Am Ende ging an diesem verregneten Dienstag alles sehr schnell im Rahmen des monarchisch-republikanischen Rituals der Amtsübergabe: Nach dem obligatorischen, diesmal 40 Minuten langen Vieraugengespräch gab es vor dem Eingang des Palastes einen kurzer Händedruck zwischen dem alten und dem neuen Präsidenten, die Gesichter waren ernst, ja fast verkrampft. Ein Küsschen zwischen Carla Bruni-Sarkozy und Valéry Trierweiler, der Lebensgefährtin des neuen Präsidenten - und Nicolas Sarkozy stieg die wenigen Stufen hinunter zum langen roten Teppich, der ihm den Weg über den Schotter des Ehrenhofs im Elyséepalast ein letztes Mal ebnete. Instinktiv griff er schnell nach Brunis Hand, um sie gleich wieder loszulassen und dem angetretenen Personal des Elyséepalastes zum Abschied zuzuwinken, bevor er die dunkle Limousine bestieg.
François Hollande hatte diese Szene schon gar nicht mehr gesehen. Unmittelbar nach dem Händedruck am oberen Ende der Treppe hatte er dem Scheidenden den Rücken gekehrt und war im Inneren des Präsidentenpalastes verschwunden. Noch bis zur Abfahrt zu warten oder seinen Vorgänger gar bis zum Auto zu begleiten, war Hollande sichtlich zu viel. Die Brutalität des Wahlkampfs hatte ihre Spuren hinterlassen, für den neuen Amtsinhaber gab es eine knappe Woche nach dem Wahlsieg ganz offensichtlich keinen Grund für Versöhnlichkeiten. Schon wenige Stunden später warf man ihm deswegen mangelnde Eleganz vor. Mag sein – nur: Wenn man sich erinnert, wie grenzenlos unelegant, um nicht zu sagen vulgär sich der scheidende Präsident fünf Jahre lang verhalten hatte, wäre eine versöhnliche Geste seitens von François Hollande wohl einer fast übermenschlichen Anstrengung gleichgekommen.
Mit seiner abrupten Kehrtwende und seinen raschen Schritten in den Festsaal des Elysées hatte Hollande zudem die direkt übertragenden Fernsehanstalten in Verlegenheit gebracht: Sie mussten sich für die unmittelbar beginnende Zeremonie der Angelobung entscheiden und konnten so kein Bild vom davonfahrenden Sarkozy zeigen, der von 200 Parteianhängern – die seit den frühen Morgenstunden das Trottoir gegenüber dem Elysée besetzt hatten – ein letztes Mal bejubelt wurde. Zuvor hatten sie fast jeden der 400 von Hollande geladenen, ankommenden Gäste beim Verlassen der Autos in der Strasse rüpelhaft ausgebuht - wohl ein letztes Beispiel für die Eleganz "Marke Sarkozy".
Die Abrechnung
François Hollande liess auf diese schroffe Verabschiedung dann auch noch deutliche Worte folgen. Nachdem ihn der Präsident des Verfassungsgerichtes offiziell zum Präsidenten der Republik erklärt und er als solcher das Grosskreuz der Ehrenlegion entgegen genommen hatte, hielt Frankreichs neues Staatsoberhaupt eine konzise, kompromisslose und hochpolitische Rede von knapp zehn Minuten. Wer bis dahin immer noch nicht gemerkt hatte, dass das ihm angedichtete Image des Weichlings meilenweit von der Realität entfernt war, sollte spätestens da eines Besseren belehrt werden. Jeder zweite Satz glich einer Abrechnung mit den Gewohnheiten, Attitüden und Orientierungen seines Vorgängers in den letzten fünf Jahren.
