In Amerika und Europa wird darüber diskutiert, ob Terrorgruppen wie der „Islamische Staat“ und al-Qaeda «islamisch» seien oder nicht. Natürlich finden Islam-Kritiker und Islam-Feinde, es handle sich beim IS und al-Qaeda um «islamische» Gruppen. Die Muslime in ihrer überwältigenden Mehrheit sind anderer Ansicht. «Diese Leute gehören nicht zum Islam!» ist die Meinung von – wie man ausrechnen kann – 99,9999375 Prozent der 1,6 Milliarden Muslime.
Wer befindet über die Zugehörigkeit zum Islam?
Allerdings gibt es keine Instanz, welche die Autorität besitzt, mit völliger Sicherheit darüber zu entscheiden, ob eine Person oder Gruppe, die sich selbst als muslimisch bezeichnet und die einfachen Grundpflichten und Grundideen akzeptiert, die einen Muslim definieren, ausgegrenzt werden kann oder nicht. Nach der klassischen Meinung ist jeder ein Muslim, der das Glaubensbekenntnis spricht und daran glaubt.
Takfir, die Ungläubigkeitserklärung
Den Extremisten des IS und der Qaeda und ihren Gesinnungsgenossen wird zu Recht vorgeworfen, sie übten «Takfir». Das heisst, sie massten sich an, darüber zu entscheiden, wer ein Gläubiger sei und wer nicht. Dieses Urteil, so der traditionelle Islam, steht Gott zu, nicht ihnen.
Wenn man nun von islamischer Seite die islamistischen Terroristen zu Nicht-Muslimen erklärt, übt man - wie diese selbst auch - «Takfir». Ob sie sich schwerer Sünden schuldig machen, ist eine Frage. Ob sie Muslime sind oder nicht, eine andere.
Ein politischer Schritt
Es gibt im Islam keine Kirche und keine andere ihr entsprechende hierarchische Institution, welche die Vollmacht besässe, Mitglieder der Gemeinschaft der Gläubigen auszuschliessen. Es kommt allerdings vor, dass ein Staat oder Machthaber sich das Recht herausnimmt, dies zu tun, meistens nachdem er die Meinung angesehener Gelehrter beigezogen hat.
Doch auch in solchen Fällen bleibt ein Zweifel bestehen. Es könnte andere Gelehrte geben, die abweichender Meinung sind. Die gewalttätigen Islamisten, die man auch Jihadisten nennen kann, haben natürlich ihre eigenen - oftmals selbst ernannten - Gottesgelehrten, die ihre Meinungen und Aktionen rechtfertigen. Die Ausgrenzung, wenn sie stattfindet, trägt Züge politischer - nicht rein theologischer - Natur.
Es gab und gibt «Sekten»
In der Praxis hat es im Islam oftmals «Sekten» gegeben, die als solche auftraten und behandelt wurden. Manche haben Reiche gegründet und sind höchst blutig mit Mehrheitsgruppen zusammengestossen. Wobei oftmals das «Takfir» eine Rolle spielt.
Eigentlich darf kein Gläubiger einen anderen Gläubigen bekämpfen. Sie sollten sich als Brüder erkennen und verhalten. Wenn man dennoch andere Gruppen bekämpfen will oder muss, die sich auch als Muslime ansehen und bezeichnen, bietet das «Takfir», die Ungläubigkeitsbeschuldigung, einen glaubwürdig erscheinenden Weg oder Vorwand, um gegen sie vorzugehen.
Krieg im Namen des Glaubens
Schon sehr früh in der Geschichte des Islams hat es polito-religiöse Spaltungen gegeben, die bewirkten, dass muslimische Heere aufeinander stiessen. Das Fachwort, um dies zu bezeichnen ist «fitna», Bürgerkrieg unter Muslimen. Solche Spaltungen fanden und finden noch heute unter religiösen Vorwänden und mit religiösen Begründungen statt. Doch geht es dabei stets auch um Macht. Wie weit es um Glaubensfragen geht und wie weit um Macht, ist nicht bestimmbar. Die Proportionen dürften nicht immer die gleichen bleiben. Wenn in kriegerische Handlungen investiert wird, gewinnen die Machtfragen an Gewicht und die Glaubensfragen werden zu Vorwänden.
Die Geschichte des Islams ist voll von solch religio-kriegerischen Auseinandersetzungen. (Jene des europäischen Mittelalters übrigens auch.) Als Beispiel seien hier zwei davon erwähnt, weil sie die gegenwärtigen Entwicklungen beleuchten.
