In Deutschlands Hauptstadt gibt es keine Volksparteien mehr. Berolina locuta, causa finita? Ja, Berlin hat gesprochen, aber nichts ist erledigt.
Vielleicht muss man, um die volle Tragweite der politischen Entwicklung an der Spree zu ermessen, den Blick wenigstens noch einmal kurz in die Vergangenheit werfen. Mit dem Namen Berlin verband sich geradezu symbolhaft die Nachkriegsgeschichte mit der Teilung der Stadt, Deutschlands, Europas und sogar dieser Erde in ideologisch-politisch tief verfeindete, bis an die Zähne bewaffnete Machtblöcke.
Berlin, das war einmal die Bastion unerschütterlich standhafter Sozialdemokraten wie Ernst Reutter („Völker der Welt – schaut auf diese Stadt“) und Willy Brandt ebenso wie später (vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten) des sprachlich feinsinnigen und dennoch höchst machtbewussten Christdemokraten Richard von Weizsäcker. Namen und Persönlichkeiten, die gerade jetzt wie Leuchttürme herausragen aus dem tristen Grau der nun schon seit Jahren vor sich hin dümpelnden Kommunal- und Landespolitik in der Hauptstadt.
Ein grosses Gemisch des Unbehagens
Die Ergebnisse des Urnengangs am Sonntag konnten im Ernst niemanden überraschen. Haben sie ja wohl auch nicht. Was dort zum Ausdruck kam, war ein Gemisch des bürgerlichen Unbehagens gleichermassen gegenüber dem Theater auf der „grossen“ Bundesebene wie der amateurhaften Polit-Stolperei von Berliner Senat und Abgeordnetenhaus.
Das wird vermutlich auch so weitergehen. Wie sonst wäre es möglich, dass sich der grösste Wahlverlierer (SPD: minus 6,7 Prozent) zum „Sieger mit klarem Regierungsauftrag“ ausruft? Klar, die Sozialdemokraten haben die meisten Stimmen auf sich vereinigt – ganze 21,6 Prozent! Das schlechteste Ergebnis aller Zeiten! Und ohne Zweifel noch schlimmer kam es für die CDU mit ihren 17,6 (minus 5,7) Prozent. Wahrhaftig kein Grund, um Stolz zu empfinden, weil man „immerhin doch zweitstärkste Kraft“ geblieben ist.
In Berlin ist ganz einfach die wohl unbeliebteste und unfähigste Landesregierung zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz aus dem Sattel geworfen worden. Ob das Fiasko um den Flughafen Berlin/Brandenburg (BER), das Verwaltungschaos bei der Registrierung von Flüchtlingen, das inzwischen nahezu unkontrollierbar gewordene Entstehen ethischer und kultureller Parallelgesellschaften von Türken, Arabern, Roma, Libanesen oder Russen mit entsprechenden Auswirkungen auf die öffentliche Sicherheit, ob die unhaltbaren Zustände vor allem in Grund- und Realschulen (ja, der Bildungspolitik im allgemeinen) oder gravierende Versäumnisse auf dem Wohnungssektor – jeder einzelne dieser Punkte sollte eigentlich ausgereicht haben, um die politisch Verantwortlichen in die Wüste zu jagen.
Berlin, arm aber sexy. Das war einmal der Spruch des Ex-„Regierenden“ Klaus Wowereit. Tatsächlich jedoch ist es – jenseits des hippen Szenen- und Highlife-Umfelds – traurig um die Stadt bestellt. Die berühmte Berliner Luft sticht unangenehm in der Nase.
Die Lieblings-Farbenkombination
Wie es an Spree, Rhin und Havel weitergehen wird, liegt ziemlich klar auf der Hand. Eine Neuauflage der Grossen Koalition ist allein schon wegen der Pulverisierung von SPD und CDU nicht möglich.
Für ein (zahlenmässig) regierungsfähiges Bündnis sind künftig mindestens drei Parteien nötig. Und die haben sich ja auch längst dafür in Stellung gebracht: SPD, Grüne und Linke, kurz: rot-rot-grün – für viele ohnehin die Lieblings-Farbenkombination. Darin wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit freilich nun auch das allgemeine Interesse an den Berliner Interna erschöpfen.
Denn in Wirklichkeit gilt das nationale wie internationale Augenmerk ohnehin zwei anderen Themen: Wie geht es, nach inzwischen einer ganzen Serie von Wahlschlappen, mit der CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzlerin Angela Merkel weiter? Und – damit zusammenhängend – wird die Alternative für Deutschland (AfD) sich dauerhaft im bundesdeutschen Polit-Spektrum etablieren können, oder (wie bislang alle „rechten“ Bewegungen) nach einem kurzen Aufglühen wieder verschwinden?
