In Libyen wird das Chaos andauern oder noch schlimmer werden, solange dort zahlreiche bewaffnete Banden die wirkliche Macht ausüben. Das blosse Umformen von Regierungen und Parlamenten nützt nichts. Dies, weil die Bewaffneten in der Lage sind, diesen „Parlamenten“ und „Regierungen“ ihren Willen aufzuzwingen. Zudem halten sich die Milizen immer weniger zurück, dies auch zu tun. Das Land braucht einen starken Arm, der fähig ist, die Milizen zu entwaffnen. Feldmarschall Haftar bietet sich dazu an. Doch er geht offensichtlich darauf aus, Libyen autoritär, als Alleinherrscher, zu regieren. Eine andere Lösung für Libyen ist nicht zu erkennen.
Die libysche Politik dreht sich im Kreise und beisst sich in den eigenen Schwanz. Nach dem Sturz Ghadhafis gab es Wahlen. Ein Parlament wurde gewählt und eine Regierung ernannt. Doch beides funktionierte nicht, weil es bewaffnete Gruppen gab, die sich weigerten, ihre Waffen niederzulegen. Sie wollten weiter „Revolution“ machen. In der Praxis bedeutete das, dass sie zerstritten waren, aber manchmal zusammenfanden. Grössere oder kleinere Zusammenschlüsse entstanden. Sie versuchten, den Parlamenten und Regierungen ihren Willen aufzuzwingen. Dies gelang ihnen, weil sie bewaffnet waren und ab und zu auch von ihren Waffen Gebrauch machten.
Den Parlamentariern und den von ihnen ernannten Regierungen stellten sie sich entgegen, sobald diese sich anschickten, das Gewaltmonopol der Bewaffneten anzutasten. Einige von ihnen zeigten sich bereit, ihre Macht der Regierung zur Verfügung zu stellen, gegen Entlohnung natürlich und unter Bedingungen, die sie festlegten. Die Anführer dieser Milizen behielten stets die Verfügungsgewalt über „ihre“ Bewaffneten. Im Verlaufe der Wirren und der Machtkämpfe der Nach-Ghadhafi-Ära hat die Zahl der Milizen und Waffenträger immer weiter zugenommen.
Westliche Verantwortung
Rückblickend lässt sich erkennen, dass die heutige Lage Libyens durch die besondere Natur des Kriegs gegen Ghadhafi und seine Anhänger entstanden war. Dieser Krieg wurde von „Milizen“ geführt, die unter dem Schutzschild der Luftwaffen der westlichen Staaten operierten. Ohne diesen Schild wären die Feinde Ghadhafis entweder untergegangen oder sie hätten sich zu einer geordneten Struktur durchringen müssen, in der es eine Führung für alle gab, die den Widerstand lenkte und die Verantwortung für ihn trug.
Diese Führung wäre dann, im Fall eines Sieges über Ghadhafi, eine Machtstruktur gewesen, die das Land beherrscht hätte und in der Lage gewesen wäre, seine Zukunft zu bestimmen. Doch der Krieg gegen Ghadhafi lief nicht so ab. Es waren die ausländischen Luftwaffen, die seinen Verlauf und Ausgang bestimmten. Im Schutz der Nato-Bomber konnten die zahlreichen Gruppen des libyschen Widerstandes als Einzelgruppen parallel und unkoordiniert operieren.
2000 Milizen
Nach dem Sturz Ghadhafis und der Auflösung seiner Truppen zogen die ausländischen Kampfflugzeuge ab. Übrig blieben die zahlreichen Milizen, eine jede mit ihrem eigenen Chef. Da das Milizwesen eine der wenigen Beschäftigungen war, die junge Leute ergreifen konnten, nahm die Zahl der bewaffneten Gruppen auch nach dem Sieg über Ghadhafi weiter zu. Man schätzt, dass es heute zwischen 1700 und 2000 solch bewaffneter Gruppen gibt. Manche fanden wegen ideologischer Gemeinsamkeiten, wegen lokaler Gegebenheiten oder wegen Stammesverwandtschaften zusammen. Vielen war es gelungen, während des Sturzes Ghadhafis viel Kriegsmaterial aus den grossen Beständen der Ghadhafi-Armee zu erbeuten.
Die Milizen brauchten einige Zeit, um zu erkennen, wie mächtig sie waren. Zunächst wurde gewählt, und eine provisorische Regierung ging aus den Wahlen hervor. Wenn diese etwas unternahm, das den Milizen, die in Tripolis das Sagen hatten, missfiel, gingen Milizionäre gegen einzelne Ministerien oder das Parlament vor. Da ihr eine eigene Armee fehlte, schloss die Regierung Bündnisse mit verschiedenen Milizen, um sich zu schützen. Doch diesen wurde allmählich klar, dass sie es waren, die die wirkliche Macht innehatten.
