Der Staat Israel wird gegenwärtig von der wohl heftigsten innenpolitischen Krise in seiner 75-jährigen Existenz erschüttert. Provoziert wird die aktuelle Konfrontation von drei verschiedenen Kräften. Gemeinsam verfügen sie über eine knappe parlamentarische Mehrheit, mit der sie das Einspruchsrecht des Obersten Gerichts gegen bestimmte Gesetze und Regierungsentscheidungen auszuhebeln versuchen.
Die drei Kräftegruppen, die sich nach der letzten Parlamentswahl vom November 2022 zusammengeschlossen haben und seither im Rahmen einer Mehrparteien-Koalition den Kurs der israelischen Regierung bestimmen, sind die ultrareligiös ausgerichteten Parteien, die Strömung der radikalen Siedler, die sich neuerdings religiöse Zionisten nennen, und die von Ministerpräsident Netanjahu geführte Likud-Partei.
Gegen eine demokratische Kontroll-Instanz
Diese drei Machtgruppen verfolgen zwar nicht durchwegs die gleichen politischen Hauptziele. Aber sie sind sich in einem entscheidenden Punkt einig: Um ihre je eigenen Prioritäten durchsetzen zu können, soll der Einfluss des Obersten Gerichts in Israel auf die Politik geschwächt oder ganz ausgehebelt werden.
Diese juristische Kontroll-Instanz ist den drei Kräften deshalb ein Dorn im Auge, weil das Oberste Gericht in den vergangenen Jahren verschiedentlich deren Projekte und Personalentscheidungen als rechtsstaatlich unangemessen, unverhältnismässig oder als unvereinbar mit den sogenannten Grundgesetzen zurückgewiesen hat.
So hat das Gericht vor einigen Monaten gegen die Ernennung von Arje Deri, dem Vorsitzenden der religiös-sephardischen Shas-Partei zum Innen- und Finanzminister entschieden. Netanyahu hatte versucht, Deri aus rein koalitionspolitischem Kalkül eine einflussreiche Stellung in seinem Kabinett zu verschaffen, obwohl der Shas-Führer zuvor mehrfach wegen Steuerbetrug, Erpressung und Verstoss gegen Treu und Glauben verurteilt worden war.
Ziele der Ultrareligiösen und der radikalen Siedler
Das zentrale Ziel der ultrareligiösen Kräfte ist eine definitiv verankerte gesetzliche Bestimmung, die den Besuch von orthodoxen Jeschiva-Schulen, in denen hauptsächlich religiöse jüdische Texte studiert werden, als gleichwertig mit dem Militärdienst anerkennt. Damit würden Jeschiva-Schüler endgültig vom sonst obligatorischen Armeedienst befreit. Dispensationen dieser Art wurden zwar bisher schon praktiziert, blieben aber umstritten und sind teilweise wieder eingeschränkt worden.
Die radikale Siedler-Lobby wiederum ist bestrebt, die Kontrollfunktion des Obersten Gerichts auszuschalten, weil diese Instanz mehrfach bestimmte Expansionspläne in den besetzten palästinensischen Gebieten des Westjordanlandes verhindert hatte. Das Gleiche gilt für verschiedene Fälle von illegal errichteten Siedlungen, die die Regierung nachträglich zu genehmigen versuchte.
Netanjahus hängiges Gerichtsverfahren
Netanjahu seinerseits hat, so sehen es viele Beobachter, sehr persönliche Gründe, die Macht des Obersten Gerichts einzuschränken. Er ist seit 2019 wegen mehrerer Delikte wie Korruption, Begünstigung bestimmter Unternehmen und Annahme illegaler Geschenke offiziell angeklagt, doch ist es ihm bisher gelungen, das fällige Prozessverfahren scheinbar endlos zu verzögern.
Die Verdacht liegt deshalb nahe, dass das Hauptinteresse Netanjahus am heiss umstrittenen Justizreform-Projekt seiner Regierung darin liegt, das hängige Verfahren gegen ihn niederzuschlagen oder einfach versickern zu lassen. Die weitgehende politische Entmachtung des Obersten Gerichts, so ist anzunehmen, soll ihm dabei den Weg zu diesem Ziel ebnen. Sollte ihm das nicht gelingen, so droht ihm bei einer Verurteilung eine Gefängnisstrafe und wohl das definitive Ende seiner politischen Karriere.