Mit gesundem Selbstbewusstsein stellte Hollande in dieser Rede und bei zahlreichen anderen Gelegenheiten im Lauf dieses Tages der Amtsübernahme klar, dass die Sozialpartner, die Lehrerschaft, die Forscher, das Krankenhauspersonal, die Richter und Staatsanwälte oder die Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst von nun an wieder respektiert würden, dass das Land dringend Besänftigung und Versöhnung nötig habe, dass er nicht der Präsident von allem und jenem sein werde und dass der Staat unter seiner Präsidentschaft vorbildlich und unparteiisch zu sein habe. In jeder Zeile eine Anspielung auf die dutzendfachen Entgleisungen der Ära Sarkozy und auf die Gewohnheit seines Vorgängers, den anklagenden Zeigefinger auf unzählige Berufsgruppen oder Interessenverbände zu richten, sie abzukanzeln, ja zu erniedrigen. Mancher mag sich an diesem Tag daran erinnert haben, dass der scheidende Präsident zum Beispiel die Richter seines Landes eines Tages als Erbsen bezeichnet hatte. Diese Art von Unflätigkeit und Vulgarität soll den Franzosen in seiner Amtszeit erspart bleiben – so eines der klaren Zeichen, die François Hollande an diesem 15. Mai 2012, dem Tag der Machtübernahme, gesetzt hat. Und er wird nicht ein Präsident sein, der die in der französischen Gesellschaft ohnehin zur Genüge herrschenden Spannungen noch weiter anheizt. Gelingt ihm auch nur dies und kann er den Anspruch einlösen, gemeinsam mit seinen Ministern in den nächsten Monaten wirklich beispielhaft und moralisch integer zu agieren, dann wäre dies immerhin schon etwas. Dies zumindest erwarten die Franzosen wirklich von den neuen Machthabern und dies können sie auch sofort erwarten. Ganz anders als die Versprechungen im ökonomisch–sozialen Bereich.
Die neue Regierung - Meisterwerk der Symbolik
Jeder Nicht-Franzose mag darüber, und durchaus zu Recht, schmunzeln. Doch eine Regierungsbildung nach einer Präsidentschaftswahl gleicht in diesem Land der Komposition eines komplizierten Orchesterwerks oder der Herstellung eines Meisterstücks in den Ateliers eines Modeschöpfers – hergestellt und präsentiert unter fürchterlichem Zeitdruck. 48 Stunden lang wird hinter den Kulissen gestrickt, wieder aufgerollt, verschoben, verhandelt und gestritten, bis dann endlich der Generalsekretär des Elysées vor das einsame Standmikrophon im Eingang des Palastes tritt und mit neutraler Stimme eine Litanei von Namen und Bezeichnungen der Ministerien herunterliest - im Anschluss an die Formel, die das komplizierte Beziehungsgeflecht an der Spitze des französischen Staates zum Ausdruck bringt und da lautet: „Auf Vorschlag des Premierminister hat der Präsident der Republik ernannt … .“ 34 Mal musste der gute Mann diesmal Luft holen, um in der gebotenen Trockenheit und in der protokollarischen Reihenfolge das neue Kabinett der Öffentlichkeit zu präsentieren
Den Premierminister, den getreuen Jean Marc Ayrault, 15 Jahre Fraktionschef der Sozialisten im Parlament, hatte François Hollande noch am Tag der Amtsübernahme kurz vor seinem Flug nach Berlin zu Angela Merkel ernannt. Der langjährige Bürgermeister der westfranzösischen Metropole Nantes und ehemalige Deutschlehrer - Ostdeutschlehrer frotzelten gerne die Genossen ob seiner relativ neutralen Ausstrahlung - durfte sich also an die Arbeit machen. An diesen Drahtseilakt gilt es: Möglichst viele verschiedene Regionen des Landes zu berücksichtigen, keine Strömung der sozialistischen Partei zu kurz kommen zu lassen, die versprochene Parität zu wahren, die ethnische Vielfalt der französischen Bevölkerung wieder zu spiegeln, möglichst wenig alte Weggefährten zu enttäuschen, den Grünen auch noch was zu geben sowie den alten Radikalsozialisten, diesem vor allem im Südwesten des Landes angesiedelten Überbleibsel von notorischen Pfaffenfressern aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert, und bei all dem zu schauen, dass die eine und der andere für den vorgeschlagenen Posten möglichst auch noch eine gewisse Kompetenz mitbringen.
Das Ergebnis kann sich diesmal, gerade was die darin enthaltene Symbolik angeht, durchaus sehen lassen.