Die „Morgenröte“
Natürlich kam es auch zu Rivalitäten unter den verschiedenen bewaffneten Gruppen. Mehrere von ihnen konnten sich verbünden, um andere auszuschalten. Ein solcher Milizenkrieg brach in der Hauptstadt Tripolis aus. Im August 2014 bekämpfte eine Allianz, die sich „Libysche Morgenröte“ nannte, die „Zintan“-Milizen aus der Berberregion von Zintan im libyschen Westen, nah an der tunesischen Grenze. Die Berberkämpfer waren nach der Hauptstadt gezogen und hatten dort den Flughafen besetzt.
„Libya Down“, die „Morgenröte“, war eine Kombination der Milizen der Nachbarstadt Misrata, die östlich von Tripolis an der Küste von Tripolitanien liegt. Die Hafen- und Handelsstadt Misrata war die einzige Stadt in Tripolitanien gewesen, die den Militärs Ghadhafis Widerstand geleistet hatte. Ihr damaliger Verzweiflungskampf hatte sie gezwungen, relativ vereinigte und disziplinierte Verteidigungstruppen zu bilden. Die Strassenkämpfe innerhalb Misratas hatten in den ersten Wochen des Aprils 2011 ihren Höhepunkt erreicht. In der Zeit nach Ghadhafi wurden die Misrata-Milizen einflussreich auch in der Nachbarstadt Tripolis. Sie bildeten den gewichtigsten Bestandteil der „Morgenröte“. Die Allianz von Tripolis vermochte nach längeren Kämpfen, in denen der Flughafen völlig zerstört und ausländische Botschafter aus der Hauptstadt vertrieben wurden, der Zintan-Milizen Heer zu werden. Diese zogen ab in ihre Heimatgebiete, in die Berber-Berge an der Westgrenze.
Plötzlich gibt es zwei Parlamente
Im gleichen Jahr und fast gleichzeitig mit diesen Kämpfen um den Flughafen von Tripolis, im Juni 2014, wurden Neuwahlen in Libyen durchgeführt. Von ihnen erhofft man sich, dass sie das Chaos beenden könnten. Ein solches war entstanden, weil die Milizen mit bewaffnetem Druck zunehmend ihre Anliegen und Wünsche durchsetzten. Die Abgeordneten und die Minister waren machtlos.
Doch diese zweiten Wahlen brachten das Gegenteil. Die Wahlbeteiligung betrug nur 18 Prozent. Nur wenige islamistisch ausgerichtete Kandidaten wurden gewählt, etwa 30 unter 200 Abgeordneten. Das Gewicht der pro-islamistischen Waffenträger in Tripolis war bedeutend grösser als die islamistische Minorität unter den neu Gewählten. Was dazu führte, dass in Tripolis die Wahlen als ungültig erklärt wurden. Das aufgelöste bisherige Parlament trat wieder zusammen und erhob den Anspruch, unter dem Namen, „General National Congress“ (GNC) weiter zu regieren. Das neu gewählte Parlament sah sich in der Hauptstadt bedroht und entschloss sich, Tripolis zu verlassen und in die Cyrenaika umzuziehen.
International anerkannte Tobruk-Regierung
Auch dort, in Bengasi, der Hauptstadt der Cyrenaika, herrschte Unruhe. Bewaffnete Islamisten hatten sich erhoben, nachdem ihnen General Haftar den Krieg erklärt hatte. Haftar ist der selbsternannte Chef eines Feldzugs gegen alle Islamisten. Seinen Kampf nennt er „Aktion Würde“. Schliesslich fand das neugewählte Parlament Zuflucht am östlichsten Rande Libyens, in der Stadt Tobruk. Ein Schiff musste gemietet werden, um Wohnraum für die neu zugewanderten Abgeordneten und ihre Beamten zu finden.
Das neue Parlament erhielt die Anerkennung der Uno und der internationalen Gemeinschaft. Das war wichtig für Libyen, weil das Geld, das aus dem Ausland für das Erdöl bezahlt wurde, an die Zentralbank ging. Diese hing ihrerseits von der Regierung ab, die international anerkannt war. Allerdings befand sich diese Zentralbank in Tripolis, dem Machtbereich des nicht international anerkannten Gegenparlamentes und seiner Regierung. Dort befand sich auch das Oberste Gericht des Landes, das im November beschloss, die Tobruk-Regierung sei illegal. Was diese mit der Begründung ablehnte, der Gerichtsbeschluss sei unter dem Druck der „Morgenröte“-Milizen zustande gekommen. Die Ölgelder, soweit sie noch flossen, gingen an die Zentralbank, und diese verteilte sie jetzt an beide Regierungen. Die Regierungen wiederum finanzierten „ihre“ Milizen. Doch diese stellten informelle bewaffnete Mächte dar, die ihrerseits „ihre“ Regierungen dominierten.