Die AfD ist mittlerweile in zehn der 16 deutschen Landtage vertreten. Und es gliche schon einem Wunder, wenn dieser Trend nicht auch 2017 im grössten Bundesland, Nordrhein-Westfalen, und – vor allem – bei den Bundestagswahlen ungebremst weitergehen würde. Inzwischen sieht es ja auch so aus, als würde man in den etablierten Parteien langsam begreifen, dass es nicht ausreicht, die Emporkömmlinge pauschal als nazistisch angehaucht abzutun.
Auch in den Medien hat anscheinend ein gewisses Umdenken eingesetzt; das Adjektiv „rechtspopulistisch“ in Verbindung mit AfD taucht in der Berichterstattung immer weniger auf. Das heisst nun allerdings wirklich nicht, dass es dort nichts auf sich hätte mit dem grausigen Spuk um rechtsradikale „Andocker“, um nationalistische, hetzerische und fremdenfeindliche Parolen. Daran hat sich überhaupt nichts geändert. Aber für die Gesamtbewertung des Phänomens AfD reicht es eben nicht aus.
Die AfD – ein Sammelbecken
Nicht erst jetzt in Berlin, sondern bereits bei den vorangegangenen Erfolgen der AfD konnten die nüchternen Stimmungsforscher nachweisen, dass hier keineswegs nur unverbesserliche Spinner an die Urnen eilten. Ganz offensichtlich sieht stattdessen eine noch immer wachsende Zahl von Wählern in der neuen Partei tatsächlich so etwas wie eine Alternative zu den „alten“ Kräften mit ihren seit Jahrzehnten eingeschliffenen personellen, inhaltlichen und darstellenden Ritualen.
Allein schon die Tatsache, dass sogar notorische Nichtwähler wieder ihr Kreuzchen auf den Wahlzetteln machen, beweist, wie sehr „die Politik“ in Bewegung geraten ist. Nicht anders ist es um die Stimmen bestellt, die sich von den anderen Parteien (und zwar unterschiedslos von allen) hin zur AfD bewegen.
Nun muss man gewiss nicht so weit gehen, in der AfD eine Bereicherung der demokratischen Verhältnisse im Lande zu erblicken. Das tun ausweislich der demoskopischen Erhebungen nicht einmal viele ihrer Wähler. Aber die explosionsartigen Erfolge müssten den „Altparteien“ inzwischen warnend signalisieren, dass die Menschen im Lande offensichtlich zunehmend die Nase voll davon haben, mehr oder weniger nur noch verwaltet zu werden von einer Politelite, deren Lösungs-Angebote für Probleme sich kaum noch voneinander unterscheiden.
Oder ist es etwa, zum Beispiel, auch nur im Ansatz überzeugend, wenn wenige Wochen vor den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und jetzt in Berlin, vom Chef Sigmar Gabriel angefangen, führende SPD-Politiker sich von der regierungsamtlichen Flüchtlingspolitik absetzen, die sie zuvor in vollem Umfang mitgetragen hatten?
Korrektur oder Vollbremsung?
Dass für die Bundeskanzlerin die Luft allmählich dünn wird, ist fast schon eine Binsenweisheit. Der Unmut über ihre Flüchtlingspolitik (konkret: über die unkontrollierte Grenzöffnung vor einem Jahr) schwappt wie eine Flutwelle über sie und die Koalitionsregierung. Wahrscheinlich hat sie sogar recht, wenn sie heute (bereuend) die berühmten drei Worte „Wir schaffen das“ damit erklärt, sie habe in Wirklichkeit anspornen und ermutigen wollen.
Welch schönes Bild und richtiger Ansatz! Eigentlich! Doch die Mehrheit der Bürger hat den Appell anders verstanden, wollte es vielleicht auch. Und weil die Last nun einmal hauptsächlich auf Angela Merkel abgeladen wird, kommt sie um eine Neujustierung ihrer Politik nicht herum. Dies völlig unabhängig davon, ob sie im nächsten Jahr noch einmal als Spitzenkandidatin der Union ins Rennen um den Bundestag gehen wird. Denn wer möchte schon mit dem Prädikat „gescheitert“ in die Geschichtsbücher eingehen?
Was nun also? Eine Vollbremsung in der Flüchtlingsfrage? Kaum anzunehmen. Warum auch? Durch die Sperrung der Balkanroute kommen ohnehin nur noch wenige Flüchtlinge und Asylsuchende ins Land. Was an gesetzlichen und sozialen Massnahmen mittlerweile auf den Weg gebracht wurde, war im Grossen und Ganzen richtig, kann aber erst in Zukunft greifen. Das gilt vor allem für die Probleme der Bildung und des Arbeitsmarktes.
Voraussichtlich wird es Korrekturen an der politischen Sprache geben. Nicht zuletzt auch im Verhältnis zur bayerischen Schwesterpartei CSU. Denn ein wirkliches Zerwürfnis kann sich hier keine der beiden Seiten leisten. Aber die Stimmung im Lande ist schlecht. Komischerweise viel schlechter als die Lage.