Der gewaltsame Tod des langjährigen Präsidenten und einstigen Starken Mannes, Ali Abdullah Saleh, hat den Krieg um Jemen verschärft. Die Huthis, deren Kämpfer Ali Saleh am 4. Dezember erschossen hatten, sahen ihre Tat als Erfolg, weil sie ihren Rivalen und bisherigen Bundesgenossen, den sie nun einen Verräter nennen, entfernten, bevor er seinen angekündigten Allianzwechsel von den Huthis zu den Saudis durchführen konnte.
Bis zu seiner Erschiessung mussten die Huthis die Herrschaft über Sanaa mit den Anhängern des früheren Präsidenten teilen. Nun sehen sie sich als alleinige Herren über die ganze Hauptstadt und über die am dichtesten bewohnten Gebiete Jemens. Auf die Gefolgsleute und militärischen Anhänger des früheren Präsidenten machen sie Jagd. Zwischen tausend und dreitausend von ihnen sollen sie festgenommen haben. Unter ihnen sind zahlreiche Politiker aus der nun zusammengebrochenen Partei Ali Abdullah Salehs, die während 33 Jahren die Staatspartei Jemens war.
Flucht aus Sanaa
Auch die militärische Führung jener Teile der jemenitischen Armee, die zu dem nun erschossenen Ex-Präsidenten hielt, sass in Sanaa. Sie ist ebenfalls Ziel der Abrechnung geworden. Wer von diesem bisher an der Macht beteiligten Kern von Politikern und Offizieren fliehen konnte, ist geflohen. Derzeit wird die Ankunft von 22 Familienmitgliedern des Ex-Präsidenten in Oman gemeldet, wo sie politisches Asyl erhielten. Die Flucht gelang ihnen über Aden und den dortigen Hafen.
Andere Politiker und Offiziere trafen in Marib ein, der Wüstenstadt östlich von Sanaa, die sich in den Händen von Sympathisanten des Gegenspielers der Huthis befindet. Dieser Gegenspieler, Abdrabbo Mansour al-Hadi, hält sich aus Sicherheitsgründen im Exil in Riad auf. Einst war er der Vizepräsident des nun umgekommenen Starken Mannes. Dann wurde er 2012 mit Unterstützung der Golfstaaten und der Uno als Übergangspräsident für zwei Jahre „gewählt“. Den Begriff „wählen“ muss man in Anführungszeichen setzen, weil er damals der einzige Kandidat war. Sein Vizepräsident ist der General Muhsin al-Ahmar, den er beauftragt hat, den Krieg gegen die Huthis zu führen.
Erneute Offensive gegen Sanaa
Unmittelbar nach der Erschiessung des früheren Präsidenten gab al-Hadi seinem Vizepräsidenten den Befehl, vom Osten her zum Angriff auf Sanaa vorzugehen. Dieser Vormarsch war schon im vergangenen Frühling versucht worden, doch er war in den Bergen zwischen Sanaa und Marib stecken geblieben. Nun wurden neue Regimente eingesetzt, die in Saudi Arabien und in der östlichen Wüste ausgehoben und ausgebildet worden waren.
Die pro-saudischen Propaganda-Organe, als welche man die dortigen Zeitungen ansehen muss, behaupten, dieser Vorstoss sei nun bis auf zehn Kilometer von Sanaa vorgedrungen und nur noch ebenes Land trenne ihn von der Hauptstadt. Doch unabhängige Bestätigungen dieser Aussagen gibt es nicht. Man muss in Rechnung stellen, dass es gegenwärtig für die Gegner der Huthis sehr wichtig ist, Erfolge aufzuweisen oder mindestens zu melden, weil dies jene Teile der jemenitischen Streitkräfte beeinflussen kann, die bisher zu Ali Saleh Abdullah hielten und die nun führerlos im Krieg stehen.
Armee im Gestrüpp der Beziehungen
Die verwaisten Armee-Einheiten müssen sich entschliessen, auf welcher Seite sie weiterkämpfen wollen. Sollen sie ihren Krieg als Verbündete der Huthis fortsetzen, die ihnen Amnestie zugesagt haben? Oder sollen sie den letzten Allianzwechsel vollziehen, zu dem ihr Chef Anfang Dezember in Sanaa angesetzt hatte und über dem er sein Leben verlor? Wenn sie das zweite tun, können sie für ihn Rache nehmen. Dann aber müssten sie sich dem General Muhsin al-Ahmar unterstellen. Dieser war seit 2011 ihr erbitterter Gegner, als er mit seinen Anhängern in der Armee dem damaligen Präsidenten den Gehorsam verweigerte und sich auf die Seite der Demonstranten in Sanaa schlug, die Ali Abdullah Saleh zu Fall bringen wollten – und dies auch schliesslich erreichten.