Die Uno vermittelt, die Milizen regieren
Die internationale Gemeinschaft, die durch ihre Luftangriffe mitgeholfen hatte, dieses Chaos zu veranstalten, wälzte ihre Verantwortung ab auf die Uno. Diese hatte ein Waffenembargo gegen das Libyen Ghadhafis beschlossen und hielt es nach seinem Sturz aufrecht, und zwar mit der Begründung, dass jetzt die Milizen ein Chaos angerichtet hätten. Die Uno entsandte auch eine Hilfs- und Vermittlungsdelegation, die UNSMIL (für „UN Support Mission for Libya“) nach Libyen. Auch ein Sondervertreter des Generalsekretärs der Uno (SRSG) wurde ernannte und sollte zwischen den verschiedenen Parteien vermitteln.
Die Uno, selbst eine Versammlung von Vertretern von Nationalstaaten, dachte und handelte im Rahmen von nationalstaatlichen Begriffen. Für sie war es selbstverständlich und unvermeidlich, dass der Nationalstaat Libyen, der auseinandergebrochen war, wiederhergestellt werden müsse. Ebenso selbstverständlich erschien es den Uno-Politikern, dass dies ein demokratischer Staat werden solle, obwohl natürlich viele der Mitgliederstaaten dieser Staatenversammlung selbst blosse Scheindemokratien sind.
Schwierige Gespräche mit den Milizen
Für die gewiss wohlmeinenden internationalen Vermittler waren die beiden rivalisierenden Regierungen die gegebene Gesprächspartner. Die Uno-Funktionäre wussten, dass auch die Milizen, ja die Milizen in entscheidendem Masse, den Gang der Ereignisse bestimmten. Doch mit ihnen zu sprechen war schwierig. Sie waren nach Uno-Begriffen „illegitim“. Sie waren ausserdem wandelbar und vielfältig, so dass man nie wissen konnte, ob man mit wirklichen Machthabern sprach oder bloss mit einem selbsternannten Gesprächspartner verhandelte, der wenig oder keinerlei wirkliche Macht ausübte. Die Zahl der Milizen war so gross, dass es aussichtslos war, sie alle in Verhandlungen einzubeziehen. Dennoch, so wussten es auch die Vermittler, stellten sie die wirkliche Macht dar, die den Gang der Ereignisse bestimmten.
In Tripolitanien herrschte die Milizenkoalition der „Morgenröte“. Ihre wichtigsten Komponenten waren einige den Muslimbrüdern nahestehende Kampfverbände und jene der Stadt Misrata. Über die internationalen Beziehungen der Muslimbrüder erhielt der „Morgenröte“-Verband Unterstützung aus der Türkei und aus Katar. Beide Staaten waren auch in Syrien auf Seiten der islamistischen Gruppen engagiert, die ein islamisch gefärbtes demokratisches Regime anstrebten.
Haftars Aufstieg
Auf der Gegenseite hatte sich um den früheren General Ghadhafis, Khalifa Haftar, eine Gegenmacht gebildet. Haftar, Jahrgang 1943, war schon am Militärputsch Ghadhafis beteiligt. Er war unter Ghadhafi zum Generalstabschef der libyschen Armee aufgestiegen. 1987 führte Ghadhafi Krieg gegen den Tschad. Dabei wurden mehrere hundert libysche Soldaten gefangengenommen, auch Haftar. Ghadhafi liess Haftar fallen und erklärte, er habe nichts mit ihm zu tun. Haftar blieb in Gefangenschaft. Schliesslich holte ihn die CIA aus dem Tschad heraus. Er lebte fast 20 Jahre lang in den USA und erhielt die amerikanische Bürgerschaft. In Libyen war er zum Tode verurteilt worden. Mindestens einige Jahre lang stand Haftar im Dienst der CIA.
2011 kehrte er nach Libyen zurück und unterstützte den Aufstand gegen Ghadhafi. Er wurde Kommandant der Bodentruppen der regulären Armee, die sich gegen den Diktator erhob. Damit war er nach dem Oberkommandanten und dem Generalstabschef der dritte Mann in der Hierarchie dieser regulären Armee. Sie bestand aus Einheiten der libyschen Armee, die in der Cyrenaika stationiert waren und meist auch aus ihr stammten. Sie galten als sekundäre Truppen unter Ghadhafi.
