Gerard Collomb, der 71-jährige, langjährige Bürgermeister der Stadt Lyon und bis 2016 noch Mitglied der sozialistischen Partei, wo er zum rechten Flügel gehörte, galt bis vor dem Sommer als einer der engsten Vertrauten von Präsident Macron und war als Innenminister und Nummer 2 der Regierung eines der politischen Schwergewichte im Umkreis des Staatschefs.
Sein Rücktritt jetzt, den er auf fast groteske Art und Weise erzwungen hat, ist inzwischen bereits der dritte eines Ministers innerhalb eines Monats und für Frankreichs Präsidenten, dessen Popularitätswerte seit Juni ohnehin schon extrem gesunken sind, ein weiterer schwerer Schlag.
Vater – Sohn
Gérard Collomb, damals seit 15 Jahren Bürgermeister der Millionenmetropole am Zusammenfluss von Rhône und Saône, war 2016 einer der ersten begeisterten Weggefährten der Bewegung „En Marche“ des jungen Präsidentschaftskandidaten Macron. Ja, er sprach damals davon, dass zwischen ihm und dem künftigen Präsidenten eine Art Vater-Sohn-Beziehung bestehe, und als Macron im Mai 2017 in den Elyseepalast einzog, vergoss der altgediente Lokalpolitiker Collomb sogar Tränen.
Bis zum Sommer 2018 sollte er seinen jungen Helden, über den er nichts kommen liess, mit väterlichem Wohlwollen begleiten und ihm auf fast peinliche Art und Weise die Schuhe putzen. Noch vor wenigen Wochen sagte er nach einer Rede des Präsidenten: „Sie war gespickt mit wunderbaren Zitaten. Emmanuel Macron hat etwas von einem Poeten, wenn er die Gesellschaft beschreibt.“
Der Bruch
Und jetzt also der Bruch zwischen dem politischen Schwergewicht im strategisch wichtigen Innenministerium und Nummer 2 der französischen Regierung und dem einst so souveränen Präsidenten, der eine neue Welt versprochen hatte und alles im Griff zu haben schien. Auslöser für diesen gegenseitigen Liebesentzug war offensichtlich die Affäre um Präsident Macrons Leibwächter und Sicherheitsberater, Alexandre Bennala, zu Beginn des Sommers. Der 26-Jährige, der Macron schon im Wahlkampf geschützt hatte und danach sozusagen im Gepäck mit in den Elyseepalast genommen wurde, hatte, wie ein Video zeigte, als Polizist verkleidet bei ausufernden 1. Mai-Demonstrationen auf Demonstranten eingeprügelt.
Der Innenminister wusste davon nichts, musste aber vor dem Parlament Rede und Antwort stehen, fühlte sich erniedrigt und weigerte sich lautstark, die Verantwortung für diese Affäre zu übernehmen. Dies war der Anfang der Entzweiung eines ungleichen Paars. Prompt verschwand das traditionelle montägliche Mittagsessen zwischen Innenminister und Präsident von der offiziellen Agenda des Elyseepalastes.
Starke Töne
Als nach der Sommerpause die politische Geschäfte wieder aufgenommen wurden, zog Innenminister Collomb, der alte Lokalfürst aus Lyon, die nächsten Register. In Interviews begann er den Präsidenten, ohne ihn direkt zu nennen, für seine abgehobene, autoritäre Ausübung der Präsidentschaft offen zu kritisieren. „Im Griechischen“, so Collomb, „gibt es das Wort Hybris, wenn sich jemand seiner selbst allzu sicher ist. Die Götter liessen diejenigen, die der Hybris verfallen waren, erblinden. Wir dürfen aber nicht von Blindheit geschlagen werden.“
Darauf folgten weitere Interviews, in denen Collomb bei Macron mangelnde Demut und das Abgehobensein kritisierte. Macron lasse fast niemanden mehr an sich heran, kaum jemand könne noch offen mit ihm sprechen, der Präsident sei entrückt.