Qarmaten für ein halbes Jahrhundert
Es gab die Qarmaten, die sich in einem religio-politischen Kampf gegen das Kalifat von Bagdad erhoben. Sie waren ideologisch gesehen, was man heute als Fundamentalisten bezeichnen würde, extrem strenggläubig und einer buchstäblichen Auffassung der Heiligen Schrift zugeneigt. Sie übten «takfir», indem sie alle anderen Muslime, die nicht ihrer Islamauffassung anhingen, zu Ungläubigen und des Todes würdig erklärten.
Sozialpolitisch gesehen handelte es sich bei ihnen wahrscheinlich primär um Beduinenstämme, die damit unzufrieden und darüber enttäuscht waren, dass die arabische Religion zu einer städtisch ausgerichteten Weltreligion geworden war, die von den alten Kulturzentren des Oströmischen und des Altpersischen Reiches aus – keineswegs mehr aus der arabischen Wüste – weitgehend im Stile der Höfe dieser beiden vorausgegangenen Kaiserreiche regierte.
Eine kämpferische Utopie in Bahrain
Die «Revolution» der Qarmaten brach im südlichen Irak aus. Getragen wurde sie von einem gewissen Hamdan al-Qarmati, der zuerst mit den Siebener Schiiten (Ismailiten) von Syrien in Verbindung gestanden hatte, sich aber dann von ihnen trennte. Er selbst und sein engster Mitarbeiter wurden ermordet. Doch seine Bewegung vermochte sich unter neuen Führern in Bahrain und auf dem gegenüber liegenden Ufer der arabischen Provinz Hasa (wo heute das Erdöl gewonnen wird) festzusetzen. Zugute kam ihnen dabei, dass in Basra eine grosse Sklavenrebellion ausgebrochen war. Sie isolierte die beginnende qarmatische Bewegung gegenüber der Macht der Kalifen in Bagdad.
Während der ganzen ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts sandten die Qarmaten von ihren Zentralen am Golf Expeditionen aus, die plünderten und brandschatzten. In ihrem Herrschaftsgebiet am Golf gründeten sie in Erwartung der Endzeit eine oligarchische Republik, in welcher der Staat auch die Wirtschaft zu regeln suchte. Die Bauern allerdings wurden als blosse Gegenstände der Ausbeutung angesehen.
Ihre Sicht des Islams erlaubte den Qarmaten – zweckmässigerweise – die Pilgerkarawanen zu überfallen und zu plündern, welche die Mehrheitssunniten jährlich nach Mekka entsandten. Sie haben sogar Mekka geplündert, die Kaaba zerstört und den dortigen Schwarzen Stein verschleppt, mit der Begründung oder unter dem Vorwand, seine Verehrung und die Verehrung der Kaaba seien «Polytheismus». Sie nahmen den Schwarzen Stein mit nach Bahrain und behielten ihn dort von 930 a.D. bis 952. Dann gaben sie ihn dem Abbasidenkalifen zurück. Vorübergehend besetzten sie auch Damaskus und belagerten Kairo zweimal vergeblich.
Die Grossmacht der Fatimiden
In Ägypten war die ismailitische Version des Islams, der die Qarmaten ursprünglich angehört hatten, auf dem Umweg über Tunesien und mit Hilfe der dortigen Berberstämme zur Macht gekommen und hatte die fatimidische Dynastie gegründet, die Ägypten von 969 bis 1171 regierte. Die Qarmaten hielten sich in Bahrain und später in al-Hasa bis zum Jahr 1077. Sie erlagen schliesslich einem Feldherrn, den der Kalife aus Bagdad ausgesandt hatte.
Die «Wahhabiten» oder Unitarier
Wenn man zahlreiche andere sich eigene Herrschaftsgebiete erkämpfende islamische «Sekten» übergeht, gelangt man schliesslich im 18. Jahrhundert zu jener der «Wahhabiten». Heute sind sie keineswegs eine Sekte mehr, sondern sie werden als höchst orthodox eingestuft. Doch sie begannen als eine Gruppe von Beduinen unter der geistlichen Führung von Muhammed ibn Abd el-Wahhab und der politischen Leitung durch die lokale Herrscherfamilie des Fleckens Diryia beim heutigen Riad unter den Emiren des Hauses Saud.
Ein strenger Islamreformer
Ibn Abdul Wahhab (1703-1791) war ein überaus strenger Gottesgelehrter, der seine Ausbildung in Damaskus erhielt, aber aus Arabien stammte. Seine Lehre wandte sich streng gegen die Verehrung Heiliger Männer und ihrer Gräber, was im Islam des Osmanischen Reiches jener Zeit ein wesentlicher Teil der Volksfrömmigkeit war. Musik in jeder Form galt ihm als sündhaft, und er bestand auf strenger Trennung der Geschlechter und Verhüllung der Frauen, die sich in die Öffentlichkeit begaben. «Bid'a», Erneuerung, im Sinne von Abweichung von dem, was die frommen Vorväter und der Prophet selbst lehrten und taten, war ihm ein Greuel. Auch die Schiiten sah er als Ungläubige an, die es zu bekämpfen gelte. Der Koran war seiner Ansicht nach wörtlich aufzufassen und möglichst wenig zu interpretieren. Unter den Beduinen seiner Heimat suchte der strenge Gottesgelehrte alle die Bräuche auszumerzen, die zu Brauchtum der Beduinen gehörten und nicht in der Sunna (Koran und Hadith) Rechtfertigung fanden.
