Es herrscht dieser Tage ein ungutes, latent gespanntes Klima in Paris zwischen Barbès und der Seine, zwischen Belleville, dem Nordbahnhof und der Place Clichy. Es ist die diffuse Furcht, dass der Konflikt zwischen Israel und Palästina sich in den Strassen der französischen Hauptstadt breit machen und auch in andere Grosstädte Frankreichs überschwappen könnte. Ein beklemmendes Gefühl mitten im Fastenmonat Ramadan, in einem Land, das mit rund 500’000 Mitgliedern die grösste jüdische Gemeinde in Europa hat und in dem gleichzeitig rund 5 Millionen Muslime leben.
Tod den Juden
Es war am Sonntag vor einer Woche, als sich Millionen vor dem Fernseher installierten in Erwartung des Fussball-WM-Finales. Am Ende einer bis dahin friedlichen Demonstration in Paris mit gut 10’000 Teilnehmern gegen Israels Militäraktionen im Gazastreifen wurden rund hundert gewalttätige Demonstranten – kampferprobte Jungs aus den Pariser Vorstädten, die mit den Organisatoren der Demo nichts zu tun hatten – zunächst mit Tränengas davon abgehalten, zu einer Synagoge zu stürmen.
Wenig später gelang es ihnen aber, zu einer anderen, nahe liegenden vorzudringen, wo die versammelte Gemeinde nur durch verschlossene Eisengitter vor dem Pöbel geschützt werden konnte. Die wenigen Ordnungskräfte, die vor der Synagoge stationiert waren, wurden kurzerhand überrannt. Bei diesen Ausschreitungen in der Nähe der Place de la Bastille waren auch Rufe wie «Tod den Juden» und «Juden raus» zu hören.
Es war der Tag des WM Endspiels, und am nächsten Tag, dem 14. Juli, war Nationalfeiertag. Deswegen gingen diese Ereignisse im Trubel anderer Aktualitäten zunächst einmal unter.
Neuer Antisemitismus
Es brauchte Zeit, bis die Einschätzung von Vertretern jüdischer Institutionen an die Öffentlichkeit drang, wonach diese Ereignisse nur ein weiteres eklatantes Beispiel für den neuen Antisemitismus seien, der in radikal-islamistischen Kreisen französischer Vorstädte seit Jahren gedeiht. Die Juden, so Frankreichs neuer Grossrabiner, seien heute Zielscheiben eines tiefen Hasses auf einen kleinen Teil der französischen Bevölkerung.
Der Präsident des Dachverbands jüdischer Organisationen in Frankreich (CRIF), Roger Cukierman sagte im französischen Fernsehen: «Ich bin mehr als beunruhigt. Ich bin betroffen, denn so etwas hat man noch nie gesehen. Es ist das erste Mal, dass man Synagogen angreift. Hier ist der Antizionismus zum Antisemitismus geworden. Man hat zwei Synagogen angegriffen. In einer mussten zweihundert Menschen, die dort zum Gebet gekommen waren, zwei Stunden lang verharren. Das ist ein Klima, wie man es noch nie erlebt hat.»
Gazakonflikt importiert
Mit einiger Verzögerung verurteilte Frankreichs Regierung diese Ausschreitungen auf schärfste, sprach von einem Angriff auf den republikanischen Pakt, und sogar Präsident Hollande meldete sich persönlich zu Wort. Der israelisch-palästinensische Konflikt, so das Staatsoberhaupt, dürfe nicht nach Frankreich importiert werden. Es gäbe die Demonstrationsfreiheit, aber es dürfe zu keinen Entgleisungen kommen oder gar Versuche geben, Gotteshäuser zu stürmen.
Das klang so, als hätte der Präsident nicht wirklich mitbekommen, was in seinem Land seit Jahren passiert.
Der Politologe Pascal Boniface, Autor eines Buchs mit dem Titel «Frankreich krankt am Nahostkonflikt» rief ihm das in Erinnerung: «Das Problem ist nicht, dass dieser Konflikt nach Frankreich importiert wird – das ist de facto schon längst der Fall. Leute, die in diesem Land ihre Solidarität mit Israel zum Ausdruck bringen, und andere, die Palästina unterstützen, das haben wir schon lange. Die Herausforderung besteht darin, eine echte Debatte zwischen beiden Seiten zu ermöglichen und dabei Gewalt zu vermeiden. Es ist sicherlich der internationale Konflikt, der die stärksten sozialen und politischen Auswirkungen in Frankreich hat. Es ist ein Konflikt bei dem sich Familien zerstreiten können, Freunde nach und nach nicht mehr miteinander reden, es heftigste Auseinandersetzungen und manchmal eben auch Gewaltakte gibt.»
Dazu kommt: Bei der Demonstration am 13. Juli hatten mehrere Zeugen davon gesprochen, dass die Ausschreitungen durch Provokationen einer in Israel und den USA verbotenen rechtsradikalen jüdischen Organisation, der so genannten «Jüdischen Verteidigungsliga» mit ausgelöst worden seien. Es gibt Fotos von Mitgliedern dieser Organisation am Rande des Demonstrationszugs. Einer von ihnen hält eine Campinggasflasche in der Hand, andere sind mit langen Schlagstöcken ausgerüstet.