Die viel besser ausgerüsteten Eliteeinheiten standen in Tripolis und hielten zu Ghadhafi und seiner Familie. Die in der Cyrenaika zurückgebliebenen Einheiten waren zu den Aufständischen übergegangen. Ihre Truppen wurden ergänzt durch Stammesleute und andere Kämpfer, die sich ihnen anschlossen. Nach dem Sturz Ghadhafis wurde Haftar Kommandant der offiziellen libyschen Streitkräfte. Doch diese existierten kaum mehr; sie standen im Wiederaufbau. Die Milizen mit ihren Waffen aus den geplünderten Vorräten Ghadhafis waren mächtiger als die offiziellen Streitkräfte. Die Milizen verfügten rasch über mehr Kämpfer als die Armee.
Gegen die Islamisten
Als das politische Chaos zunahm und deutlich wurde, dass die Milizen der „Morgenröte“ das Parlament und die Regierung dominierten, rief Haftar im Februar 2014 in einer Radio-Erklärung zur „Operation Würde“ auf. Er erklärte, die gewählte Versammlung sei aufgelöst, weil ihre Mandatszeit beendet war. Dann rief er auf zum Kampf gegen alle Islamisten und gegen die Muslimbrüder und ihre Mitkämpfer. Sein „Coup“ wurde damals nicht besonders ernst genommen, vielleicht weil es sich bloss um eine Erklärung handelte. Demgegenüber setzten die Milizen ihre Ziele mit Gewalt um, sie stürmten das Parlament und nahmen Minister gefangen.
Doch Haftar konnte mit einigen neu errichteten und den übriggebliebenen Armeeeinheiten rechnen, darunter die sogenannten Saiqa-Sturmtruppen. Auch die Überreste der libyschen Luftwaffe hielten zu ihm. Er konnte auch überall im Land Menschen und Gruppen, die bereit waren, gegen die Islamisten zu kämpfen, um sich sammeln. Seine Armee nannte Haftar die „Libysche Nationale Armee“ (LNA), obwohl auch sie aus vielen Bestandteilen zusammengestückelt war. Immerhin besass sie eine Gesamtstruktur, die unter einem Generalstab und einem einzigen Oberkommandanten, Haftar selbst, stand. Die Zintan-Milizen verbündeten sich mit Haftar. Sie stehen heute noch zu ihm. Sie sind im äussersten Westen des Landes stationiert, während Haftar seine Macht im Osten festigen konnte.
Wahlen sollten das Chaos beenden
Im Juni 2014 löste das Parlament von Tripolis sich selbst auf und setzte Neuwahlen an. Regierung und Parlament hofften, dadurch ihre Stellung festigen zu können. Doch das Resultat dieser Wahlen war, wie oben erwähnt, die Entstehung von zwei Parlamenten und zwei Regierungen. Während jene von Tripolis im Schutz und Schatten der „Morgenröte“ Miliz-Allianz standen, machte die Versammlung und Regierung von Tobruk die LNA Haftars zu „ihrer“ Armee mit dem gleichen Resultat wie in Tripolis: die Bewaffneten gaben den Ton an, die Parlamentarier gehorchten.
Bereits im Mai 2014 hatte Haftar im Rahmen seiner „Operation Würde“ begonnen, die islamistischen Gruppierungen zu bekämpfen, die in Bengasi, der Hauptstadt der Cyrenaika, das Sagen hatten. Dies wurde ein zäher Krieg, der zwei Jahre lang dauerte. Auch in Derna, der Hafenstadt östlich von Bengasi, hatten sich Islamisten festgesetzt. Haftar belagerte die Stadt. Seine Verbände kamen nur langsam voran. Sie selbst erklärten dies mit dem Umstand, dass ihre Gegner über See Unterstützung aus Tripolis erhielten. Tripolis seinerseits wurde von der Türkei und Katar unterstützt.
Haftar allerdings suchte Hilfe in Ägypten und bei den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE). Beides sind ausgesprochene Feinde aller Spielarten von Islamismus. Haftar, der später in Tobruk zum Feldmarschall befördert wurde, suchte auch gute Beziehungen zu Russland aufzubauen. Er klagte über das Waffenembargo, das es seinen Freunden verbiete, ihm mit Waffenlieferungen zu Hilfe zu kommen. Den Kampf gegen die IS-Anhänger, die sich in Sirte, der Heimatstadt Ghaddafis, konzentrierten, überliess Haftar den Misrata-Milizen, die ihn zuerst ohne grossen Erfolg vom Westen her führten. Die Stadt, im mittleren Sektor der libyschen Küste, befand sich ausserhalb des Machtbereiches der LNA.
