Das Impfen (gegen Covid-19 selbstverständlich) ist zurzeit ein beherrschendes Thema. Es hat neue Begriffe hervorgebracht, die zu Schlüssel- und Reizwörtern geworden sind. Früh machten die Impfgegner von sich reden, die sich vorsorglich über eine drohende Impfpflicht echauffierten, und als die Vakzine endlich da waren, regte sich die Öffentlichkeit über Impfdrängler auf. Nun, da die Impfkampagne allmählich, wenn auch stotternd, in die Gänge kommt, ist das Impfprivileg zum Wort der Stunde avanciert.
Diese letzte Wortverbindung verdient einen kritischen Blick. Das lateinische Privilegium heisst wörtlich Vorrecht und meint eine Ausnahmeregelung oder ein Sonderrecht für bestimmte Einzelpersonen oder kleine Gruppen. Das Privileg ist eine begründete Abweichung von der allgemeinen Norm. Ein Beispiel ist die Pauschalbesteuerung für reiche Ausländer, die in der Schweiz keine Erwerbstätigkeit ausüben. Man gewährt ihnen ein Steuerprivileg, um das Wohnen in der Schweiz für sie finanziell attraktiv zu machen. Alle anderen, also die arbeitenden Ausländer und die Schweizer, müssen bei gleichen finanziellen Verhältnissen wesentlich mehr Steuern zahlen. Da sich dieses spezielle Privileg auch für die Allgemeinheit steuerlich vorteilhaft auswirkt, ist es in diversen Volksabstimmungen gutgeheissen worden.
Neben dem präzisen, aus der Fachsprache des Rechts stammenden Wortsinn wird der Begriff Privileg umgangssprachlich für Fortünen aller Art gebraucht: das Privileg, sich guter Gesundheit zu erfreuen oder in einer glücklichen Beziehung zu leben oder Bürgerin von Appenzell zu sein. Etwas Vergleichbares ist mit dem hitzig diskutierten Impfprivileg gewiss nicht gemeint. Vielmehr geht es wie beim Steuerprivileg auch hier angeblich um echte Vorrechte, wie die Möglichkeit des Reisens oder des Zutritts zu Konzerten oder Restaurants. Was der einen ihr Status als reiche Ausländerin, ist dem anderen seine Immunität gegen Covid-19. Doch Vorsicht! Bei dem Vergleich stimmt einiges nicht.
Schauen wir die Verwendung des Begriffs Privileg genauer an! Bezeichnet man die Freiheit der Geimpften als Privileg, so erklärt man dadurch die Freiheit zur Ausnahme – und folglich die Einschränkungen für Nichtgeimpfte zur Norm. Das ist aber augenscheinlich verkehrt: Einschränkungen sind nicht die Norm, sondern die Ausnahme. Sie erfolgen auf der Grundlage von Ausnahmerecht und können nur gelten, solange die Voraussetzungen des Ausnahmezustands bestehen. Bei Geimpften entfallen diese Voraussetzungen, und deshalb muss für sie das Einschränken wo immer möglich aufgehoben und der rechtliche Normalzustand wiederhergestellt werden. Das angebliche Impfprivileg ist kein Privileg; der Begriff ist unsinnig.
Das ist mehr als blosse Wortklauberei. Wenn die Aufhebung von Einschränkungen kein Privileg, sondern eine rechtliche Selbstverständlichkeit ist, wird es schwierig, Geimpften den Schritt in die Normalität zu verwehren. Begründungspflichtig ist dann nicht die angebliche Ungleichbehandlung von Geimpften (plus Getesteten und Genesenen) gegenüber Nichtgeimpften. Begründen müsste man vielmehr, weshalb Immunisierte nicht ins normale Leben zurückkehren sollten. Auch wenn ein Ausnahmezustand lange dauert und fast die ganze Bevölkerung betrifft, wird er dadurch nicht zur Normalität.
Mit diesem Zurechtrücken der Sichtweise entfällt auch das Argument, Geimpften wären die Einschränkungen erst dann zu erlassen, wenn alle Impfwilligen geimpft seien. Auch diese willkürliche Klausel steht und fällt mit der unhaltbaren Vorstellung eines Impfprivilegs. Wer nicht mehr unter eine Ausnahmeregelung fallen muss, ist von dieser zu befreien, ganz gleichgültig, ob andere noch weiter dem irregulären Zustand unterliegen.