Der Literaturagent John Brockman verlegt nicht nur Bücher internationaler Wissenschaftsautoren. Er hat eine Denkfabrik initiiert, deren Ergebnisse auf edge.org präsentiert werden.
Brockman will das technisch-wissenschaftliche Denken mit dem kulturell-geisteswissenschaftlichen verbinden. Er nennt das die „dritte Kultur“. Diese neue Dimension hat er 1995 in seinem Buch, "The Third Culture: Beyond the Scientific Revolution" ausführlich beschrieben. Es ist eine Antwort auf die Entfremdung der zwei Kulturen – der wissenschaftlich-technischen und der geisteswissenschaftlichen. Diese Entfremdung war 1959 das Thema des Bestsellers von Charles Percy Snow: „The Two Cultures and the Scientific Revolution“.
Der Club der kühnen Denker
Seit 1981 versammelt John Brockman in New York Denker um sich, die zwei Dinge gemeinsam haben: Sie sind originell und auf ihrem Gebiet weltweit führend. Deswegen findet man unter ihnen internationale Shootingstars und Bestsellerautoren.
Man nannte sich damals „The Reality Club“ und traf sich, wo immer sich eine Gelegenheit bot – von chinesischen Restaurants bis zur Rockefeller University. 1996 ging die Community online und ist seitdem unter edge.org zu finden.
Die Jahresfrage
Pro Jahr stellt John Brockman seiner Community eine grundlegende Frage. Für das Jahr 2013 lautete sie: „Welche wissenschaftliche Idee ist reif für den Ruhestand?“ In dieser Woche sind die Antworten der mehr als 170 Autoren auf Edge.org veröffentlicht worden. Der Anspruch ist sehr hoch. Die Antworten sollen nicht nur originell sein, sondern Anstösse liefern. Unnachahmlich genau heisst es auf der Plattform: „We encourage work on the cutting edge of the culture“.
Der Themenkreis der Beiträge zur Frage von 2013 ist weit gespannt, aber es zeigen sich auch Schwerpunkte. So wird immer wieder danach gefragt, wie das Verhältnis der künstlichen Intelligenz zur menschlichen zu deuten ist, wo die Grenzen des wissenschaftlichen Denkens liegen, welche Rolle der Philosophie heute zukommt und ob unser Menschen– und Gesellschaftsbild zutrifft.
Nicht alles ist wirklich originell, manche Autoren verlieren sich in wissenschaftlichen Spezialproblemen. Aber manche Antworten bescheren die Aha-Erlebnisse, die die Plattform verspricht.
Vermeintliche Informationsflut
So beschäftigt sich Jay Rosen, Professor für Journalistik an der New York University, mit der Frage, ob wir es tatsächlich mit der viel beklagten „Information Overload“ zu tun haben. Kurz und knapp legt er dar, dass nicht die Inforamtionsflut das Problem ist, sondern der Mangel an geeigneten Filtern. Drei davon führt er vor: Jemand, der aus der Flut dasjenige auswählt, was relevant ist. Der englische Ausdruck dafür lautet „Editor“, und als Beispiel nennt Rosen die Front Page der New York Times.
Ein weiterer Filter sind Algorithmen. Das Beispiel dafür ist Google. Und der dritte Filter besteht in lernenden Algorithmen, wie sie Amazon verwendet. Worin besteht nun das Problem bei den Filtern? Am Ende könnte es passieren, dass sie nur das durchlassen, was wir erwarten.
Unverzichtbare Philosophie
Sehr pointiert argumentiert auch die Philosophin Rebecca Newberger Goldstein. Entgegen landläufiger Meinung mache die Wissenschaft die Philosophie nicht überflüssig. Es sei nicht so, dass die Philosophie Fragen stelle, die letztlich von der Wissenschaft beantwortet würden. Vielmehr bedürfe es der Philosophie, um die Antworten der Wissenschaften zu dem kohärenten Weltbild zu formen, das wir für unser tägliches Leben benötigen. Allein die Unterscheidung zwischen dem, was als Wissenschaft gelten kann, und dem, was diesem Anspruch nicht genügt, sei selbst schon philosophisch. Und die Autoren endet mit einer schönen Pointe: Wenn schon eine Idee pensioniert werden müsse, dann sei es die der reinen „Science“.
Auch namhafte Wissenschaftler stellen einiges von dem, was in ihrem Bereich als selbstverständlich gilt, zur Disposition. So beschäftigt sich der Physiker W. Daniel Hillis mit der Frage nach Ursache und Wirkung. In unserem täglichen Leben hätten wir ständig damit zu tun. Irgendetwas löst etwas anderes aus. Das ist auch der Schema, nach dem wir handeln. Im Grunde sei das die Art, wie wir Geschichten erzählen: „Storytelling“. Die Welt selber aber lasse sich nicht mit dem einfachen Ursache-Wirkung-Schema erklären. Lebende Organismen, gesellschaftliche Vorgänge oder das Geschehen an der Börse seien wesentlich komplexer.
Die Grenzen des Verstandes
Dieser Gedanke ist natürlich nicht neu, aber originell daran ist, dass er das Schema von Ursache und Wirkung als ein Mittel zum Geschichtenerzählen bezeichnet, das in der Natur selbst nur selten eine Entsprechung findet. In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag von dem Philosophen A. C. Crawling, der in London und Oxford lehrt. Er beschäftigt sich mit dem Axiom, dass Erklärungen so einfach wie möglich sein sollten. Dieses Axiom scheitere aber an der Komplexität der Realität.
