So etwas hatte Israel in den 75 Jahren seiner Existenz noch nicht erlebt: In den letzten Monaten kam es immer wieder zu Massendemonstrationen aufgebrachter Bürger, bei denen besonders in Tel Aviv und Jerusalem jeweils um die 100’000 Teilnehmer gegen die «Jutsizreform» der Rechtsregierung von Ministerpräsident Netanjahu protestierten.
Im Kern geht es dabei um die Entmachtung des Obersten Gerichts. Es soll künftig nicht mehr die Möglichkeit haben, mit seinem Einspruch Beschlüsse der Regierung zu verhindern, wenn diese gegen geltendes lokales oder internationales Recht verstossen.
«Eretz Israel»
Der Protest hat nicht lange auf sich warten lassen, nachdem die ersten Gerüchte über das Ansinnen der Koalition Netanjahus an die Öffentlichkeit gelangten. Und es gerieten nicht nur die politischen Gegner des Premiers und seiner Mannschaft rechtsradikaler und erzkonservativer orthodoxer Politiker in Zorn, sondern viele andere Kreise der Bevölkerung, die bisher eher im Hintergrund geblieben waren. Sie sahen etwas in Gefahr, worauf sie bislang stolz gewesen waren, nämlich, in der «einzigen Demokratie der Region» zu leben.
Israel hat vor einigen Jahren in einer früheren Amtszeit Netanjahus bereits einen Vorgeschmack davon bekommen, was dies bedeuten kann: Netanjahu hatte 2018 ein «Nationalitätengesetz» verabschiedet, nach dem der Staat Israel als «Staat der Juden» bezeichnet wird und die nichtjüdische Minderheit muslimischer und christlicher Palästinenser sowie andere nichtjüdische Staatsbürger zwar nicht offiziell diskriminiert werden, aber doch deutlich zu spüren bekommen, wer hier das Sagen hat.
Das Nationalitätengesetz betrifft bisher nur den Staat Israel in seinen Grenzen vom Tag der Staatsgründung 1948 bis zum Sechstagekrieg von 1967. Mit diesem Krieg eroberte und besetzte Israel unter anderem das Westjordanland – den grössten Teil des historischen Palästina, der 1948 nicht zum Teil Israel geworden war. Beim Oslo-Abkommen, das Israel und die PLO 1993 schlossen, waren zumindest die Palästinenser voller Hoffnung, dass sie im Westjordanland und dem Gazastreifen in absehbarer Zeit ihren eigenen Staat würden gründen können. Das aber wurde von Israel bisher verhindert. Und soll nach dem Willen der Netanjahu Koalition auch weiterhin verhindert werden, die im Gegenteil plant, sich die palästinensisch bewohnten Gebiete einzuverleiben: Immer nach dem Motto «Eretz Israel» (das biblische Land Israel) gehört uns.
Wehrdienstverweigerung
Gegenwärtig plant die Regierung den Bau von über Tausend Wohnungen für jüdische Siedler im Westjordanland und die dort bereits bestehenden jüdischen Siedlungen entwickeln sich immer mehr zu gefährlichen Orten: für jüdische Siedler, aber mindestens ebenso sehr für die dort lebenden Palästinenser, unter denen sich längst neuer Widerstand entwickelt hat. Weil sie doch wissen, dass Israel mit seiner gegenwärtigen Politik keine Konzessionen gegenüber ihnen zu machen bereit sein wird. Für alle Beteiligten Grund genug, bei Fortsetzung der gegenwärtigen Politik der Netanjahu-Regierung mit mehr Gewalt und Opfern zu rechnen.
Solche Befürchtungen dürften auch ein Grund für israelische Reservisten sein, dem Reservedienst im Militär den Rücken zu kehren. Ganz besonders eklatant ist dies in der Luftwaffe, Israels wohl bestes und erfolgreichstes Kriegsinstrument. Es sollen bereits eine grössere Anzahl von Reservisten das Land verlassen haben, weil sie neuen militärischen Auseinandersetzungen aus dem Wege gehen wollen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen am Gazastreifen sind eine wiederkehrende Warnung und die blutigen Zwischenfälle im Westjordanland – besonders in und um Jenin wie auch Nablus – sind ihnen Warnung genug. Gleichzeitig dürfte die gegenwärtige Regierung bereits überlegen, wie sie den Absprung militärisch wichtiger Personen verhindern kann.
Die Rolle der USA
International dürfte der geplante Kurs der israelischen Regierung dem Land zusätzliche Probleme bereiten. Denn international gilt weiterhin die Zweistaaten-Lösung als das anzustrebende Konzept. Dieses verträgt sich überhaupt nicht mit den Plänen der Ultrarechten um Netanjahu. Aus dem Ausland ist bisher allerdings nicht viel an Reaktionen darauf zu vernehmen. Ausser – und das ist natürlich wichtig – aus den USA: Präsident Biden und eine Reihe von Ministern und Experten haben Israel offen davor gewarnt, diesen Kurs weiter zu verfolgen. Allerdings ohne Erfolg bisher. Ob Washington bereit sein wird, ein Machtwort zu sprechen, ist bisher fraglich. Besonders, je näher der nächste Wahlkampf in den USA rückt. Und selbst wenn die USA hart reagieren wollten, so hätte das mit Sicherheit keine gravierenden Folgen für die militärische Zusammenarbeit mit Israel. Denn auf die wird Washington kaum verzichten können. Das hätte einen Bedeutungsverlust im Nahen Osten zur Folge.
All diese Überlegungen haben hundertausende Israelis gegen die Pläne der Regierung für die«Reform» auf die Strasse getrieben. Weil am letzten Wochenende eine Abstimmung in der Knesset über den Plan angesetzt war, beschlossen Zehntausende, bereits am Dienstag davor von Tel Aviv nach Jerusalem zu wandern, um dort vor der Knesset zu demonstrieren. Vier Tage dauerte der Marsch. Er wurde von diversen Streiks in der Wirtschaft des Landes begleitet, die Demonstranten übernachteten in mitgebrachten Zelten. Ihr Empfang bei der Knesset entsprach aber eher den Befürchtungen vor dem, was zu kommen droht: Ein Grossaufgebot von Polizei versuchte die Demonstranten fernzuhalten und einer ihrer Anführer wurde festgenommen.
Schnelle Entscheidung der Knesset
Ministerpräsident Netanjahu wurde bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal seit Tagen wieder in der Öffentlichkeit gesehen: Er war angeblich wegen Herzproblemen im Krankenhaus stationiert. Am Sonntag war er noch einem Treffen ferngeblieben, das bis Montag früh dauerte. Am Montag sprach sich plötzlich herum, dass der Premier überhaupt kein medizinisches Problem gehabt hatte. Möglicherweise wollte er vor der Knesset-Abstimmung jede Diskussion meiden. Immerhin hat er ja auch ein persönliches Interesse an der «Justizreform»: Seit Jahren läuft ja ein mehrteiliger Prozess gegen ihn wegen Korruption im Amt.
Was allerdings die wenigsten erwartet hatten – die Demonstranten schon gar nicht – war, dass die vorgeschriebenen drei Lesungen für die geplante Neuregelung schneller vorbei waren, als von ihnen erhofft. Die Führer der Opposition verliessen sehr früh die Knesset und schimpften, die Regierung sei weder zu Verhandlungen bereit noch zu Kompromissen. Ihre Anhänger folgten ihnen, ohne abzustimmen. Für den Plan stimmten 64 der 120 Abgeordneten, die Mitglieder der Opposition stimmten nicht ab.