Im Kampf gegen die Ausbreitung des neuen Coronavirus schaltet Portugal eine Stufe zurück. An die Stelle des Mitte März geltenden Notstands („estado de emergência“) tritt an diesem Montag ein weniger strikter Ausnahmezustand („estado de calamidade“), mit dem eine behutsame und schrittweise Rückkehr zur Normalität beginnen soll. Ein Härtetest für die Hilfsorganisationen, die sich mit sozialen Notlagen konfrontiert sehen, dürfte so schnell aber nicht zu Ende gehen.
„Banken“, die Lebenmittel ausgeben
„Ich habe nie eine für die Familien so abrupte und brutale Situation erlebt“, sagt Isabel Jonet, deren Name für portugiesisches Know-how gegen den Hunger steht. Sie leitet seit 27 Jahren die Nahrungsbank gegen den Hunger (Banco Alimentar contra a Fome, BAF) in Lissabon. Dies ist die grösste Filiale eines nationalen Netzwerks von 21 derartiger „Banken“. Ihre „Einlagen“ bestehen nicht aus Geld, sondern aus Nahrungsmitteln, die sie an 2’600 staatliche, kirchliche und andere Organisationen zur weiteren Verteilung an bedürftige Personen und Familien ausgeben.
Urplötzlich, sagt die ehrenamtliche Managerin, sehen sich Angehörige ganz unterschiedlicher Berufsgruppen wegen der Coronavirus-Krise in akuter Not. Unter ihnen seien Leute, die ihren Lebensunterhalt am Steuer von Taxis, an Marktständen, in Zahnarztpraxen, in Fitness-Studios oder in Friseursalons verdienten, ausserdem natürlich Frauen und Männer aus der Touristikbranche. In diesen und manchen anderen Sektoren lief in den letzten Wochen wenig bis nichts.
Viele neue Hilferufe
In Portugal, sagt Isabel Jonet, seien die Löhne so niedrig, dass jede Brise so manche Familien aus dem Gleichgewicht bringen könne. Und nun habe das Land einen Wirbelwind erlebt. In den harten Jahren der Finanzmarktkrise, in denen die Arbeitslosenquote trotz massenhafter Emigration auf zeitweise über 17 Prozent gestiegen war, hatte das BAF-Netzwerk bis zu 420’000 Personen unterstützt. Im Zuge der wirtschaftlichen Besserung ging die Arbeitslosenquote auf unter sieben Prozent und die Zahl der Empfänger von Lebensmittelhilfe auf rund 380’000 zurück. Seit Mitte März, sagt Isabel Jonet, sind nun rund 12’000 Bitten zur Unterstützung einer auf rund 58’000 geschätzten Zahl von Personen eingegangen.
Die Einlagen dieser Banken stammen teils von Supermarktketten. Sie „spenden“ unter anderem Lebensmittel, deren Haltbarkeitsfristen bald ablaufen. An zwei Wochenenden in jedem Jahr, im Mai und in der Zeit vor Weihnachten, strömen Tausende von Helferinnen und Helfern des BAF-Netzwerks auch selbst in die Supermärkte. Am Eingang verteilen sie Plastikbeutel an die Einkaufenden mit der Anregung, ausser den Waren für den eigenen Bedarf doch auch haltbare Nahrungsmittel für die „Banken“ einzukaufen und am Ausgang abzugeben.
Wegen der Covid-19-Pandemie fällt die für Mai geplante Sammlung aber aus, sagt die BAF-Chefin. Zu einer Knappheit insbesondere an frischem Obst und Gemüse in den Beständen der Banken sei es bisher jedoch nicht gekommen, da die Restaurants als Konsumenten am Markt weitgehend ausgefallen seien. Sie durften seit Mitte März nur Mahlzeiten zum Mitnehmen verkaufen.
Eine Hilfsorganisation in Kurzarbeit
Ganz anders ist die Lage beim Netzwerk „Re-Food“, das ein in Portugal lebender Bürger der USA vor Jahren gründete, um der Verschwendung von Nahrungsmitteln entgegenzuwirken. Re-Food hat landesweit rund 50 relativ kleine Filialen, gut die Hälfte davon in Lissabon. Sie versorgen Familien in ihren Einzugsbereichen mit nicht serviertem Essen aus Restaurants und Kantinen, das sie in grossen Plastikbehältern abholen, um dieses dann in eigenen Küchen in kleinere Behälter abzufüllen und an die Bedürftigen zu verteilen.