Ringen um die Erdölexporte
Die fünf Ladehäfen für Erdöl, die östlich in der Stadt Sirte liegen, waren in die Hand von Ibrahim Jadhran und seiner bewaffneten „Öl-Wächter“ (Petroleum Guards) geraten. Jadhran hatte zu den Kämpfern gegen Ghadhafi gehört. Er war zum Chef dieser bewaffneten Wächtergruppierung ernannt worden und befehligte zeitweise bis zu 17’500 Mann. Er kämpfte für die Autonomie der Cyrenaika.
Die Regierung von Tripolis bezichtigte er der Korruption und sperrte 2013 die Ausfuhr aus „seinen“ Häfen. Anfänglich wohl in der Hoffnung, Erdöl auf eigene Rechnung – oder auf jene einer autonomen Cyrenaika – verkaufen zu können. Die Amerikaner vereitelten sein Vorhaben. Sie griffen einen „seiner“ Tanker auf hoher See auf und zwangen ihn, die Ladung Erdöl zu verkaufen und den Erlös der Regierung in Tripolis zukommen zu lassen. Daraufhin sperrte Jadhran fünf Ladehäfen und verursachte dem Staat Milliardenverluste.
Haftar vertreibt Jadhran
Am 21. Mai 2016 gelang es der LAN Haftars, die fünf gesperrten Erdölhäfen zu erobern und Jadhran zu vertreiben. Haftar und „seine“ international anerkannte Tobruk-Regierung handelten eine Kompromisslösung aus, die zur Verteilung des Erlöses aus den Erdölexporten zwischen die beiden Hälften des libyschen Staates führte.
Die Nationale Erdölgesellschaft wirkte von da an auf beiden Seiten, so dass die Exporte wieder aufgenommen werden konnten. Dadurch stieg die bis dahin stark reduzierte Erdölproduktion Libyens wieder stark an, allerdings noch immer ohne das Volumen zu erreichen, das sie unter Ghadhafi erlangt hatte. Haftars Herrschaft über diese Exporthäfen, die vor 2011 etwa 70 Prozent der libyschen Produktion abgewickelt hatten, machte Haftar zum bedeutendsten aller libyschen Milizoberhäupter oder „War Lords“.
Im Dauerkrieg in Bengasi
In Bengasi brauchte Haftar drei Jahre, um die Stadt vollständig in seine Gewalt zu bekommen. Im Juni 2017 erklärte er den Sieg, nachdem seine Kampfgruppen bis in den Hafen vorgedrungen waren. Doch gab es immer noch Vorstädte, die verzweifelten Widerstand leisteten. Es waren islamistische Gruppen verschiedener ideologischer Ausrichtung und unter unterschiedlichen Führungen, die sich in der Stadt hielten. Von ihnen ist zu erwarten, dass sie nun einen Untergrundkrieg anzetteln. Der IS ist eine dieser Gruppen.
Haftar kritisierte seine Feinde in Tripolis, weil sie den Kämpfern in Bengasi halfen. Umgekehrt warf der Uno-Sicherheitsrat den Vereinigten Arabischen Emiraten vor, sie lieferten der Haftar-Armee Waffen. So würden sie das Waffenembargo für Libyen brechen. Die LNA Haftars war darauf angewiesen, Waffen von Verbündeten aus den lokalen Stämmen und anderen Gruppierungen zu erhalten, um die Stadt zu erobern. Auch die Salafisten der „Madkhali“-Richtung halfen Haftar. Dabei handelt es sich um Muslime, die zum wahren Islam zurückkehren wollen, so wie er in den Tagen des Propheten geübt worden sei. So wie dies auch alle anderen „radikalen“ Islamisten fordern. Doch sie sind mit den Islamisten des IS und verwandten Gruppen verfeindet. Sie sind der Ansicht, die wahren Muslime sollten die Autorität eines weltlichen Machthabers, des Amirs (Befehlshabers), anerkennen. Die „Madkhali“-Salafisten (nach dem Namen eines saudischen Gottesgelehrten) lehnen Wahlen ab. Der Amir ist für sie ein De-facto-Herrscher, der letztlich von Gott zu seiner Stellung auserkoren wurde. Damit kann Haftar gut leben.
