Vor wenigen Tagen begann das iranische Regime damit, in Metro-Stationen und an öffentlichen Plätzen Überwachungskameras zu installieren – so sollen Frauen, die das Kopftuch nicht korrekt oder gar nicht tragen, erkannt werden. Als Strafe drohen u. a. Zugangsverbote an Universitäten.
Am Wochenende legte der stellvertretende Generalstaatsanwalt noch nach: Ein neues Gesetz will künftig auch Menschen bestrafen, die Frauen ermutigen, das Kopftuch abzulegen. Wie so etwas funktionieren soll? Nur durch totale Überwachung und systematische Bespitzelung, anders ist es nicht denkbar.
Der Staatsapparat tut offenkundig alles, um die Kontrolle über das 85-Millionen-Volk zurückzuerlangen. Die Islamwissenschafterin Katajun Amirpur (Tochter eines Iraners und einer Deutschen, Lehrstuhl für Islamwissenschaft an der Universität Köln, früher in Zürich tätig) schreibt in ihrem Buch «Iran ohne Islam» mit dem Untertitel «Der Aufstand gegen den Gottesstaat»: «Ist der Aufstand bereits eine Revolution? Das wird man erst im Rückblick sagen können. Mit Sicherheit sehen wir hier aber einen revolutionären Prozess.»
Inbesitznahme der Religion durch die Politik
Er begann vor rund einem halben Jahr als Reaktion auf den Tod der 22-jährigen Mahsa Amiri im Gewahrsam von so genannten Sittenpolizisten (sie trug angeblich das Kopftuch nicht korrekt). Mehr als 500 Menschen kamen seither, mehrheitlich als Opfer von Gewalt vonseiten des Machtapparats, ums Leben. Vorübergehend oder für längere Zeit wurden fast 20’000 festgenommen. Mindestens zwei Männer wurden in direktem Zusammenhang mit den Protesten hingerichtet. In den letzten Wochen gibt es zwar weniger Demonstrationen (die Repression verbreitet Angst), aber alle Zeichen deuten darauf hin, dass die Verweigerungshaltung gegenüber all dem, was der Machapparat unternimmt, weiter andauert.
Dieser Machtapparat ist gekennzeichnet durch die Inbesitznahme der Religion durch die Politik, oder, wie Amirpur schreibt: «Der Islamismus wird so zu einer Ideologie, die Staat und Islam in eins setzt. Iraner gehen heute auf die Strasse, um dem eine Absage zu erteilen. Nach über vierzig Jahren real erlebtem Islamismus sagen sie heute: Der Islam ist nicht die Lösung, er ist Teil des Problems.»
Verlogener Machtapparat
Gemäss einer Umfrage des in den Niederlanden ansässigen Instituts GAMAAN erklärte (die Umfrage wurde 2020 gemacht) etwa die Hälfte der 50’000 befragten Iranerinnen und Iraner, sie hätten ihren Glauben verloren. Leserinnen und Leser würden da wohl gerne erfahren, wie gross der Anteil von Befragten innerhalb Irans war, wie gross bei der Exil-Gemeinschaft. Amirpur schlussfolgert: «Heute orientieren sich sogar die Protestformen an der vorislamischen Zeit. (…) Diese Art von Orientierung am vorislamischen Erbe ist ein Bekenntnis zur Abkehr von der Islamischen Republik und sogar zur Abkehr vom Islam.» Wohin führt diese Orientierung? Die Autorin erkennt im Zoroastrismus auf jeden Fall ein grosses Potential.
Wenn in Iran demonstriert, protestiert wird, so am augenfälligsten gegen den Kopftuchzwang für Frauen – und wer nun sagt, das Kopftuch sei doch eigentlich eine Nebensache, verkennt, dass es für die Kontrolle der Frau insgesamt durch den Machtapparat steht und dass Millionen Iranerinnen und Iraner diesen Machtapparat als durch und durch verlogen betrachten.
Nur der 12. Imam ist unfehlbar
Die Herrschenden predigen soziale Gerechtigkeit, praktizieren oder dulden aber oft Korruption. Sie berufen sich auf schiitische Glaubensinhalte, handeln aber in krasser Übertretung der betreffenden Richtlinien. Die Schia ist ja, darauf verweist Katajun Amirpur, geistig beweglicher, auch toleranter, als die Sunna, was sich vor allem in der Anweisung an die Gläubigen ausdrückt, dass niemand, auch kein Herrschender, nicht einmal ein hoch gestellter religiöser Rechtsgelehrter, unfehlbar sei (das sei nur der 12. Imam, wenn er eines Tages als Mahdi auf die Erde zurückkehre) und dass daher auch jedes Rechtsgutachten («fatwa») durch ein anderes widerlegt werden könne.
Eine, wie Amirpur schreibt, quietistische Opposition, die auf der Rückbesinnung auf die religiöse Tradition im Sinn des Glaubens an den 12. Imam beharrt, gibt es in Iran – auch wenn sie sich selten zu erkennen gibt. Vielleicht aber betrachte das Regime sie als gefährlicher als die anderen, höchstens locker miteinander verbundenen Gruppierungen von Gegnern.
USA – Hände weg!
Doch würden die in Iran Herrschenden sich wirklich nach der Religion, also nach den schiitischen Richtlinien, orientieren, müssten sie eine völlig andere Politik verfolgen – aber im heutigen Iran, schreibt Amirpur, herrschen nicht «die Mullahs», sondern die Revolutionsgarden, die Pasdaran. Und deren «raison d’ètre» ist nicht die Religion, sondern das Nationale und die Wirtschaft. Es gibt wohl kein grosses Unternehmen in Iran, auch keine Bank, wo die Pasdaran nicht ihre Finger im Spiel hätten. Und wenn es um Korruption geht, da seien die Pasdaran immer mit dabei.
Im Epilog fasst die Autorin zusammen, dass die meisten Iraner die jetzige Herrschaft ablehnen, aber dass sie – auch die regierungskritischen Demonstranten – sich jegliche US-amerikanische Einmischung verbitten: «Sie sind Nationalisten, stolz auf ihre jahrtausendealte Geschichte und Zivilisation. Man kann sich vorstellen, was die Aussage Trumps bei ihnen auslöste, Irans Kulturstätten bombardieren zu wollen. (…) Diesen kulturellen Stolz, man könnte auch sagen: Chauvinismus, teilen alle Iraner, ganz gleich, welche politische Ausrichtung sie haben, welcher Religion sie folgen.»
Was nichts anderes bedeutet, als dass jegliche denkbare Veränderung von innen kommen muss. Was aber auch zur Frage führt, ob die jetzige revolutionäre Bewegung die Kraft und den Durchhaltewillen hat, dem repressiven Regime die Stirn zu bieten. Einem Regime, das sich, wie das Beispiel der Überwachungskameras und angekündigter neuer Gesetze zeigt, immer weitere Methoden ausdenkt, um sich wieder die Kontrolle über die Bevölkerung zu beschaffen. Und offen bleibt die Frage, auf welches Programm sich die Opposition, über den Appell «zan, zendegi, aazadi» (Frau, Leben, Freiheit), hinaus einigen kann.
Katajun Amirpur: Iran ohne Islam – Der Aufstand gegen den Gottesstaat. C. H. Beck Verlag, 239 Seiten.