Ganz ähnlich argumentiert der Astrophysiker und Romanautor Gregory Benford. Das Bestreben, möglichst „elegante“ Formeln oder Modelle für die Erklärung der Wirklichkeit zu finden, sei nicht immer der richtige Weg: „Wenn wir ein Mathematikmodell elegant und schön nennen, enthüllen wir die Begrenzungen unseres eigenen Verstandes.“
Manche wissenschaftliche Theorien sind nicht nur scheinbar einfach und elegant, sondern erfreuen sich grösster Popularität. Dazu gehört die These, dass unser Gehirn aus zwei Hälften bestehe, von denen die eine für die Logik, die andere für die Emotionen zuständig sei. Gleich mehrfach wird diese These angegriffen. So argumentiert die Professoren für Neurowissenschaften, Sarah-Jayne Blakemore, dass es keinen Sinn ergebe, beide Sphären so zu betrachten, als könne die eine oder die andere dominant sein. Entsprechend müsse man sich von der Vorstellung verabschieden, dass manche Menschen durch die rechte oder die linke Gehirnhälfte charakterisiert seien.
Vergebliche Anläufe
Nicht allen Autoren gelingt es, wissenschaftliche Ideen, die sie für überholt halten, überzeugend zu widerlegen. Ein Beispiel dafür bietet der Münchener Neurobiologe Ernst Pöppel. Er möchte mit der Vorstellung aufräumen, dass die Zeit ein Kontinuum darstellt. Sein Argument ist, dass das Gehirn optische und akustische Reize unterschiedlich schnell weiterleitet, verarbeitet und erst nachträglich so zusammensetzt, dass wir meinen, es jeweils mit einer zusammenhängenden Realität zu tun zu haben. Dieses Argument ist sehr interessant, aber es setzt die Vorstellung einer kontinuierlichen Zeit voraus, um einen Sinn zu ergeben.
Der Journalist und Autor David Berreby scheitert an einem sehr sympathischen Versuch: Er möchte mit der Vorstellung aufräumen, dass die Menschen sich wie Herdentiere verhalten, also wie „Schafe“ seien. Hinter dieser These stecken zahlreiche sozialpsychologische Experimente, die belegen, wie anfällig Menschen für Suggestionen sind. Und nicht zuletzt: Historische Erfahrungen erweisen nicht gerade, dass Menschen immer autonom und verantwortlich handeln.
Ein falscher Vergleich
Um seine These zu untermauern, bezieht sich Berreby auf ein Experiment, in dem die Versuchspersonen die Länge von Linien schätzen sollten, die auf Karten aufgezeichnet waren. Die Versuchsanordnung war so angelegt, dass eine Mehrheit von instruierten Teilnehmern absichtlich eine falsche Länge angab. Würden sich die Versuchspersonen der Mehrheit beugen oder nicht? Das Experiment ergab, dass die Mehrzahl der eigentlichen Versuchspersonen auf der eigenen richtigen Einschätzung beharrte.
Berreby irrt sich aber, wenn er meint, dass ein solches Experiment den gleichen Druck erzeugt wie das von berüchtigte „Lernexperiment“ von Stanley Milgram oder das berühmte Stanford-Prison-Experiment von Philip Zimbardo. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man über die Länge von Linien diskutiert oder sich in einer Situation befindet, in der das Ich durch den Gruppendruck geradezu zermalmt wird.
Kein Denken ohne Gefühle
Einer der originellsten Köpfe unserer Zeit ist David Gelernter. Dieser Computer-Wissenschaftler räumt in seinem Beitrag mit der „Grand Analogy“ auf, die zwischen dem menschlichen Denken und der künstlichen Intelligenz hergestellt wird. Er führt eine Reihe von Argumenten an und einige sind einfach wunderbar pointiert: „There are computers without software, but no brains without minds.“ Überhaupt lasse sich menschliches Denken ohne Gefühle nicht verstehen, aber den Computern fehle dazu jeder Zugang, weil sie keine Entwicklung im menschlichen Sinne durchmachen: „The process of growing up is innate of human being.“
Ganz besonders charmant räumt die Psychologin Tania Lombrozo mit der Vorstellung auf: „The mind is just the brain“. Zwar würden viele Experimente den Gedanken nahe legen, dass Prozesse, die im Gehirn ablaufen, bereits wirksam werden, bevor sich der Mensch ihrer bewusst wird. Aber das sei eine zu einseitige Sicht. Als Beispiel für einen umfassenderen Ansatz wählt sie das Backen.
Der Geist und das Backen
Das Backen könne selbstverständlich chemisch in Bezug auf die Zusammensetzung der Zutaten analysiert werden, zudem gäbe die Physik über die Abläufe Auskunft. Aber bezüglich der Frage, worin das gewisse Etwas besteht, das am Ende dazu führt, dass ein Kuchen gelingt oder nicht, genügten weder die chemische noch die physikalische Analyse. So verhalte es sich auch mit dem Gehirn und dem Geist.
Die Liste der jährlichen Edge-Fragen und der dazugehörigen Publikationen lässt sich auf der Website edge.org bis 1998 zurückverfolgen. Die Frage des letzten Jahres lautete: “What should we be `worried` about?“ Und den Auftakt machte die Frage: „What questions are you asking yourself?“