1878 abgeschlossen, verfügt der Bau des Kunstmuseums Bern über jene gründerzeitliche Kubatur, die eigentlich der Traum jeder Viren-Aerosol-Bekämpferin sein müsste: Räume von unendlicher Höhe und luftiger Weite. So dass ein Besucher, der da – noch vor dem 13. September – am späteren Nachmittag, frühen Abend während fast einer Stunde völlig allein ist mit all den Tierplastiken, -präparaten, -gemälden, -illustrationen, -fotografien und -filmen, schon einmal versucht sein könnte, wie unser Rezensent, sich der lästigen Maske zu entledigen. Ha!, sagt sich da die unbeschäftigte Aufsicht. Und ha!, sagen sich ihre Kollegen, dankbar, dass endlich etwas läuft, während der Übeltäter zunehmend gereizt darauf verweist, dass er zweimal geimpft ist und ja völlig allein (!) in den Räumen. Egal.
Noch als die Maske dann halt wieder aufgesetzt ist, entblödet sich die Aufsichtsperson nicht, zu insistieren, dass keinesfalls die Nase frei belassen werden dürfe. Zwar bleibt der Tonfall des Personals schweizerisch-anständig, in der Sache aber zeigt sich exakt jenes Wilhelminische Amalgam von Untertanengeist und Obrigkeitsdünkel, das dem Bildhauer August Gaul (1869–1921) aus Berlin bekannt gewesen sein dürfte (und das dann in der DDR seine spätere Heimstatt gefunden hat, wie ein Besuch in einem Potsdamer Museum in den neunziger Jahren offenbarte …). Und das die Diskussion in der Schweiz heute zunehmend zu vergiften droht.
Und mit einem Zauberschlag ist der geimpfte maskenfreie Besucher unbedenklich geworden, das Raumklima nicht mehr in Gefahr: Wie das Kunstmuseum auf seiner Homepage mitteilt, ist – dank genereller Zertifikatspflicht – seit Montag, 13. September, die Maskenpflicht entfallen.
Kolonialismus auf Teufel komm raus
Leider sagt der nützliche, trotz ideologischen Schlagseiten informative Katalog nichts zur Wirkungsgeschichte August Gauls (Porträt von Alois Metz), der letztmals 1999 im Berliner Georg-Kolbe-Museum eine Ausstellung erhalten haben dürfte. Von den Zeitgenossen hatte er zwar höchste Wertschätzung erfahren, international aber ist er nicht rezipiert worden. Dies könnte sich nun ändern dank der Zwillenberg-Stiftung in Bern, die ihre beeindruckende Sammlung dem Kunstmuseum zur Verfügung gestellt hat.
Zwar ist Gaul, wie die Ausstellungsmacherinnen widerstrebend eingestehen müssen, auch mit grösster Anstrengung kein koloniales Gehabe abzugewinnen, anders als etwa seinem Berliner Zeitgenossen Wilhelm Kuhnert (1865–1926), dem Philipp Demandt 2018 in der Frankfurter Schirn eine grosse und differenzierte Schau ausgerichtet hatte. Aber da Gaul nun einmal zu dieser Zeit gewirkt hat, nimmt man sich eben seine «exotischen» Tiere im «Kontext» des Kolonialismus vor, und dafür ist in Bern nur das plumpeste Antikolonialismusnarrativ gut genug.
Man treibt also, provinziell-beflissen, irgendwelche Figuren von einem «Berner Rassismus-Stammtisch» auf, und deren von keinerlei historischem Sachverstand getrübte Vorurteile werden dem Publikum in schreiend neonfarbenem Magenta aufs Auge geknallt. Da kann der Katalog (von vorn bis hinten *innen gespickt) auch nicht mehr an sich halten und serviert dem Publikum seinerseits eine «Trigger-Warnung» des Inhalts, dass hier ausgewählte (darunter künstlerisch hochstehende!) Bilder «in ihrer Konstruktion von <Rasse>, Differenz und Hierarchie zu entlarven» seien.