Die neue Regierungssprecherin z.B., Najad Vallaud–Belkacem, die letzten Donnerstag der Presse das Resumée der ersten Kabinettssitzung vortrug, ist gar ein wandelndes Mehrfachsymbol. Mit 34 Jahren ist sie zunächst die Jüngste in der Regierungsmannschaft, in der immerhin sieben Minister unter 40 Jahre alt sind. Dann ist sie eine Frau, ausserdem Tochter marokkanischer Einwanderer. Und schliesslich bekleidet sie das wiederbelebte Amt der Frauenministerin. Und, nicht ganz zu vergessen: Sie ist eine Protegierte der ehemaligen Lebensgefährtin des neuen Präsidenten, Ségolène Royal. So könnte man fast endlos fortfahren. Manuel Valls (49), der neue Innenminister, in Katalonien geboren und erst mit 18 Franzose geworden, in Fragen der Inneren Sicherheit für relativ strenge Positionen bekannt, soll dafür sorgen, dass zwischen einer sozialistischen Regierung und den Polizeikräften des Landes ein möglich reibungsloses Verhältnis herrscht. Dass er seit über zehn Jahren Bürgermeister von Evry, einer grossen Problemvorstadt südlich von Paris war, kann dabei nur helfen und macht ihn glaubwürdig.
Und ein letztes, und nicht das unwichtigste Beispiel für die Fülle von Symbolen, die mit dieser Regierungsbildung verbunden sind: Sowohl der Aussenminister, die No. 2 der Regierung, Laurent Fabius - der einzige wirkliche sozialistische Elefant im Kabinett - als auch sein beigeordneter Europaminister, Bernard Cazeneuve, waren beim Referendum 2005, in Opposition zur damaligen, von François Hollande angeführten sozialistischen Parteimehrheit, dezidierte Gegner der EU-Verfassung, welche die Franzosen dann auch mit fast 55 % der Stimmen abgelehnt haben. Mit der Ernennung von Fabius und Cazeneuve signalisiert Hollande nach innen: Ich habe Befürworter und Gegner der EU-Verfassung im Schoss meiner Regierung vereint. Nicht unwesentlich angesichts der Tatsache, dass viele Franzosen sich betrogen fühlen und bis heute nicht verdaut haben, dass der abgeänderte EU-Vertrag, der Lissabonner-Vertrag, Anfang 2008 nicht erneut per Referendum, sondern auf parlamentarischem Weg ratifiziert wurde. Ausserdem wirkt Fabius' Ernennung auch als Signal nach aussen, wie eine Anerkennung der Tatsache durch Präsident Hollande, dass die aus der Finanz- und Wirtschaftskrise resultierenden Entwicklungen der letzten Jahre in Europa den französischen Kritikern der EU-Verfassung nachträglich in zahlreichen Punkten Recht gegeben haben.
Parlamentswahlen in drei Wochen
Nun aber müssen der frisch amtierende Präsident und seine sozialistische Partei erst einmal auch noch die Parlamentswahlen am 10. und 17. Juni gewinnen, um auch wirklich agieren zu können. Und dies ist, bei näherem Hinsehen, durchaus keine Formalität. 577 Parlamentssitze gilt es zu besetzen, die Mehrheit liegt also bei 289. In 244 Wahlkreisen aber hatte Nicolas Sarkozy am 6. Mai die Mehrheit der Stimmen geholt, in rund 50 weiteren François Hollande nur mit ein bis zwei Prozent Vorsprung gewonnen.
Was zudem im Trubel des Wahlsiegs von François Hollande und der ohnehin nicht wirklich überschäumenden Begeisterung untergegangen ist: Frankreichs Wählerschaft ist während des letzten Urnengangs nicht wirklich nach links gerückt. Die Kandidaten der traditionellen Rechten und die der extremen Rechten haben im 1. Durchgang der Präsidentschaftswahl am 22. April zusammen eine Million Stimmen mehr erzielt als François Hollande und die anderen linken und extrem linken Kandidaten zusammen.
Gleichzeitig muss es immer und immer wieder betont werden: Frankreichs Linke ist in dieser 5. Republik im Grunde nie aus eigener Kraft an die Macht gekommen, sondern stets dank anderer und – was die Parlaments- und Kommunalwahlen angeht – dank eines angesichts der realen Kräfteverhältnisse im Land als pervers zu bezeichnenden Wahlsystems.