Muslimischer als die Muslime
Die «Wahhabiten» nennen sich selbst «Leute der Einheit Gottes» was man mit «Unitarier» wiedergeben kann. Die Einheit Gottes, die durch keine Vermittlung oder Fürsprache durch andere Heilige Personen geschmälert werden darf, ist und bleibt ihr zentrales Dogma. Auch sie übten «takfir». Wer ihren Lehren nicht folgte, wurde als Ungläubiger eingestuft. Dies war zur Zeit ihrer Ausbreitung auf der Arabischen Halbinsel die immense Mehrheit der Gläubigen.
Zur Macht gelangte die Doktrin Ibn Abdul Wahhabs durch eine Allianz mit dem Fürsten des Najd (Zentralarabien), Saud Ibn Mohammed al-Muqrin, im Jahr 1744. Nach der wahhabitischen Lehre sollen die Gläubigen unter der Herrschaft eines - am Gottesgesetz der Scharia gemessen - gerechten Herrschers leben, der dafür sorgt, dass seine Untertanen einen islamischen Lebenswandel führen. Was genau als islamisch einzustufen ist und was nicht, darüber entscheiden bis heute in den Augen der Wahhabiten die wahhabitischen Gottegelehrten.
Die Allianz zwischen den Nachfahren Abdul Wahhabs und der Saudi-Herrscherfamilie dauert bis heute an. Man spricht von der Al (Familie) Saud und der Al al-Scheich, wobei unter dieser zweiten die Nachfahren des Reformers zu verstehen sind. Die beiden Familien sind vielmals untereinander verschwägert.
Religion als Mittel zur Macht
Die saudische Herrscherfamilie benützte das religiöse Ferment, das der Reformer und seine Lehren anregten, um viele der Beduinen dazu zu veranlassen, in den Heiligen Krieg zu ziehen und dadurch die Macht ihres Herrschers und ihrer religiösen Lehre auszudehnen. Sie waren bereit, sich auf Feldzüge in die benachbarten fruchtbareren Länder zu begeben und dort jene zu plündern, die ihnen als «Ungläubige» bezeichnet wurden. So haben sie unter anderem das schiitische Heiligtum von Kerbela im Südirak 1801 zerstört, geplündert und grosse Teile seiner Bevölkerung massakriert. Sie zerstörten auch das Grab von Hussain, des Enkels des Propheten und Protomärtyrers der Schi'a, sowie das seines Vaters, Ali, im benachbarten Najaf.
In den zwei folgenden Jahren eroberten die wahhabitischen Krieger Mekka und Medina. Ihrem Islamverständnis entsprechend zerstörten sie die dortigen Gräber der heiligen Figuren der islamischen Vergangenheit, einschliesslich jenes des Propheten. Die Verehrung von blossen Menschen, die sie als Anbetung ansahen, war in ihren Augen eine Todsünde, weil Verehrung im religiösen Sinne allein Gott gebühre.
Die Kanonen Muhammed Alis
Um dieser in der Sicht ihrer Zeitgenossen – unislamischen - Sekte Herr zu werden, ermunterte die Pforte ihren Gefolgsmann in Ägypten, Muhammed Ali, gegen die Wahhabiten zu Felde zu ziehen. Muhammed Ali war der erste nahöstliche Herrscher, der eine «moderne» Armee nach europäischem Vorbild besass. Er beauftragte seine beiden Söhne mit dem Feldzug, und diese zerschlugen über die Jahre 1812 bis 1818 das Reich der Wahhabiten. Die Hauptstadt Diriya zerstörten sie mit ihren Kanonen. Der damals herrschende Emir Abdul Aziz Al Saud wurde gefangen genommen, nach Istanbul gebracht und dort enthauptet.
Enthauptung nützt nichts gegen Ideen
Doch die wahhabitische Lehre lebte fort in Zentralarabien und die Saud-Familie, gemeinsam mit den Gottesgelehrten der wahhabitischen Richtung, kam zurück an die Macht in Riad als eine der zahlreichen Lokalherrschaften auf der Halbinsel. Auch der zweite saudische Staat kam zu Fall, als 1887 der Nachbarherrscher von Hail Riad eroberte.
