Israel habe mit den Attacken auf die Kommunikationssysteme von Hizbullah alle «roten Linien» überschritten, sagte der Chef der libanesischen Miliz, Hassan Nasrallah, und drohte mit Konsequenzen. Ein paar Stunden später aber führte nicht Hizbullah einen Schlag gegen Israel, sondern die israelische Luftwaffe attackierte, offenkundig zielgenau, Hunderte von Raketenabschuss-Vorrichtungen der Miliz im Süden Libanons. Und am Freitag griff Israel erneut, diesmal in Beirut, an. Das Ziel: ein hochrangiger Hizbullah-Kommandant.
Für den israelischen Ausland-Geheimdienst Mossad ist die Operation ein durchschlagender Erfolg. Aufgrund einer von langer Hand vorbereiteten, grenzüberschreitenden Aktion (die Fäden wurden via Taiwan nach Ungarn, von dort möglicherweise auch nach Bulgarien gezogen) konnte Mossad Tausende von Pager-Geräten und Walkie-Talkies mit Sprengstoff bestücken und durch Fernsignale zur Explosion bringen.
Erfolge und Misserfolge des Mossad
Resultat: Mehr als 3000 Verletzte, über 30 Tote. Und das war ja nicht der einzige Erfolg des Mossad in der letzten Zeit: am 30. Juli töteten die israelischen Streitkräfte, aufgrund von Geheimdienstinformationen, in Beirut einen hochstehenden Hizbullah-Kommandanten und fast zur gleichen Zeit den Polit-Chef von Hamas, Ismail Haniya, in Teheran. All das drängte den grossen Misserfolg der israelischen Geheimdienste in den Hintergrund, das Versagen am 7. Oktober 2023, als Hamas an 29 Stellen die israelischen Grenzbefestigungen am Gaza-Streifen durchbrach, 1200 Menschen auf israelischem Gebiet ermordeten und 240 als Geiseln verschleppte.
Dass jetzt die Pager- und die Walkie-Talkie-Attacke in der israelischen Öffentlichkeit mehrheitlich Bewunderung auslösten, ist nachvollziehbar – aus der Distanz betrachtet aber sieht das anders aus, denn die Geräte-Explosionen verletzten oder töteten nicht nur Aktivisten von Hizbullah, sondern trafen auch völlig unbeteiligte Menschen. Mossad setzte sich also über eine Konvention des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz hinweg. Nun ja, könnte man dazu sagen, auch in anderen Fällen wurden in der letzten Zeit mehr und mehr Konventionen ignoriert, welche für Kriege Regeln vorschreiben, die der Zivilbevölkerung einen minimalen Schutz garantieren sollen – beispielsweise Hamas am 7. Oktober. Oder die israelischen Truppen mit der (von Israel selbst erfundenen) «Regel», dass im Gaza-Krieg normal sei, wenn 15 Zivilisten für je einen getöteten Hamas-Kämpfer als Kollateralschaden sterben müssen.
Wie weit ist Hizbullah geschwächt?
Hizbullah wurde durch die beispiellose Aktion schwer getroffen. Sie verunsicherte die Angehörigen der Miliz und führte zum Verdacht, dass der Mossad einen oder mehrere Spione eingeschleust habe. Ein anonymer Informant äusserte gegenüber dem News-Portal «Middle East Eye», man sei sich sicher, dass es innerhalb der Miliz einen oder mehrere Verräter gebe. Selbst der engste Führungskreis um Chef Hassan Nasrallah sei offenkundig infiltriert worden, sagte er.
Was zur Frage führt, ob und in welchem Ausmass Hizbullah jetzt überhaupt noch fähig ist, wirkungsvolle Schläge gegen Israel zu führen. Schwer an Augen oder den Händen verletzt wurden durch die Explosionen, wie erwähnt, etwa 3000 Aktivisten der Miliz. Nicht bekannt ist, wie viele der nun nicht mehr einsatzfähigen Leute Führungsfunktionen innehatten, wie viele anderseits eher zugewandte «Orte» von Hizbullah waren. Hizbullah ist ja nicht nur eine Kampftruppe, sondern auch eine politische Partei mit ihren Funktionären und ausserdem eine soziale Institution mit Schulen, ein Immobilien-Verwalter und ein Medienunternehmen, das Radio- und Fernsehsender betreibt.
Netanjahus drei Ziele
Nasrallah behauptet anderseits, die für militärische Einsätze ausgebildeten Einheiten würden 100’000 Mann umfassen, und selbst wenn diese Zahl übertrieben sein mag, so ist doch zu vermuten, dass Hizbullah noch immer über genügend Kräfte verfügt, um Schläge gegen Israel zu führen. Die Lage im grenznahen Bereich zu Israel dürfte sich somit kaum entspannen, auch nicht nach dem jüngsten israelischen Luftangriff auf Raketen-Stellungen. Ein Ende der Konfrontation bindet Nasrallah an die Bedingung, dass Israel seine Angriffe im Gaza-Streifen beendet. Denn Hizbullah, so wiederholte er bei der Rede vom Donnerstag, sei solidarisch mit Hamas.
Die israelische Regierung aber fühlt sich bestärkt, dass sie es gleichzeitig mit mehreren Feinden aufnehmen kann. Je nach Gesichtspunkt konsequent oder starrsinnig beharrt Premier Netanjahu auf drei Zielen: Hamas vernichten, die noch lebenden Geiseln befreien und jenen Israeli, die wegen der Raketenattacken durch Hizbullah ihre Häuser in der nördlichen Grenzregion verlassen mussten (das sind zwischen 70’000 und 80’000), die Rückkehr und wieder ein normales Leben ermöglichen. Um das sicherzustellen, müsste Hizbullah, gemäss israelischen Vorgaben, sich um mindestens 40 Kilometer von der Grenze zurückziehen, also auch die noch vorhandenen Raketenstellungen räumen. Hizbollah aber weigert sich – und weist darauf hin, dass auch auf libanesischer Seite rund 70’000 Menschen zu Binnenflüchtlingen im eigenen Land geworden sind und auch sie ein Recht auf Rückkehr haben.
Geringe Aussichten für einen Waffenstillstand
Was den Gaza-Krieg betrifft: Hamas vernichten und gleichzeitig die Geiseln befreien, ist eine Illusion. Da führt kein Weg vorbei an Verhandlungen, und sollte auch der letzte Hamas-Kämpfer eliminiert sein, wird keine der Geiseln mehr leben. Von der Notwendigkeit, den Konflikt mit den Hamas-Terroristen durch einen Waffenstillstand zu beenden, versucht auch die US-Regierung den israelischen Premier zu überzeugen. Aussenminister Blinken unternimmt eben die zehnte, höchst wahrscheinlich aussichtslose Nahost-Vermittlungsreise, und auch der für die Region zuständige Beauftragte des US-Präsidenten, Amos Hochstein, unterzog sich wieder der diplomatischen Tortur von so genannten Friedensgesprächen in verschiedenen Hauptstädten. Wozu, fragt man sich?
Fazit: die Konflikte im Gaza-Streifen und in der Region zwischen Israel und Libanon werden mit Gewalt weitergehen. Im besten Fall auf der gegenwärtigen Ebene, jederzeit aber auch mit dem Risiko einer weiteren Eskalation.