Nach dem „Diskussionsimpuls zur Lage in Israel/Palästina“ der Evangelischen Kirche im Rheinland vom September 2011 folgt ein Jahr später die hier vorgestellte Orientierungshilfe. Sie will, so heisst es im Vorwort, „die oft hoch emotional und polarisierend geführte Diskussion um Land und Staat Israel (…) versachlichen“ helfen, weil sie vor Christen und christlichen Gemeinden nicht Halt gemacht hat.
Deshalb birgt die Veröffentlichung einen hohen Anspruch in sich, wenn sie im Vorwort „nach politischen Lösungswegen wie nach einem angemessenen Verständnis des Staates Israel aus christlicher Sicht und einer theologisch verantworteten und zeitgemässen Deutung biblischer Landverheissungen“ fragt und dabei die erörterten theologischen Fragen von den politischen Debatten nicht loslösen will.
Verunsicherte Autoren
Diesem Ziel kommt die Orientierungshilfe nur bedingt nach. Wie vor einem Jahr kann sich die EKD nicht recht entscheiden, welche Orientierung sie denn den Leserinnen und Lesern bieten will. So bleibt als erster Eindruck die Vermutung, dass die Autoren selbst von erheblicher Verunsicherung geplagt sind, die sie an das geneigte Publikum weiterreichen.
Es wäre etwa höchst wünschenswert gewesen, wenn der Einfluss des israelisch-palästinensischen Konflikts unter Einbeziehung antijüdischer und antisemitischer Unter- und Obertöne stärker beleuchtet worden wäre. Denn allzu häufig wird die „Solidarität mit dem Staat Israel mit dem Engagement für eine selbstbestimmte, gerechte und friedliche Zukunft aller Bewohner des Landes der Bibel“ in Zweifel gezogen.
"Die Stunde der Wahrheit
Auf die selbsternannten christlichen Zionisten mit ihrem apokalyptischen Messianismus wird knapp eingegangen. Man mag bedauernd oder kritisch einwenden, dass das der kontextuellen Theologie führender christlicher Oberhäupter in Palästina verpflichtete Kairos-Papier „Die Stunde der Wahrheit“ nicht Eingang in die Diskussionen und die Abstimmung in den dortigen Gemeinden gefunden hat. Aber auch die vorliegende Orientierungshilfe hat einen solchen „Umweg“ nicht eingeschlagen. Wäre er gegangen worden, hätte die Vorlage einen anderen politischen Duktus bekommen.
Nachdem sich die Handreichung über weite Strecken auf biblische Grundlegungen der Verheissungen und der bleibenden christlichen und jüdischen Verbundenheit mit Israel als dem erstberufenen Volk konzentriert hat, kommt die Sprache auf die Vorläufer und die Begründer des (politischen) Zionismus von Jehuda Alkalai, Zvi Hirsch Kalischer und Leon Pinsker bis zu Theodor Herzl und die Balfour-Deklaration. Es fehlen das Mandat des Völkerbundes und die Politik Grossbritanniens in Palästina über die Peel-Kommission von 1937 bis zu den bürgerkriegsähnlichen Unruhen nach 1945, die in den Vereinten Nationen den Teilungsplan evozierten.
„Jüdischer Khomeinismus“
Kurz wird auf die protozionistischen Aussagen des ersten aschkenasischen Oberrabbiners in Palästina, Abraham Isaac Kook, Rekurs genommen, bevor – ohne die Erklärung Jerusalems zur Hauptstadt Israels im Januar 1950 oder den Suezkrieg 1956 eines deskriptiven Blickes zu würdigen – auf den Junikrieg 1967 als „Beginn einer Trendwende im Kräfteverhältnis von säkularen und religiösen Strömungen im Staat Israel“ eingegangen wird. Ein Wort zu den Siegern dieser heftigen innerjüdischen Konkurrenz und ihren Folgen für die palästinensische Bevölkerung in den damals besetzten Gebieten und zur Einbindung der Westbank und (Ost-)-Jerusalems in die israelische Innenpolitik sucht man vergeblich. Ein ähnliches Versäumnis ist gegenüber den israelischen Staatsbürgern arabischer Volkszugehörigkeit zu konstatieren.