Bengasi, Spielball der amerikanischen Innenpolitik
Bengasi ist in den USA berühmt und berüchtigt geworden. Am 11.September 2012 war dort die amerikanische Botschaft angegriffen worden. Botschafter Christopher Stevens wurde zusammen mit drei anderen Amerikanern getötet. Hillary Clinton, damals Aussenministerin, übernahm die Verantwortung für die Sicherheitsfehler, die damals begangen worden waren. Doch der Vorfall wurde zum politischen Spielball zwischen der Obama-Regierung und ihren Kritikern, den Republikanern. Er spielte immer noch eine Rolle im Wahlkampf zwischen Trump und Clinton.
Eine der radikalen Gruppierungen, Ansar al-Schari'a, war angeklagt worden, den Anschlag durchgeführt zu haben. Einer ihrer angeblichen Anführer war Ahmed Abu Khattala. Er hatte viele Jahre in den Gefängnissen Ghadhafis verbracht und wirkte dann beim Aufstand gegen ihn mit. Im Januar 2014 war er von den Amerikanern aus Libyen entführt worden. Er wurde auf ein Kriegsschiff gebracht, verhört, gefoltert und ohne Verteidiger im gleichen Jahr vor ein Gericht gestellt. Dieses verurteilte ihn wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Gruppe, jedoch nicht für die eigentliche Mordtat.
Suche nach einer neuen Regierung
Die Berater und Vermittler der Uno versuchten zuerst, die beiden Regierungen Libyens, jene von Tripolis und jene von Tobruk, zu einem Zusammenschluss zu bewegen. Doch dies erwies sich als unmöglich. Daraufhin versuchte Uno-Vermittler Bernardino Leòn eine neue Regierung zu bilden – eine, der beide Seiten zustimmen könnten. Verhandlungen zu diesem Zweck begannen an neutralen Orten, in Marokko und in Tunesien. Beteiligt waren neben Stammeschefs, Frauengruppen, Milizen-Chefs auch die Abgeordneten beider Parlamente sowie weitere Politiker. Die wichtigsten Gesprächspartner waren die beiden Delegationen der Regierungen von Tobruk und Tripolis. Doch die bewaffneten Gruppen wurden wegen ihrer fehlenden Legalität nicht genügend eingebunden. Dies sollte sich rächen.
Nach zahlreichen Verhandlungsrunden, die meistens im marokkanischen Skhirat geführt worden waren, wurde am 17. Dezember 2015 ein komplexer Vertrag unterzeichnet. Dieser sah die Bildung einer „Regierung der Nationalen Übereinkunft“ (GNA, für „Gouvernement of National Accord“) vor. Es war allerdings nie ganz klar, ob die Regierung von Tobruk diesem Vertragswerk tatsächlich zustimmte. Es brauchte nochmals drei Monate zäher Verhandlungen, bis Fayez al-Sarraj bereit war, als neuer Regierungschef in Tripolis einzuziehen.
Die Misrate-Miliz stützt al-Sarraj
Al-Sarraj und sieben Mitglieder seines Präsidialrates kamen am 31. März 2016 mit einem tunesischen Kriegsschiff im Militärhafen von Tripolis an. Die dortige GNC-Regierung („General National Council“) hatte ihnen verboten, auf dem Flughafen zu landen. Die Ankunft al-Sarrajs fand keinen energischen Widerstand. Er und die Mitglieder seines Rates konnten zuerst die Marinebasis und später die meisten Ministerien in der Hauptstadt in Besitz nehmen. Zwar sträubte sich die GNC-Regierung gegen seine Einsetzung. Doch das spielte keine Rolle. Entscheidend war, dass die Mehrheit der Milizen von Misrata, die in Tripolis standen, sich für al-Sarraj entschieden. Eine Minderheit von Milizen islamistischer Ideologie lehnten ihn jedoch ab.
Die GNC-Regierung von Tripolis hielt sich zunächst zurück. Später jedoch erklärte GNC-Ministerpräsident Khalil al-Ghawi, er sei der Regierungschef und befinde sich weiterhin im Amt. Das Milizenbündnis der „Morgenröte“, das aus pro-islamistischen und Misrata-Milizen bestand und das Tripolis bisher beherrscht hatte, löste sich auf.
Widerstand in Tobruk
Die Gegenregierung von Tobruk, HoR genannt, (für „House of Representatives“), schien zuerst bereit, die neue Regierung anzuerkennen – allerdings unter Vorbedingungen. Später jedoch lehnte sie sie rundweg ab – dies wahrscheinlich unter dem Einfluss von Haftar. Die Uno und die westlichen Staaten stellten sich hinter die neue Regierung. Grossbritannien, Frankreich und die USA erklärten, sie würden sie energisch unterstützen, vorausgesetzt, die beiden libyschen Parlamente würden ihr zustimmen.