Doch die Familie und die mit ihr verbundene Religionsrichtung kamen zum dritten Mal an die Macht, als Abdul Aziz ibn Saud 1901 aus dem Exil in Kuwait durch einen Handstreich Riad zurückeroberte und von dort aus seine Macht, mit Hilfe der wahhabitischen Krieger über die ganze Halbinsel auszudehnen vermochte. Mekka und Medina haben die Wahhabiten 1925 ihrem Reich einverleibt.
Seine kriegerische Macht verdankte Abdul Aziz anfänglich den sogenannten Ikhwan, «Brüdern». Sie waren Beduinen, die unter dem Einfluss der wahhabitischen Lehre bereit waren, ihre wandernde Lebensform aufzugeben und sich in festen Siedlungen niederzulassen, die von Landwirtschaft und von Kriegsbeute lebten. Die Notwendigkeit, sich anzusiedeln wurde damit begründet, dass es Pflicht der Muslime sei, einmal in der Woche an Freitagsgebet und Freitagspredigt in einer Moschee teilzunehmen. Wer dies wegen seiner beduinischen Lebensweise nicht tun konnte, galt nicht als wirklicher Gläubiger.
König über die Wahhabiten
Als Abdul Aziz Ibn Saud Herrscher über die ganze Halbinsel und über die Heiligen Stätten geworden war und Ende der 20er Jahre seine Herrschaft als weltlicher König festigte, erhoben sich Teile der Ikhwan gegen ihn, weil er und seine Herrschaft in ihren Augen zu weltlich geworden war. Er musste sie in langwierigen Kämpfen niederschlagen.
Zu weltpolitischem Rang erhob sich das wahhabitische Königreich als Abdul Aziz 1945 mit Präsident Roosevelt zusammentraf und die Zusammenarbeit der beiden Staaten auf der Grundlage «Erdöl gegen Sicherheit des Königreiches» begründet wurde.
Die wahhabitische Lehre, nuanciert durch die Notwendigkeit, in der heutigen Zeit zu leben und die Erdölmilliarden auch auszugeben, wurde eine der einflussreichsten Strömungen im heutigen Islam. Sie wird islamweit gefördert durch saudische Unterstützung für Moscheebau und Gottesgelehrte und Moscheebau der wahhabitischen Ausrichtung.
Wegbereiter des Islamismus?
Ihre Kritiker glauben, dass die Lehre wahhabitischer Färbung den heutigen Strömungen des radikalen Islamismus Auftrieb verleiht. Manche wollen in ihr Quelle und Ursprung des gegenwärtigen islamistischen Radikalismus sehen und behaupten, in Wirklichkeit sei es Saudi-Arabien gewesen, das die ganze islamistische Welle ausgelöst und daher auch zu verantworten habe. Doch dies ist eine zu einfache Sicht. Die eigentlichen Triebfedern der gegenwärtigen Radikalisierung bestimmter Minderheiten unter den Muslimen sind im Bereich der politischen und sozialen Gegebenheiten zu suchen, unter denen die Muslime leben. Diese Zustände können bewirken, dass die betroffenen Muslime sich Formen des Islams zuwenden, die jenen des Wahhabismus ähnlich sehen und auch von diesen beeinflusst werden. Die Kompromisslosigkeit und doktrinäre Härte, die den Kern der ursprünglichen wahhabitischen Reform ausmacht, spricht Personen an, die in ihrer Religion Halt und Identität suchen.
Dies aber ist die Kondition sehr vieler der heutigen Muslime, die sich in einer verwirrenden Lage zwischen einer von aussen herkommenden Moderne finden und verarmenden eigenen Lebensformen. Die Moderne, fremderzeugt, «nicht islamisch», aber verlockend in vieler Hinsicht, möchte man leben, wenn man nur die Mittel dazu besässe. Die eigene Tradition will und kann man nicht aufgeben. Sogar wenn man das möchte, fehlen einer riesigen Überzahl die Mittel dazu, finanziell und bildungsmässig. In Ausweglosigkeiten dieser Natur liegt wahrscheinlich der wahre Grund der gegenwärtigen Hinwendung zum Islam.
Bei einigen, relativ wenigen Muslimen wird dies eine Hinwendung zu den Sekten der radikalen und gewalttätigen islamistischen Ideologie.
Bei anderen mag die - wegen des Erdölreichtums - als so erfolgreich erscheinende Islamausübung der heutigen Wahhabiten ein Anreiz sein.
Auch das heutige Saudi-Arabien selbst steht gegenwärtig unter dem Druck jener Kräfte, die sich selbst islamisch nennen, aber in Wirklichkeit weitgehend durch krankhafte Reaktionen auf die Härten und scheinbaren Ausweglosigkeiten entstanden sind, denen die gesamte islamische Welt seit der Zeit des Kolonialismus ausgesetzt war und bleibt.