Diese Quellen sind vorübergehend grösstenteils versiegt. Freiwillige einer Filiale in Lissabon klapperten bisher täglich zwei Kantinen ab. Eine gehört dem Sitz einer grossen Bank, deren Personal jetzt grösstenteils zu Hause arbeitet. Eine andere verpflegte das Personal des nationalen onkologischen Instituts, wo betriebsfremde Personen jetzt keinen Zutritt haben.
Schritte nach vorn und vielleicht auch wieder zurück
Die Ausbreitung des Coronavirus hat sich derweil verlangsamt. Um am letzten, durch den 1. Mai verlängerten Wochenende einen Rückfall zu vermeiden, durften die Menschen im Land – wie schon zu Ostern – die Munizipien ihrer Wohnsitze nicht verlassen. „Das Risiko ist gross und die Pandemie ist weiterhin aktiv“, sagte Ministerpräsident António Costa am Donnerstag. Weil sich die Zahl der Personen, die jede infizierte Person ansteckt, bei unter eins stabilisiert hat, wagt die Regierung dennoch eine Lockerung des Lockdowns. Dies ist ein Schritt nach vorn, dem aber notfalls neue Schritte zurück folgen können, wie Costa mahnend sagte.
Nach wie vor sollen die Menschen grundsätzlich zu Hause bleiben. Sie können ausser Haus aber mehr tun als bisher. Auf einen massiven Andrang stellen sich etwa die Friseursalons ein. Sie gehören ebenso zu den Etablissements, die an diesem Montag wieder öffnen können, wie kleinere, von der Strasse her zugängliche Geschäfte (nicht also Geschäfte in Ladenzentren) mit einer Fläche von bis zu 200 Quadratmetern und, unabhängig von der Fläche, Buchhandlungen. In diesen Läden dürfen sich aber maximal fünf Kunden pro pro 100 Quadratmeter aufhalten. Wer vor dem Kauf allzu lange in Büchern blättert, könnte den geballten Zorn von Wartenden zu spüren bekommen.
In den Läden ist das Tragen von Schutzmasken ebenso obligatorisch wie in öffentlichen Verkehrsmitteln, die ihre Kapazitäten nur zu zwei Dritteln auslasten dürfen. Ab Montag können Bürgerinnen und Bürger nach Terminvereinbarung wieder Behörden aufsuchen. Wo die Arbeit von zu Hause aus möglich ist, soll sie vorläufig die Regel bleiben. Generell bleiben Ansammlungen von mehr als zehn Personen noch verboten.
Ab dem 18. Mai sind, sofern es die Lage erlaubt, weitere Lockerungen vorgesehen. So sollen von der Strasse her zugängliche Geschäfte mit einer Fläche von bis zu 400 Quadratmetern ebenso wieder öffnen dürfen wie – mit Auflagen – Restaurants, Konditoreien und Cafés. Ebenfalls ab dem 18. Mai sollen Museen und Paläste zugänglich sein, ab dem 1. Juni dann auch Kinos und Theater, aber ebenfalls mit Auflagen.
Fussballspiele ohne Fans, Fátima aber vielleicht doch mit Pilgern
Manche anderen Länder haben ihre nationalen Fussball-Meisterschaften für beendet erklärt. In Portugal sollen die verbleibenden zehn Spieltage der ersten Liga hingegen noch stattfinden, und zwar ab dem letzten Wochenende im Mai und ohne Zuschauer. Ebenfalls ab Ende Mai sollen Glaubensgemeinschaften wieder – mit Auflagen – ihre Zeremonien abhalten können. Wegen der bisherigen Einschränkungen geht laut Medienberichten in Kreisen der katholischen Kirche ein Unbehagen um.
Trotz des Notstands durfte der linke gewerkschaftliche Dachverband CGTP am 1. Mai eine Kundgebung in Lissabon abhalten. In einem langen Park in Lissabon versammelten sich 600 „akkreditierte“ Aktivisten in Reih und Glied, stets mit Sicherheitsabständen von drei Metern. Nun stellt sich plötzlich auch die Frage, ob im Wallfahrtsort Fátima die diesjährigen Feierlichkeiten zum Jahrestag der ersten Marienerscheinung am 13. Mai 1917 wirklich, wie auch vom Klerus bisher geplant, ohne Pilger stattfinden müssen. Am Wochenende räumte Gesundheitsministerin Marta Temido ein, dass die Organisatoren die Feierlichkeiten eventuell auch mit einem – wenngleich wohl reduzierten – Publikum und den gebotenen sanitären Vorkehrungen abhalten könnten.