Formal anerkannte die internationale Gemeinschaft weiterhin die Tobruk-Regierung. Dies sollte so lange der Fall sein, bis das Tobruk-Parlament für die GNA-Regierung stimmte und sich selbst auflöste. Dies geschah nie. Auch das Waffenembargo, so befand die Uno, könne erst aufgehoben werden, wenn der Übergang zur GNA vollständig vollzogen sei.
Feldzug gegen den IS in Sirte
Fayez al-Sarraj betonte von Anfang an, er strebe eine Versöhnung aller Libyer an. Allerdings wolle er die Kämpfer des „Islamischen Staats“, die sich in Ghadhafis Heimatstadt Sirte festgesetzt hatten, bekämpfen. Für diesen Kampf erhielt er Unterstützung der amerikanischen Luftwaffe. Am 12. Mai 2016 begann der zähe Kampf gegen die in Sirte verschanzten IS-Einheiten. Er dauerte bis zum 18. Dezember 2016. In erster Linie waren es die Misrata-Milizen, die auf Seiten der neuen Regierung standen, die gegen den IS kämpften. Sie erhielten Unterstützung von lokalen Stämmen und andern Gruppen. Britische und französische Berater und Sondertruppen halfen dabei. Die amerikanische Luftwaffe flog auf Ersuchen der GNA-Regierung 495 Einsätze gegen die IS-Jihadisten.
Vom Osten her stiessen die oben erwähnten „Petroleum-Wächter“ Jadhrans, die sich für die neue GNA-Regierung entschieden hatten, gegen den IS vor und eroberten einige der von ihm beherrschten Flecken östlich von Sirte. Die IS-Milizen kämpften zäh um jedes Haus und jedes Quartier. Selbstmordattentäter versuchten, die Angreifer aufzuhalten. Sogar Frauen, die sich als Flüchtlinge ausgaben und bei den GNA-Kämpfern um Unterschlupf baten, sprengten sich in die Luft und töteten zahlreiche reguläre Soldaten.
Die meisten IS-Kämpfer scheinen jetzt die Stadt verlassen und sich nach Süden in die Wüste abgesetzt zu haben. Nur kleine, allerdings zu allem bereite Einheiten halten in unterirdischen Gängen noch die Stellung.
Ein Erfolg gegen den IS, ohne politische Wirkung
Fayez al-Sarraj hoffte, dass der Kampf gegen den IS alle Libyer einigen würde. So glaubte er, könnte die Grundlage für eine nationale Armee geschaffen werden. Doch Haftar und seine LNA führten ihren eigenen Krieg in Bengasi und Derna. Haftar benützte den Krieg seiner Rivalen gegen Sirte, um Jadhran, der die Erdölhäfen beherrschte, zu überfallen. Jadhran hatte sich für die GNA-Regierung entschieden und einige Ortschaften östlich von Sirte vom IS zurückgewonnen. Zwar wurde Sirte nach zerstörerischen Kämpfen vom IS befreit. Ein Zusammenschluss der libyschen Milizen und Streitkräfte unter der neuen GNA-Regierung fand jedoch nicht statt.
In der Folge unternahm der Vertreter des Uno-Generalsekretärs, Martin Kobler, zahlreiche Versuche, Haftar und „seine“ Tobruk-Regierung unter Ministerpräsident Abdullah al-Thani dazu zu bewegen, die GNA-Regierung al-Sarrajs anzuerkennen. Die westlichen Staaten zögerten, sich voll hinter den GNA-Chef zu stellen, solange das Tobruk-Parlament ihm die Anerkennung verweigerte. Dieses galt nach wie vor als das international anerkannte libysche Parlament.
Unterstützung aus Ägypten
Französische und britische Berater und Sondertruppen arbeiteten nicht nur in Sirte mit der GNA-Regierung zusammen. Auch im Hauptquartier von Haftar waren sie tätig. Obwohl sie „offiziell“ auf der Seite der al-Sarraj-Rgierung in Tripolis standen, unterstützten sie „inoffiziell“ Haftar im Kampf um Bengasi. Haftar fand auch Rückhalt beim ägyptischen Präsidenten al-Sisi und bei den Vereinigten Arabischen Emiraten. Beide unterstützten ihn immer wieder mit Einsätzen ihrer Luftwaffen. Die Russen versprachen ihm Waffen, sobald das Waffenembargo des Sicherheitsrates aufgehoben werde. Doch vorher wollten sie sich nicht engagieren.