Fatales Demonstrationsverbot
In den Tagen danach attackierten sich in den sozialen Netzwerken diese und andere jüdische Gruppierungen auf der einen und radikal-islamistische Zirkel auf der anderen Seite aufs intensivste. Dies war einer der Gründe, weswegen die Pariser Polizeipräfektur zu der höchst aussergewöhnlichen Massnahme griff, zwei Pro-Palästina-Demonstrationen zu verbieten, eine im traditionellen Pariser Einwandererviertel Barbès, eine andere in der nördlichen Pariser Vorstadt Sarcelles. Eine Entscheidung, die letztlich kontraproduktiv, ja fatal war. Denn in beiden Fällen liessen sich die Demonstranten trotz des Verbots nicht von ihrem Vorhaben abhalten.
Ja, das Demonstrationsverbot hatte die Stimmung nur noch mehr aufgeheizt und die Aufgabe der Ordnungskräfte nur noch schwieriger gemacht. Am Ende kam es sehr schnell zu den befürchteten gewaltsamen Ausschreitungen. Frankreichs Innenminister, ebenso wie der Präsident und der Premierminister, müssen sich fragen lassen, ob nicht letztlich das Verbot der Demonstrationen mit auslösend war für die Gewalt. Ein Dutzend genehmigte Pro-Palästina-Demonstrationen gingen nämlich in anderen französischen Städten am letzten Wochenende völlig problemlos über die Bühne.
Lunte am Pulverfass
Was dann am Sonntag in der nördlichen Pariser Vorstadt Sarcelles – dem so genannten «Klein-Jerusalem» geschehen ist, wird leider in der Geschichte des Zusammenlebens verschiedener französischer Bevölkerungsgruppen und für Frankreichs Juden ein Trauma ein trauriger Markstein bleiben. In dieser multikulturellen Gemeinde lebt mit 15’000 Mitgliedern die grösste jüdische Gemeinde Frankreichs, seit den späten sechziger Jahren neben Abertausenden von Franzosen nordafrikanischer Herkunft. Bis in die letzten Jahre in bestem Einvernehmen und ohne ernsthafte Spannungen.
Dies hat sich an diesem Sonntag auf brutalste Art und Weise geändert. Eine Horde von rund zweihundert extrem gewaltbereiten Jugendlichen hat das fragile Gleichgewicht im Zusammenleben der Bürger dieser Stadt wohl auf lange Zeit zerstört. Ihre Zielobjekte bei den stundenlangen Strassenschlachten mit den Ordnungskräften waren eindeutig: Es ging gegen Symbole und Geschäfte der jüdischen Gemeinde.
«Gaza – Krieg dort unten, Pulverfass hier bei uns» titelte die Tageszeitung «Libération» am Tag danach.
Dabei hatte die verbotene Pro-Palästina-Demonstration in Sarcelles zunächst eher friedlich begonnen, wenn auch mit den inzwischen schon üblichen Rufen wie «Israel, Mörder» und «Hollande, Komplize». Bis sich Dutzende Jugendliche aus den umliegenden Sozialwohnungsbauten, die unfähig wären, den Gazastreifen auf einer Landkarte auszumachen, unter die Demonstranten mischten.
Sehr schnell brannten Mülltonnen, Bushaltestellen, ein Café wurde geplündert, die älteste Apotheke der Stadt, die seit 42 Jahren einer Jüdin gehört, vollständig zerstört. Ein Geschäft mit koscheren Lebensmitteln, auf das eine kleine, später verhaftete Djihadistengruppe vor zwei Jahren schon einen Sprengsatz geworfen hatte, brannte diesmal vollständig aus.
Vor allem aber bewegte sich die plündernde Meute in Richtung der Synagoge von Sarcelles, die nur mit grossem Aufwand geschützt werden konnte. Der langjährige sozialistische Bürgermeister der Stadt will nichts mehr beschönigen: «Es waren Jugendliche aus unseren Vierteln hier, die von den Organisatoren der Demonstration manipuliert wurden. Sie haben diesen Jugendlichen die Synagoge sozusagen als Ziel gegeben, indem sie einen Weg wählten, der nur zwanzig Meter vor der Synagoge vorbeiführte. Das war eine Provokation, und die Jugendlichen, die richtiggehend hasserfüllt waren, schlugen zu – das war schlicht und einfach eine antisemitische Aggression. Sie sind direkt auf die Synagoge losgegangen, und als die Polizei sie daran gehindert hat, haben sie sich ausschliesslich auf Geschäfte gestürzt, die Juden gehören.»
Juden in Angst und Schrecken
Die jüdische Gemeinde Frankreichs, die grösste Europas, ist inzwischen extrem beunruhigt. «Man importiert den Djihad gegen die Juden Frankreichs», sagt einer ihrer Vertreter, «und die Juden sind dabei die Wachposten der Republik. Eine Minderheit der Muslime Frankreichs hat beschlossen, unsere Republik in Gefahr zu bringen. Gewiss, es ist eine Minderheit, aber die Lage ist sehr gefährlich.»
Besonders besorgniserregend dabei ist, dass man dieser Tage den Eindruck haben muss, dass die beschwörenden Appelle zur Mässigung und Ruhe von Präsident, Premier- und Innenminister auf kein Gehör mehr stossen, sondern wirkungslos verpuffen. Der Staat ist seit einigen Tagen definitiv nicht mehr Herr der Lage.
Nach den Ereignissen von Sarcelles sollte nun wirklich ganz Frankreich klar geworden sein, dass das jahrelange Schönreden ein Ende haben und man die Dinge beim Namen nennen muss. Ja, es gibt in Frankreich im Jahr 2014 einen neuen Antisemitismus, der im Lauf des letzten Jahrzehnts in den Köpfen junger Franzosen mit Migrationshintergrund in den Bannmeilen der Grosstädte herangewachsen ist. Am Sonntag hat er sich in Sarcelles offen und brutal gezeigt.