Technik und Tierschutz
Der geneigte Besucher denkt sich sein Teil. Und wendet sich August Gauls grossartiger Kunst zu. Die Ausstellung ist in sieben «Kapitel» gegliedert, von allerdings sehr unterschiedlichem Umfang und Gewicht. «Tiere im Krieg» – das würde ganze Ausstellungen füllen, hier beschränkt es sich auf die paar Blätter, die Gaul seinem Galeristen Paul Cassirer für dessen Flugblattserie «Kriegszeit» geschaffen hatte. Interessant auch, im selben Kapitel aber nur angetippt, das Thema «Tiere in Bewegung», das zu Gauls Lebzeiten substanzielle Erforschung durch Wissenschaft und Technik erfuhr. Unter Letztere werden dann am Schluss sogar Formfindungen wie Ewald Matarés bildschöne «Liegende Kuh» (1925) aus edlem Amaranth-Holz subsumiert – als romantisierende Gegenentwürfe und «Inbegriff einer intakten Einheit mit der Natur», sagt der Katalog.
Der auch im Kapitel «Tierliebe und Tierschutz» Anlass zu Stirnrunzeln geben kann. So wird Anna Sewells «Black Beauty» (1877) wieder einmal der Kinder- und Jugendliteratur zugeschlagen, obwohl die wenige Monate nach Erscheinen dieser «Autobiographie eines Pferds» verstorbene Autorin die «aus dem Pferdischen übersetzten» (translated from the Original Equine) Schilderungen ausdrücklich allen zugedacht hatte, die irgendwie mit Pferden zu tun hatten. Hier wird dieses immer wieder erschütternde Schlüsselwerk des modernen Tierschutzgedankens in gehabtem Uralt-68er-Sound zum «klassischen Roman viktorianischer Moralvorstellungen» inklusive «Analyse der durch den Industriekapitalismus entstandenen Klassengesellschaft» verhunzt. Kluge Leute haben sehr wohl darauf hingewiesen, dass der überwältigende Erfolg des Buchs auch damit zu tun hatte, dass es, neben den Tieren, eben auch anderen eine Stimme gebe, die von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wurden: Kindern, Sklaven, Arbeitern und nicht zuletzt Frauen.
Grossartige «Grosse Löwin»
Die Ausstellung wird eröffnet durch die «Grosse stehende Löwin» (1899–1900), ein Meisterwerk des Dreissigjährigen, der mit dieser lebensgrossen Bronzeskulptur von knapp zwei Metern Länge und einer «Scheitelhöhe» von 115 Zentimetern Jahrhunderte skulpturaler Löwenikonographie zu Grabe trägt. Hier erscheint die muskulöse, kraftvolle Tiergestalt, frei von jeglicher «royal-imperialer» Indienstnahme, als nichts anderes denn als Tier – nicht nur nicht bedrohlich, sondern trotz der Aufmerksamkeit des Blicks fast schon nachdenklich.
Formal ist dies eine beeindruckende Entwicklung seit «Mutterfreuden» (1897), der sehr viel kleineren Bronze einer Löwin mit Jungen. Eine imponierend mächtige Erscheinung ist der «Grosse laufende Orang-Utan» (1896), der in Varianten und Vorstufen dokumentiert wird und unverkennbar noch in der Tradition eines Antoine Louis Barye steht. Dass Gaul aber gleichermassen ein Meister des Kleinformatigen war, zeigt der «Kleine Tierpark» (1915), dessen Tapir ebenso mit vergoldeter «Schabracke» glänzt wie bereits der Fisch im Maul des «Fischotters» (1902).
Eindringliche Tiertotenmasken
Und so halten denn Kapitel wie «Kultivierte Tiere», «Tierische Verwandtschaft» oder «Tierverhalten» zahlreiche Entdeckungen bereit. Das muss nicht alles von August Gaul sein. Eine sehr schöne Ergänzung zu seinem Werk sind etwa die 16 Tiertotenmasken, Gipsabgüsse aus dem Naturhistorischen Museum Bern, rare Zeugnisse realer Lebewesen. Während ein Panther bei geschlossenem Maul fast notgedrungen blass bleibt, erscheint eine Ziege hier von fein ziselierter Bartpracht, und fast schon monumental ist das Haupt des Gorillamännchens mit seinem gewaltigen Kamm. Monumental wirkt auch der Kopf des Eisbären, der in seiner Stilisierung der Linien geradezu an François Pompons (1855–1933) ikonischen Repräsentanten (1925) gemahnt; im Katalog nur gerade einmal als Name erwähnt, fehlt dieser bedeutende Zeitgenosse Gauls in der Ausstellung allerdings. Von der völlig ahistorischen, zeitgenössisch-hysterischen Behandlung des «Kolonialismus» abgesehen, gelingt es der Schau im Ganzen durchaus, das Werk August Gauls in seiner Zeit und den Themen, die sie bewegten, zu situieren.
(Bis 24. Oktober)