Der unter den Verschwörungstheorien subsumierten Behauptung wird eine Absage erteilt, „dass dem jüdischen Nationalismus eine religiöse Ideologie zugrunde liege. Sein Ziel heisse ‚Grossisrael‘.“ Ein Blick in die Literatur hätte unschwer den Nachweis geliefert, dass der von Benjamin Netanjahu als „mein begabter Kollege und Freund“ gepriesene Yoram Hazony 1996 einen „Yeshiva-Nationalismus“ konstatierte und die fundamentalistischen Eskalationswellen in Israel für den Orientalisten Emmanuel Sivan schneller als in Ägypten vorankamen, während Yossi Beilin – Chef des israelischen Teams der „Genfer Initiative“ – einen „jüdischen Khomeinismus“ – beklagte.
Dogmatische Repression
Schon 1978 hatte der in Haifa lehrende Soziologe Sammy Smooha einen Trend entdeckt, wonach eine gut organisierte religiöse Minderheit das gesamte politische System nachhaltig stören könne. Seither ist der theologischen Stringenz („Chumrah“) die Einwanderung in die Mitte der Gesellschaft bei Überwindung aller Parteigrenzen gelungen. Hohe Offiziere wehren sich dagegen, dass noch mehr ultraorthodoxe Männer zum Wehrdienst herangezogen werden, weil sie die religiöse Indoktrination der Soldaten fürchten. Wie also lässt sich „der Gehorsam des Volkes gegenüber den Geboten Gottes“ in einem profanen Gemeinwesen durchsetzen, wenn nicht mittels dogmatischer Repression? Lässt sich übersehen, dass sich in der liberalen Öffentlichkeit ein anschwellender Hass auf die Gottesfürchtigen („Haredim“) breitgemacht hat?
Was wäre, wenn der als „Zeichen der Treue Gottes“ beglaubigte Staat Israel einem multinationalen Gemeinwesen Platz machen würde, nachdem die jüngste Proklamation des Knesset-Präsidenten Reuven Rivlin am palästinensischen und internationalen Widerstand scheitert, wonach es zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan nur einen jüdischen und demokratischen Staat mit einer jüdischen Mehrheit geben könne? Wäre damit die Treue Gottes zu Seinem Volk hinfällig, weil es christlichen Autoren gefallen hat, diese Zusage theologisch zu überdehnen, nachdem sie politisch „(…) das Existenzrecht des Staates Israel (bejaht)“ haben? Ist in dieser Rivalität „die Vorläufigkeit allen theologischen Wissens und kirchlichen Redens“ aufgehoben?
Systematisch untergrabene Legitimität
Es gibt überzeugende politische und zeitgeschichtliche Gründe für die Legitimität des Staates Israel. Ob er einer christlich-theologischen Rechtfertigung bedarf, muss jedoch bezweifelt werden, zumal, da die israelische Politik alles daransetzt, diese Legitimität systematisch zu untergraben. Die Menschenrechtsverletzungen gehören dazu, die im Falle Syriens, Saudi-Arabiens und der Türkei gegebenenfalls die gebührende Aufmerksamkeit finden. Aber vielleicht sind solche Vermerke ausgespart worden, um den eigenen Zweifeln an den für Israel desaströsen politischen und ethischen Konsequenzen nicht allzu nahe zu treten.
Die Beteuerung „Die Legitimität eines Staates ist aus heutiger evangelischer Sicht gebunden daran, dass er sich auf den Erhalt von Gerechtigkeit und Frieden ausrichtet und dass er sich in seinen Gesetzen und Haltungen am biblischen Bild des Menschen auch dann messen lassen kann, wenn das offizielle Selbstverständnis des Staates sich nicht von dieser Grundlage her definiert“, kommt ohne Verweis auf den Staat Israel aus. Wie steht es denn wenigstens mit der Bundesrepublik Deutschland?
Gelobtes Land? Land und Staat Israel in der Diskussion. Eine Orientierungshilfe. Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Union Evangelischer Kirchen in der EKD und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh 2012. 128 + XVI S.