Minister auf Abruf
Doch das war noch nicht alles. Mitte September kündigte der Innenminister zur Überraschung aller an, er werde nur noch bis nach den Europawahlen im Mai 2019 im Amt bleiben, danach sich auf seine Stadt Lyon zu konzentrieren, um dort 2020 wieder Bürgermeister zu werden. Ein Minister, der dem Präsidenten angekündigt, wann er gedenkt, sein Amt niederzulegen, ist in der 5. Französischen Republik ein bisher einmaliger Vorgang. Darauf hagelte es Kritik von allen Seiten über diesen Innenminister auf Abruf, von Fahnenflucht war die Rede und von der Unverschämtheit, in fortgeschrittenem Alter seine lokalpolitische Karriereplanung über das Allgemeininteresse zu stellen.
Ein Fehler nach dem anderen
Eigentlich schien klar, dass Emmanuel Macron diesen Innenminister umgehend entlassen musste, doch der Präsident tat es nicht. Das war sein erster Fehler. Am Montagabend dieser Woche ging Collomb dann noch einen Schritt weiter. Während sein Dienstwagen mit laufendem Motor wartete, um ihn für einen zweitägigen Afrikabesuch zum Flughafen zu bringen, sagte der 71-Jährige kurzfristig einfach alles ab, ging die 100 Meter von seinem Ministerium über die Strasse zum Elyseepalast und überreichte dem Präsidenten sein Rücktrittsgesuch. Und der Präsident machte prompt den zweiten Fehler: Er akzeptierte es nicht!
Sollte Macron gedacht haben, er könne seinen widerspenstigen Innenminister damit beeindrucken, hatte er sich getäuscht. Am kommenden Nachmittag liess Collomb via die konservative Tageszeitung „Le Figaro“ verlauten, er bleibe dabei und halte sein Rücktrittsangebot aufrecht. Nun konnte Macron definitiv nicht mehr anders und akzeptierte mitten in der Nacht das Anliegen von Collomb.
Was bleibt: Ein Innenminister hat es geschafft, den Staatspräsidenten dazu zu zwingen, ihn zu entlassen.
Autoritätsverlust
Dieses peinliche Lavieren auf höchster Ebene war für die Opposition, auch wenn sie bislang noch genau so schwach ist wie vor einem Jahr, ein gefundenes Fressen. Der Chef der geschrumpften sozialistischen Partei, Olivier Faure tönte:
„Jupiter ist vom Olymp gestürzt. An der Spitze des Staates fehlt es an Autorität. Wir haben einen Präsidenten, der nicht mehr in der Lage ist, seine eigenen Minister zu überzeugen, ihn zu unterstützen und mit ihm zu arbeiten.“
"Ceci n'est pas une pipe"
Frankreichs Kommentatoren sprechen angesichts der Art und Weise des Rücktritts von Innenminister Collomb mittlerweile von Kasperltheater, Vaudeville, von einer Farce oder einer Tragikkomödie.
Vor vier Monaten noch hätte niemand für möglich gehalten, was derzeit rund um Frankreichs einst so optimistischen und smarten Präsidenten geschieht. Es ist, auch angesichts des spektakulären Rücktritts des populären Umweltministers Hulot live während eines Radiointerviews vor einem Monat, als würden Emmanuel Macron die Dinge aus den Händen gleiten. Und es wirkt schon fast surrealistisch, wenn der Präsident dann nach der traditionellen Kabinettssitzung am Mittwochvormittag via Regierungssprecher verlauten lässt: „Dies ist mitnichten eine politische Krise und auch keine Regierungskrise.“
Den Leitartikler der Tageszeitung „Liberation" erinnerte das an den belgischen Künstler Magritte, der eine Pfeife gemalt hatte und seinem Werk den Titel gab: „Ceci n'est pas une pipe“.