Die Sicherheit und damit das Überleben Israels sei deutsche Staatsräson, ist ein Motto der deutschen Politik bis heute. Angela Merkel hatte es 2008 feierlich vor der Knesset bekräftigt. Was soll das aber bedeuten?
Die Rede davon, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei, ist keineswegs neu. Rudolf Dressler, von 2000 bis 2005 deutscher Botschafter in Israel, hat dieses Prinzip so formuliert: «Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschland, ist somit Teil unserer Staatsräson.» Im Jahr 2002 doppelte der damalige Aussenminister Joschka Fischer vor dem Deutschen Bundestag nach. Die Sicherheit Israels gehöre zur Staatsräson Deutschlands. Und Angela Merkel, überhaupt die erste Deutsche, die vor der Knesset reden durfte, bekräftigte dort die «Staatsräson» mit den Worten: «Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet.»
Das alles klingt wunderbar, aber stillschweigend werden drei ganz unterschiedliche Währungen auf den Tisch geworfen. Rudolf Dressler sprach davon, dass die gesicherte Existenz Israels im «nationalen Interesse Deutschlands» stehe. Joschka Fischer schwächte das ab, indem er sagte, Deutschland müsse die «Sicherheit Israels gewährleisten». Und Merkel sprach von der historischen Verantwortung Deutschlands, sich für» die Sicherheit Israels einzusetzen». «Nationales Interesse» bei Dressler, grosszüge «Gewährleistung» bei Fischer und «historische Verantwortung» bei Merkel.
Pflicht zu eigener Urteilsbildung
Staatsräson aber ist etwas völlig anderes als freundliche »Gewährleistung» oder «historische Verantwortung». In der politischen Literatur taucht «Staatsräson» relativ spät auf, wenn man einmal von einer etwas gedehnten Interpretation oder Vereinnahmung Machiavellis absehen will. Wenn man die komplizierten und verzweigten Diskussionen auf den Punkt bringt, so richtet sich die Staatsräson auf zwei Interessen: den Schutz der Staatsbürger, also die Verteidigung des Territoriums und der inneren Sicherheit, und die Position des Staates in der Welt konkurrierender und aggressiv auftretender Staaten. Es geht darum, Macht zu behaupten und zu erweitern. Das Recht spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Zugespitzt: «Right or wrong – my country.» Staatsräson ist im Grunde sehr simpel: Der Staat behauptet und verteidigt sich wie ein Stamm mit allen Erhaltungs- und Machtinstinkten. Staatsräson ist kein Spass.
So unscharf und ungewollt verharmlosend die Worte Fischers und Merkels sein mögen: Dass Israel deutsche Staatsräson sei, hat eine Wurzel in dem untilgbaren Verbrechen der Deutschen an den Juden. Nie, aber wirklich nie, können Deutsche unbeschwert über Juden, ihren Staat, ihre Politik und ihre Gewalt reden. Aber sie dürfen auch nicht so tun, als wäre die Politik Israels ein Thema, das unter der vermeintlichen Staatsräsonn nicht einmal im Ansatz diskutierbar wäre. Schuldbewusstsein suspendiert nicht von der Pflicht zu eigener Urteilsbildung.
Die drei deutschen Definitionen der Staatsräson im Hinblick auf Israel – die scharfe Ansage Dresslers, die schwächere Aussage Fischers und die wolkige Rede Merkels – sollten die deutsche Aussenpolitik zu einer klaren Absage führen: Israel ist keine deutsche Staatsräson. Kein Deutscher wäre damit einverstanden, wenn seine Existenz und seine Lebensumstände gleich wie die der Bürger Israels behandelt würden. Der deutsche Staat ist in erster Linie seinen Bürgern verpflichtet und erst in zweiter Linie den Interessen Israels. Und es schadet den Interessen Deutschlands, wenn Politiker aus Gründen der «Staatsräson» auf der politischen Weltbühne nicht als urteilsfähige Akteure auftreten, sondern nur als Vollzieher einer «Staatsräson» aus der Perspektive Israels, die weder in der Begründung noch in der Durchführung auch nur den mindesten Anschein einer Plausibilität für Deutschland hat. Den Interessen Israels könnte mehr gedient werden, wenn ein verlässlicher Freund wie Deutschland auch einmal die Grösse hätte, seinen Schützling in die Schranken zu weisen und die Klagen anderer zu Geltung zu bringen.