Die gegenwärtig führerlosen Armeeteile haben auch eine dritte Möglichkeit. Sie können sich dem bei ihnen beliebten Sohn des Ex-Präsidenten anschliessen. Dies ist der General Ahmed Ali Saleh Abdullah, der bis 2012 die Präsidialgarde kommandierte, den damals bestausgebildeten und – von den Amerikanern – ausgerüsteten Teil der jemenitischen Armee. General Ahmed hat angekündigt, er werde für seinen Vater Rache nehmen und „Iran“ den Meister zeigen. Iran gilt den Saudis und ihren Freunden als die feindliche Macht, die hinter den Huthis steht.
General Ahmed jedoch befand sich bisher in den Arabischen Emiraten, dem Vernehmen nach seit 2015 unter einer milden Form von Hausarrest. 2015 begann die saudische Koalition ihren Luftkrieg gegen die Huthis. Zuvor war General Ahmed von al-Hadi als Botschafter Jemens nach Abu Dhabi, der Hauptstad der Emirate, entsandt worden, um ihn aus Sanaa zu entfernen. Ob er sich noch in Abu Dhabi befinde oder ob er nun nach Jemen zurückgekehrt sei, wurde nicht bekanntgegeben.
General Ahmed Ali Saleh Abdullah zählt im Zeichen der Rache für seinen Vater nun neuerdings zu den Feinden der Huthis. Er rivalisiert mit General und Vizepräsident Muhsin al-Ahmar, der den Oberbefehl über die in Jemen gegen die Huthis kämpfenden Truppen al-Hadis und der Saudis führt. Die Feindschaft rührt daher, dass General Muhsin al-Ahmar einst ein enger Mitarbeiter und Gefolgsmann des Präsidenten Ali Saleh Abdullah gewesen war, dann aber zurückgestellt wurde. Er hatte dem Sohn des damaligen Präsidenten Ahmed zu weichen, der Offizier wurde und den Befehl über die Elitetruppen der Präsidialgarde übernahm. Diese Zurückstellung war einer der Gründe, die General Muhsin al-Ahmar dazu bewogen, sich 2011 mit den ihm anhängenden Truppenteilen gegen den Präsidenten zu erheben und für die Demonstranten Partei zu ergreifen.
Neue Offensive gegen Hodeida
Im Gefolge des Allianzwechsels und des Todes des bisherigen Ex-Präsidenten ist eine zweite Front reaktiviert worden. Es geht um den im vergangenen Sommer begonnenen, aber dann ebenfalls festgefahrenen Vormarsch aus dem Süden des Landes der Rotmeer-Küste entlang auf den Hafen Hodeida. Von diesem grössten Hafen des Landes hängt die Ernährung der Millionenstadt Sanaa ab.
In den südlichen Landesteilen mit der Hauptstadt Aden dominieren Truppen und Söldner, die im Dienst der Arabischen Emirate stehen. Diese sind der aktivste der arabischen Verbündeten in der saudischen Koalition. Der Vorstoss Richtung Hodeida wird von ihnen unterstützt, wenn nicht sogar angeführt. Zu den Truppen, die bisher gegen den Vorstoss kämpften, gehörten Pro-Saleh-Armeeteile, die bis zum Dezember auf Seiten der Huthis standen. Gegenwärtig müssen auch sie entscheiden, auf welcher Seite sie weiterkämpfen. Der Umstand, dass ihre bisherige Führung in Sanaa ausgeschaltet ist, macht diese Entscheidung schwer voraussehbar. Die bisher Geführten müssen improvisieren. Der Widerstand, den die Huthi-Seite bisher gegen den Vormarsch auf Hodeida hatte leisten können, wird dadurch geschwächt.
Auch von dieser Front kommen nun Erfolgsmeldungen der Huthi-Gegner. Auch dort ist jedoch ungewiss, inwieweit es sich um Propaganda handelt und inwieweit um Realität. Auch dort haben Erfolgsmeldungen ein besonderes Gewicht, weil sie Entscheidungen der verwaisten Truppenteile beeinflussen können.
Die Positionen, welche die Truppen einnehmen, haben auch eine Wirkung auf die in Jemen immer bewaffneten Stämme; der frühere Präsident verfügte über ein ausgedehntes Netzwerk von Stammesbeziehungen.