1981 hatte Francois Mitterrand gewonnen, weil Jacques Chirac sich in den Kopf gesetzt hatte, mittelfristig der Chef der Konservativen werden zu wollen und indirekt, aber doch sehr deutlich, zwischen den beiden Wahlgängen dazu aufgerufen hatte, gegen Giscard d'Estaing zu stimmen. Diesmal hat es der Sozialist Hollande geschafft, weil die extreme Rechte ihren Wählern eingetrichtert hat, Sarkozy sei mindestens genauso schlimm wie Hollande. Die Folge: 2,5 Millionen Wähler – ein Rekord – haben bei der Stichwahl einen weissen oder ungültigen Stimmzettel abgegeben! Man darf davon ausgehen, dass die meisten von ihnen Wähler der Nationalen Front waren. Und jedes Mal wenn in den letzten Jahrzehnten die Linke im französischen Parlament eine Mehrheit hatte und wenn sie heute in fast allen grossen Städten den Bürgermeister stellt - dann einzig und allein dank der Nationalen Front - mit Ausnahme der fünf Jahre zwischen 1981 und 1986, nach der ersten Wahl Mitterrands zum Staatspräsidenten.
Denn das geltende Mehrheitswahlrecht mit zwei Durchgängen sieht vor, dass jeder Kandidat, der im 1. Durchgang mindestens 12,5 % der Stimmen der eingeschriebenen Wähler auf sich vereint, im 2. Durchgang nochmals antreten kann. Und eben dies haben die Kandidaten der Nationalen Front in den letzten Jahrzehnten stets konsequent getan und auf diese Art etwa den Wahlsieg der Sozialisten 1997, nach der merkwürdigen Auflösung des Parlaments durch Jacques Chirac, überhaupt erst möglich gemacht. Dank ihrer erneuten Kandidatur im 2. Durchgang in rund 70 Wahlkreisen lag dort damals am Ende jeweils ein Sozialist an erster Stelle.
Dies erinnert daran, dass gut informierte Kreise in Frankreich stets behauptet haben, François Mitterrand, der Florentiner und Machiavel der Politik, der in seinen jungen Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg selbst das ultrarechte Milieu frequentiert hatte und persönlich noch in den 70-er Jahren und darüber hinaus Umgang mit ehemaligen Kollaborateuren wie René Bousquet pflegte – habe Anfang der 80-er Jahre den Aufstieg von Jean Marie Le Pen bewusst gefördert. Eine Behauptung, die nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Zumindest hat sich Mitterrand 1983/84 diskret dafür stark gemacht, dass Jean Marie Le Pen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen France 2 mehr Präsenz zugestanden wurde.
Angesichts der fast 18 % von Marine Le Pen im 1. Durchgang der Präsidentschaftswahl 2012 dürfen sich Frankreichs Sozialisten auch bei der kommenden Parlamentswahl eine grosse Anzahl von Wahlkreisen erhoffen, in denen die Kandidaten der Nationalen Front auch im 2. Durchgang noch einmal antreten werden. Bei gleich hoher Wahlbeteiligung am kommenden 10. Juni - was unwahrscheinlich ist - wären es angesichts der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen sogar 350 Wahlkreise. Doch wird wirklich weiter gelten, was bisher üblich war? Man möchte diesmal nicht mehr von vornherein ausschliessen, dass sich hier und dort nicht doch ein Kandidat der extremen Rechten im 2. Durchgang zu Gunsten eines traditionellen Konservativen zurückzieht – und umgekehrt. Inhaltlich sind schliesslich im Lauf der letzten Monate und dank Nicolas Sarkozys extrem rechtslastigem Wahlkampf eine ganze Reihe von Dämmen gebrochen zwischen der traditionellen und der extremen Rechten. Sarkozy selbst hat Marine Le Pen als legitim bezeichnet, sein Verteidigungsminister hat sie eine Diskussionspartnerin genannt. Ausserdem würden mittlerweile 70 % der konservativen Wähler gewisse Wahlabsprachen als normal erachten. Der von Jacques Chirac einst streng gezogene Sicherheitskordon gegenüber der extremen Rechten wird ganz offensichtlich brüchig.
Und François Hollande könnte am Ende, am 17. Juni, über eine weitaus knappere Mehrheit im Pariser Parlament verfügen, als er sich das wünschen würde. Dass es gar erneut zu einer Cohabitation zwischen einem sozialistischen Präsidenten und einer konservativen Regierungsmehrheit kommen könnte, wäre jedoch etwas, was das Land in seinem derzeitigen Zustand ganz gewiss nicht brauchen kann.