Im Tessin wirbt die SVP mit dem Slogan «100% valori svizzeri». Doch wie hält es die Partei tatsächlich mit den Werten, die historisch gewachsen und in der Bundesverfassung festgelegt sind?
Die Wahlinserate der Tessiner SVP, vor allem im «Corriere del Ticino», sind zahlreicher und grösser als jene anderer Parteien. Jetzt hat die SVP die Leser mit einem neuen Text überrascht. In grossen Lettern steht geschrieben: «Caro Cassis, solo gli svizzeri fanno la Svizzera» (Lieber Cassis, nur die Schweizer machen die Schweiz aus) und weiss auf rotem Hintergrund «100% valori svizzeri».
Das könnte damit zusammenhängen, dass der Aussenminister als Wahlkämpfer an einer freisinnigen Wahlveranstaltung im Tessin fragte, wofür man kämpfen müsse. Seine Antwort: «Fürs Tessin? Nein, in erster Linie für die Liberalen.»
Oder hat es damit zu tun, dass Cassis kurz vor seiner Wahl in den Bundesrat auf seine italienische Staatsbürgerschaft verzichtet hatte und die SVP ihm nun unterstellt, kein richtiger Schweizer zu sein? Das wäre aber deshalb nicht schlau, weil wohl die meisten Tessinerinnen und Tessiner eine Nonna oder einen Nonno haben, die nicht Tessiner Wurzeln haben, sondern meistens aus dem südlichen Nachbarland stammen.
In wenigstens einem Punkt hat die SVP recht, wenn sie schreibt, die Schweiz sei ein wunderschönes Land und es gelte, die schweizerischen Werte zu verteidigen. Doch welches sind die Schweizer Werte? Blättern wir in unserer Bundesverfassung: Zu Beginn, in der Präambel, lesen wir: Wir sind bestrebt «den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken». Weiter heisst es: Frei ist nur, «wer seine Freiheit gebraucht» und: «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.»
Diese Werte sowie das Zusammenleben von vier Sprachen und Kulturen, die halbdirekte Demokratie und der Föderalismus sind kostbare Güter, die es zu wahren gilt. Aber treten die Kandidatinnen und Kandidaten der SVP für diese Werte ein? Sie sagen, dass es in der Schweiz zu viele Ausländer habe – und dennoch sind sie immer bereit, die Steuern zu senken, um vermögende Ausländer und Firmen anzulocken, die auch ihre Mitarbeiter mitbringen, die sogenannten Expats, die hochqualifiziert sind, aber sich kaum für unsere Sprache interessieren. In Zug und in Zürich ist es normal, Englisch zu sprechen, sei es bei der Arbeit, in den Restaurants oder in den Geschäften.
Es ist eine Tatsache, dass in der Schweiz qualifizierte und andere Arbeitskräfte fehlen; das betonte kürzlich der neue Präsident des Arbeitgeberverbandes, Severin Moser, im Tagesgespräch von Radio SRF. Es gibt viele Asylsuchende mit N- und F-Bewilligungen, die wegen Krieg und drastischen Menschenrechtsverletzungen nicht in ihre Heimat zurückkehren können. Viele der jungen Leute finden keine Lehrstelle und keine Arbeit. Wenn man ihnen wirklich behilflich wäre, eine Berufslehre zu beginnen und eine Stelle zu finden, wäre das ein grosser Vorteil für die Schweiz, denn es müsste weniger Sozialhilfe geleistet werden; gleichzeitig wären Asylsuchende finanziell unabhängig und gewännen Selbstvertrauen.
Solche Initiativen werden von der SVP stets abgelehnt (auch gegen den Willen mancher Parteifreunde in Behörden und im Gewerbe). Die Partei Christoph Blochers und seiner Gefolgsleute zieht es vor, Asylsuchende und Ausländer zu verleumden und schlecht zu machen. Zur Zeit von James Schwarzenbach war die BGB, wie die SVP früher hiess, darauf bedacht, Distanz zu halten zum wortgewaltigen Demagogen. Heute ist die Rhetorik der SVP gegen Ausländer nicht weniger krass als beim damaligen Agitator gegen Überfremdung – mit dem gewichtigen Unterschied, dass Schwarzenbach zur Zeit der knappen Ablehnung seiner Volksinitiative im Parlament ein Einzelgänger war, während die SVP heute die stärkste Partei der Schweiz ist.
Eine weitere Eigenheit der Schweiz ist der Kompromiss. Er war entscheidend bereits bei der Schaffung des Bundesstaats im Jahr 1848. Die Liberalen, die Sieger im Sonderbundskrieg, gewährten den unterlegenen katholischen Kantonen neben dem Nationalrat, der Volksvertretung, eine zweite Kammer, den Ständerat als Vertretung der Kantone, so dass die Verliererkantone den Bundesstaat anerkennen konnten.
Seit einiger Zeit ist die SVP immer weniger bereit, Hand für einen Kompromiss zu bieten. Sie verhöhnt ihn als Kuhhandel, als Verrat an den Grundsätzen. Blocher gibt noch einen drauf und redet auch unsere demokratischen Institutionen schlecht.
Die SVP will auch keine Lösung des Konflikts mit der Europäischen Union, unserem wichtigsten Wirtschaftspartner, der aus Ländern besteht, die unsern demokratischen Werten am nächsten stehen. Überdies will SVP-Vordenker Blocher der Schweiz mit seiner neuen Volksinitiative eine absolute Neutralität aufzwingen, die es so gar nie gegeben hat. Die Neutralität war ein Instrument, um in den Zeiten, da unser Land von verfeindeten Nationen umgeben war, unbeschadet fortbestehen zu können.
Die SVP ist eine Partei mit vielen begüterten Menschen, deren Interessen sie erfolgreich vertritt. Ihre Parlamentarier stimmen gegen eine wirksamere Unterstützung für jene Familien, die kaum mehr die ständig steigenden Krankenkassenprämien bezahlen können. Geht es aber um die Anliegen des Bauernverbandes, schmilzt der Sparwille dahin. Die SVP verhinderte zudem eine für die Frauen vorteilhafte Gesetzesrevision der Pensionskassen. Sie unterstützte jedoch Gesetzesänderungen, welche die Mieter benachteiligen. Sofern es darum geht, den Familien finanziell zu helfen, welche wegen der steigenden Lebenskosten ihre Rechnungen kaum noch bezahlen können, lehnt sie die Kredite ab.
Das scheint der SVP nicht zu schaden. Sie wettert gegen die Ausländer, die Migration und die Asylsuchenden, und damit gelingt es ihr, Stimmen von vielen Menschen zu gewinnen, die auf der Schattenseite leben.