Haftar weigerte sich energisch, die GNA-Regierung zu unterstützen. Zu deren Auftrag und Selbstverständnis gehörte, dass ihr künftiger Armeekommandant dem zivilen Verteidigungsminister untersteht. Dies lehnte Haftar ab. Er strebte eine selbstständige Position als Armeekommandant Libyens an. Ohne Zweifel hat er die Absicht, die Macht über ganz Libyen an sich zu reissen. Auch Treffen in Kairo zwischen Haftar und Fayez al-Sarraj sowie eine von Präsident Macron arrangierte Begegnung der beiden in Paris konnte den Gegensatz nicht überwinden.
al-Sarraj oder Haftar
Der neue Vertreter des Uno-Generalsekretärs, Ghassan Salame, rang sich zur Erkenntnis durch, dass der Vertrag von Skhirat, auf dem die GNA beruhte, der Revision bedürfe. Angesichts des Widerstandes aus Tobruk sei er nicht anwendbar. Die Regierung von Fayez al-Sarraj wies zunehmend Schwächen auf. Es fehlte an Geld in den Banken, die Lebensmittelpreise stiegen rapide, die Elektrizitätsversorgung erlitt immer mehr Pannen, die Sicherheit nahm noch weiter ab.
Dementsprechend litt auch die Zustimmung zur neuen Regierung. Fayez al-Sarraj wurde nahegelegt, einen Kompromiss mit Haftar zu suchen. Die Kontakte und Gespräche liefen darauf hinaus, dass Neuwahlen in Libyen stattfinden sollten, um zwischen Haftar und al-Sarraj zu entscheiden. Der Gewinner dieser Wahlen, so hiess es nun, werde die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und der Uno erhalten. Al-Sarraj und Haftar liessen sich dazu überreden, diesem neuen Lösungsansatz zuzustimmen. Die Wahlen sollen im nächsten Jahr stattfinden. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen beiden Seiten sollen bis dahin eingestellt werden.
Man kann vermuten, dass Haftar zustimmte, weil er diese Wahlen mit allen Mitteln gewinnen will. Kürzlich erklärte er, die GNA-Regierung sei ans Ende ihrer im Vertrag von Skhirat beschlossenen zweijährigen Regierungszeit gelangt. Die GNA-Regierung antwortete darauf, ihre Regierungszeit habe noch gar nicht begonnen, weil sie von Tobruk noch immer nicht anerkannt worden sei.
Auf dem Sprung zur Macht?
Haftar fordert auch schon eine neue Zusammensetzung und einen neuen Standort für die libysche Wahlkommission, denn in Tripolis sei man ihm feindlich gesinnt. Zudem gebe es in der jetzigen Kommission zu viele Mitglieder der Moslembrüder. Ob es wirklich zu den vorgesehenen Wahlen kommen wird, ist ungewiss. Doch als gewiss muss gelten: Solange die Milizen als unabhängige bewaffnete Banden fortbestehen, werden sie auch die wahre Macht über Libyen ausüben.
Wahlen können daran nichts ändern. Das Land benötigt eine Regierung, die ein Gewaltmonopol besitzt und ausüben kann. Sollte Haftar die angekündigten Wahlen gewinnen, gleichgültig ob mit oder ohne Wahlmanipulationen, wird er bestrebt sein, sich als Armeekommandant und Machthaber über Libyen durchzusetzen. Wenn die „Wahl“ abgesagt wird, wird er wahrscheinlich erneut versuchen, sich an der Spitze seiner LNA an die Macht zu kämpfen. Er rechnet damit, dass genügend Libyer Ruhe und Sicherheit und Wohlstand wollen. Dies selbst dann, wenn der Preis dafür das Leben in einer blossen Scheindemokratie sein sollte – eine Scheindemokratie, wie sie Haftars Freund und Mentor, der ägyptische Präsident al-Sisi errichtet hat.
Keine Alternative
Ob seine Rechnung aufgehen wird, ist eine andere Frage. Gegen ihn spricht das Alter des machthungrigen 75-Jährigen – ebenso die langen Jahre, die er für den Krieg um die Einnahme von Bengasi benötigt hatte.
Einräumen muss man, dass keine andere Person oder Macht sichtbar ist, die das Bandenwesen der libyschen Milizen bewältigen könnte. Die Vorstellung, dass einsichtige libysche Politiker guten Willens auf Grund von Wahlen zusammenfinden könnten, um doch noch ein demokratisches Regime einzurichten, ist naiv. Vor allem deshalb, weil sie die Macht der Milizen und ihre wachsende Ruchlosigkeit ignorieren. Ein geordneter Staat kann in Libyen nur entstehen, wenn sich eine der vielen bewaffneten Banden gegenüber allen anderen durchsetzen kann.