Rehabilitierung der Muslimbrüder
Bisher hatte es Spannungen zwischen al-Hadi und den Emiraten gegeben. Sie drehten sich um „Islah“, die politische Partei der Muslimbrüder. Al-Hadi, und besonders sein Vizepräsident, General al-Ahmar, sehen die Islah-Partei als wichtige Stütze für ihre Seite.
Die Anhänger der Muslimbrüder sind politisch aktive Sunniten und als solche natürliche Feinde der Huthis, die ihnen als Sektierer gelten. Doch den Behörden der VAE galten sie bisher als gefährliche Feinde. Die Geheimdienste von Abu Dhabi glauben, die Muslimbrüder hätten versucht, einen Putsch gegen die dortige Regierung durchzuführen.
Den Saudis und den Gefolgsleuten al-Hadis scheint es nun gelungen zu sein, eine Versöhnung zwischen Islah und den VAE einzuleiten. Die Führung von Islah wurde von den beiden befreundeten Kronprinzen, MBS und MBZ – Muhammed bin Salman von Saudi-Arabien und Muhammed bin Zeid von Abu Dhabi – gemeinsam in Riad empfangen und unterstrich ihren Willen, mit beiden Mächten gegen die Huthis zusammenzuarbeiten. Dies ist von Bedeutung, weil Islah in der Lage ist, den Anti-Huthi-Kräften neue Mannschaften und auch eigene Stammesverbindungen zuzuführen.
Intensivierte Bombenangriffe
Auch der dritte Arm des Krieges gegen die Huthis wurde intensiviert. Dies ist der Bombenkrieg, den die Saudis mit modernstem amerikanischem und britischem Kriegsmaterial, das sie teuer bezahlen, gegen die Huthis führen. Mit seiner Intensivierung hat auch die Zahl der zivilen Bombenopfer stark zugenommen. 109 Todesopfer, darunter Frauen und Kinder, wurden in der vergangenen Woche gemeldet, davon 64 allein am vergangenen Donnerstag, dem 28. Dezember. Die Amerikaner und sogar Trump persönlich haben die Saudis ermahnt, vorsichtiger vorzugehen. Amerikanische Spezialisten wirken bei der Bestimmung der Ziele für die Einsätze über Jemen mit. Doch offenbar werden nicht immer nur diese Ziele getroffen.
Die Amerikaner ermahnten ihre saudischen Kunden und Beinahe-Bundesgenossen, humanitäre Hilfe für die hungernden Millionen von Jemeniten zuzulassen. Diese erklärten darauf, sie hätten ihre Sperren für Hilfsgüter aufgehoben. In der Tat wurden Hilfssendungen aus dem Ausland tropfenweise wieder zugelassen. Doch für kommerzielle Lieferungen von Mehl, Brennstoff und Medizin, auf die Jemen in grossen Mengen angewiesen ist, bestehen weiterhin Sperren unter dem Vorwand, dass die vermuteten Waffenlieferungen aus Iran an die Huthis unterbunden werden müssten. Auch der Fischfang im Roten Meer wird aus diesen Gründen von Kriegsschiffen und Helikoptern der saudischen Koalition verhindert
Die Hungerwaffe der Saudis
In Wirklichkeit geht es nicht nur um die angeblichen Waffen, sondern auch – wenn nicht vor allem – darum, die jemenitische Bevölkerung gegen die Huthi-Herrschaft aufzubringen, die gegenwärtig alleine für die Verwaltung und das Wohl oder Wehe der grössten Teile der jemenitischen Bevölkerung zuständig ist. Dieser geht es sehr schlecht.
Die Staatsangestellten werden, teilweise schon seit einem Jahr, nicht mehr entlohnt, weil das staatliche Geldwesen ins Chaos geraten ist, seitdem die Zentralbank Jemens von Sanaa nach Aden transferiert wurde, aber dort nie funktionsfähig geworden ist. Seither bewirtschaften die privaten Geldwechsler den jemenitischen Rial, der beständig an Wert verliert. Die Huthi-Saleh-Regierung in Sanaa hatte, bevor sie auseinanderbrach, neue Geldscheine in Russland drucken lassen, und die Saudis versuchten zu verhindern, dass diese nach Jemen transportiert würden.
Dazu kommen, nun schon seit zweieinhalb Jahren, die Bomben auf Häuser, Bauernhöfe und Lastwagentransporte. Nachdem mehr als die Hälfte der staatlichen Kliniken ausgebombt worden ist und überall die Medikamente fehlen, sind Cholera und neuerdings auch Typhus ausgebrochen. In den noch funktionierenden Kliniken arbeiten Ärzte, Krankenschwestern und Krankenpfleger umsonst und in der Hoffnung auf künftige Zahlungen des Staates. Die erhofften Löhne würden ihnen dazu dienen, ihre Schulden bei den Lebensmittelhändlern zu begleichen – falls sie solche überhaupt noch machen können.