Auch israelische Spitzenpolitiker können ins Gefängnis kommen
Tatsächlich hat Netanjahu keinen Grund, die anstehenden Prozessverfahren gegen ihn auf die leichte Schulter zu nehmen. Immerhin hat die israelische Justiz schon gegenüber anderen prominenten Politikern wenig Rücksichten walten lassen: Der frühere Staatspräsident Katsav ist vor mehr als einem Jahrzehnt aufgrund von Anklagen wegen sexueller Gewalt gegen Mitarbeiterinnen zum Rücktritt gezwungen worden und sass nach seiner Verurteilung fünf Jahre im Gefängnis.
Auch der frühere israelische Ministerpräsident Ehud Olmert musste wegen Korruptionsanklagen vorzeitig zurücktreten. Er wurde verurteilt und kam für kurze Zeit ebenfalls ins Gefängnis. Beide Politiker waren übrigens frühere Mitglieder von Netanjahus Likud-Partei.
Netanjahus persönliches Interesse, das hängige Gerichtsverfahren gegen ihn zu umgehen und durch die eingeleitete «Justizreform» wenn möglich ganz ad acta zu legen, deckt sich somit in taktischer Hinsicht mit den politischen Hauptanliegen seiner wichtigsten Koalitionspartner, den ultraorthodoxen Parteien und der radikalen Siedlerbewegung. Auch wenn ihre strategischen Ziele nicht durchwegs identisch sein mögen, sind sie gemeinsam offenkundig wild entschlossen, ihre Ziele durch eine einschneidende Kompetenzeinschränkung des Obersten Gerichts durchzudrücken.
«Tyrannei der Mehrheit»?
Wenn das gelingt, würde dies eine ernsthafte Gefährdung der etablierten demokratischen Strukturen Israels bedeuten, auch wenn diese im Zusammenhang mit den Realitäten in den besetzten Palästinensergebieten nicht durchgehend als vorbildlich gelten können. Sollte dem Obersten Gericht die Einspruchsmöglichkeit gegenüber Entscheidungen von Regierung und Parlament entzogen werden, würde der Demokratie ein entscheidender Kontrollmechanismus fehlen.
Jede Regierung könnte somit mit Hilfe ihrer parlamentarischen Mehrheit extremste Gesetze und Massnahmen in die Tat umsetzen, ohne befürchten zu müssen, von einer anderen staatlichen Instanz eingegrenzt zu werden. Israel würde, so argumentieren die Kritiker, zu einer Demokratie ohne Gegengewichte zum Schutz von Minderheitsrechten.
Schon der französische Historiker Alexis de Tocqueville hat in seinen berühmten Betrachtungen über die Demokratie in Amerika davor gewarnt, dass eine Demokratie ohne solche Gegengewichte («checks and balances») zu einer «Tyrannei der Mehrheit» ausarte.
Am Ende entscheiden die israelischen Wähler
Ob es in Israel je zu einer solchen Mehrheits-Tyrannei kommen wird, steht keineswegs fest. Dagegen sprechen schon die seit Monaten andauernden Massendemonstrationen, die keinen Zweifel darüber offenlassen, dass gewichtige Teile der Bevölkerung nicht gewillt sind, die Justizreform-Pläne der gegenwärtigen Regierung und deren dahinterstehenden Ziele zu akzeptieren. Zudem ist nicht geklärt, ob das Oberste Gericht in seiner jetzigen Zusammensetzung noch die Möglichkeit haben wird, die bereits vom Parlament verabschiedeten Teile der kritisierten Justizreform zurückzuweisen und entsprechende Korrekturen zu verlangen.
Und schliesslich wird in Israel das geltende Wahlrecht auch von der jetzigen Regierung kaum ausser Kraft gesetzt werden können. Spätestens bei der nächsten Parlamentswahl muss sich zeigen, ob eine Mehrheit der Wähler bereit ist, der eher wackligen rechtsnationalistisch-religiöse Koalition und ihrem trickreichen Baumeister Netanjahu weiterhin zur Regierungsmacht zu verhelfen. Die Zeichen deuten zurzeit nicht in diese Richtung. Die nächsten Wahlen könnten schneller stattfinden, als dies Netanjahu lieb sein kann.