in Betrieb gehen sollen.
In der Zwischenzeit sind die Kosten für diesen von Pannen verfolgten Reaktor von anfangs 3 Milliarden auf fast 9 Milliarden explodiert und der Eindruck verstärkt sich immer mehr, dass niemand wirklich in der Lage ist, diesen einst als Atomreaktor der neuen Generation beschrieben Koloss auch tatsächlich zu bauen. Atomkraftgegner monieren ausserdem schon seit langem, dass die Technologie des Reaktors, der Anfang der 90-er Jahre konzipiert wurde, mittlerweile schon wieder veraltet ist und auch seine Sicherheitsstandards überholt sind.
Olkiluoto
Noch schlimmer erging es Areva, dem man in den letzten 10 bis 15 Jahren eine Unzahl von strategischen Irrtümern vorwirft, beim Bau des 1. EPR-Prototypen im finischen Olkiluoto, wo sich die Lieferung des schlüsselfertigen Reaktors gar um 9 Jahre verzögert hat und dem Konzern stattliche vier Milliarden Euro Verlust eingebracht hat - als Vorzeigeobjekt, um das Modell in den nächsten 20 Jahren in die ganze Welt zu exportieren, war das eher ein Schlag ins Wasser.
Der EPR droht eine Art zweite Concorde zu werden - technologisch vielleicht genial, aber höllisch kompliziert und am Markt vorbei entwickelt und produziert. Ein Produkt, das am Ende niemand kaufen will, weil zu teuer und für die meisten Länder, die noch weiter auf Atomkraft setzen, überproportioniert. Zwei dieser Reaktoren sollen in Grossbritannien gebaut werden, zwei in China und das war es bisher.
Albtraum
Frankreichs Wirtschaftspresse sprach in den letzten Wochen angesichts der nun nicht mehr zu beschönigenden Situation des zu 87% vom französischen Staat gehaltenen Atomkonzerns, der jährlich rund 10 Milliarden Euro umsetzt, von einem „Albtraum und einem bösen Erwachen“. Laut Expertenmeinung sind zur Rettung des Konzerns mindestens 2 Milliarden Euro nötig – für Frankreichs leere Staatskassen eine Katastrophe.
Der Hauptaktionär von Areva, der französische Staat, muss sich dabei die Kritik gefallen lassen, für den Nuklearsektor im Grunde keinerlei langfristige, strategische Vision zu haben. Möglicherweise, sagen Kritiker, wird man den ebenfalls noch überwiegend staatlichen Stromkonzern EDF jetzt zwingen, Geld locker zu machen, um Areva zu retten - aber mit welchem Ziel? Mit welcher Strategie? Diese Fragen blieben unbeantwortet, sagen die Kritiker, weil im Staatsapparat überhaupt niemand wirklich darüber nachgedacht hat.
Atomenergieflaute
Schon längst hätte ausserdem stutzig machen müssen, dass Areva inzwischen seit sage und schreibe 7 Jahren weltweit keinen einzigen seiner Atomreaktoren mehr verkauft hat und 2009 in den Vereinigten Arabischen Emiraten im Wettbewerb um den Bau von gleich vier Atomreaktoren gegen den koreanischen Konkurrenten Kepco den kürzeren zog. Eine schallende Ohrfeige, ja eine regelrechte Erniedrigung für Frankreichs Atomgiganten.
Spätestens seit Fukushima ist zudem die Konjunktur für Kernenergie weltweit deutlich rückläufig und Frankreichs ehemaligem Prestigekonzern gingen potentielle Kunden in den letzten Jahren gleich reihenweise verloren: Deutschland erklärte den Atomausstieg, die USA haben auf Grund des Schiefergasbooms den Bau neuer Atomkraftwerke auf die lange Bank geschoben und auch Japan fällt als Kunde wohl weiterhin für geraume Zeit aus.
Zukunft
Frankreich ist der dominierenden Logik der Atomenergie derart stark verhaftet, dass es kaum vorstellbar ist, wie sich das Land von dieser Logik verabschieden könnte. Die gesamte Atomwirtschaft ist, wie bereits gesagt, ein echter Staat im Staat, mit einer nicht zu unterschätzenden Macht, die so weit geht, dass die Atomlobby sogar dem Umweltministerium Informationen vorenthalten kann, wenn ihr der Sinn danach steht.
Gewiss: Präsident Hollande hat versprochen, den Grundstein dafür legen zu wollen, dass der Atomstromanteil bis 2025 - also bereits in 11 Jahren - von bislang fast 80% auf 50% reduziert wird. Hollande hatte recht, als er betonte, dieser Schritt entspreche prozentual dem deutschen Atomausstieg. Schliesslich lag der Atomstromanteil im östlichen Nachbarland bei nur rund 30%.
Und doch fällt es schwer zu glauben, dass Frankreich in den nächsten 11 Jahren wirklich ein Drittel seiner 58 Atomreaktoren abschaltet. Diese wäre aber nötig, um auf die 50% zu kommen. Ja man möchte sogar die Hand dafür ins Feuer legen, dass nicht mal das einzige kurzfristige und konkrete Versprechen von Präsident Hollande gehalten wird, nämlich die zwei ältesten Reaktoren des Landes im elsässischen Fessenheim vom Netz zu nehmen. Niemand kann sich wirklich vorstellen, dass die Regierung angesichts des derzeitigen ökonomischen und sozialen Zustands des Landes dem Druck von Milliardenforderungen des Stromkonzerns EDF und des Verlustes von über 3‘000 Arbeitsplätzen im südlichen Elsass standhalten wird.
Schwanengesang
Frankreichs Atomlobby, die durch ihre Macht und ihr Gewicht dazu beigetragen hat, dass das Land in Sachen erneuerbare Energien heute um Jahre, wenn nicht Jahrzehnt hinterher hinkt, tut jedenfalls weiter so, als wäre die Nuklearindustrie ein Industriezweig der Zukunft - auch wenn Atomkraftwerke heute weltweit nur noch 10% des gesamten Stroms produzieren, gegenüber 17% noch vor 12 Jahren. Frankreichs Atomenergiesektor war jedenfalls gewaltig stolz darauf, letzten Oktober in Paris die "1. Internationale Messe für Atomenergietechnologie" (World Nuclear Ehibition) ins Leben zu rufen.
Manche fragten sich aber, ob diese dreitägige Veranstaltung letztlich nicht eine Art Schwanengesang eines langsam absterbenden Industriezweigs war.