Auch die Lehrer wurden seit langem nicht mehr bezahlt, und die meisten Schulen sind geschlossen. Sauberes Trinkwasser fehlt in vielen Städten. Die Elektrizität fällt oft aus. Wohnhäuser, Schulen, Fabriken und landwirtschaftliche Unternehmen werden zerbombt. Es gibt Gewinner der Kriegswirtschaft, die reich werden, indem sie den Mangel bewirtschaften und die Preise für Mangelware nach Belieben festlegen.
Wer ist schuld am Leid der Bevölkerung?
Die Bevölkerung ist geteilt in Parteigänger der Huthis, welche die Bomben der saudischen Koalition für die bestehenden Zustände verantwortlich machen, und in Feinde der Huthis, die der Ansicht sind, die Huthis seien letztlich für das gegenwärtige Elend verantwortlich.
Die Trennungslinie zwischen den beiden Sektoren ist zunehmend durch die Zugehörigkeit zur zaiditischen Glaubensrichtung beziehungsweise zum sunnitischen Islam gegeben. Etwa die halbe Bevölkerung von Sanaa und maximal ein Drittel der Gesamtbevölkerung Jemens gehören mit den Huthis dem Zaidismus an. Dieser ist ein gesonderter Zweig des Schiismus, der dem Sunnismus bedeutend näher steht als der iranische Zwölfer-Schiismus. Auch der erschossene Präsident Ali Abdullah Saleh und mit ihm sein Sohn Ahmed gehören dem Zaidismus an. Doch zur Zeit des Präsidenten wogen die Unterschiede zwischen den beiden Konfessionen weniger schwer.
Die Huthi-Bewegung, die 2004 als politische Kraft in Erscheinung trat, war ursprünglich ein Versuch zur Wiederbelebung des Zaidismus in Nordjemen mit der Hauptstadt Saada – sie ist heute gründlich zerstört. Dieser Wiederbelebungsversuch war eine Reaktion auf das wachsende Gewicht der wahhabitischen Variante des Sunnismus, die aus Saudi-Arabien von jenseits der jemenitischen Nordgrenze eindrang.
Solange die Allianz zwischen den Huthis und dem Ex-Präsidenten bestand, wurden die Huthis mehr für den Krieg zuständig gesehen, und die alterfahrenen Politiker der Partei des früheren Präsidenten mehr für die Verwaltung . Beide trugen gemeinsam Verantwortung für die herrschenden Zustände. Doch nun regieren die Huthis alleine. Die wachsenden Missstände im täglichen Leben der Bevölkerung werden daher einerseits den Bomben der Saudis angelastet, andrerseits aber auch der Unfähigkeit der Huthis, die Verwaltung des Landes auch nur einigermassen aufrechtzuerhalten.
Wird die Bevölkerung aufbegehren?
Ein Grund für die Fortsetzung des wirtschaftlichen Drucks auf Jemen durch die saudische Koalition ist gewiss die Hoffnung Riads, dass die Bevölkerung sich schlussendlich gegen die Huthis erheben könnte. Die meisten Beobachter, die sich noch aus Sanaa melden, scheinen der Ansicht zu sein, dass die Beliebtheit der Huthis angesichts der gegenwärtigen Notlage abnehme.
Beobachter vor Ort sagen auch ziemlich einstimmig, dass der Konflikt mit militärischen Mitteln nicht zu lösen sei. Sogar wenn es al-Hadi und dessen Feldherrn, al-Ahmar, gelingen sollte, Sanaa zurückzuerobern, müssten sie damit rechnen, dass die Huthis den Krieg als Guerilla fortsetzen, wie sie ihn schon zuvor gute sechs Jahre lang, 2004–2011, gegen den jemenitischen Staat des damaligen Präsidenten geführt hatten.
Die Last, den zerbrochenen Staat zu reparieren, würde dann auf die heimgekehrten Eroberer der Hauptstadt fallen, sei dies al-Hadi, sei es General Ahmed Ali Abdullah Saleh. Der Wiederaufbau würde die Saudis viel Geld kosten, falls er denn überhaupt in Gang kommt. Und Geld droht in den nächsten Jahrzehnten – wegen dem niedrigen Erdölpreis und den grossen Plänen des Kronprinzen MBS – sogar in Saudi-Arabien eine knappe Kommodität zu werden.