George W. Bush begann den Krieg in Afghanistan nicht nur, um Bin Laden zu töten. Mit dem militärischen Engagement wollten die USA der Welt beweisen: Wir erklären dem Djihad-Terror den Krieg. Bin Laden wurde getötet, al-Kaida wurde in Afghanistan aufgerieben. Also: Ziel erreicht. Weshalb verliessen dann die USA den Hindukusch nicht?
Weil eine neue Gefahr drohte: Die radikalislamistischen Taliban, die man vertrieben hatte, waren wieder da. Doch sie wollen nicht Ziele in den USA angreifen wie al-Kaida; sie wollten nur die Macht in Afghanistan. Viele in den USA argumentierten: Das geht uns nichts an, das betrifft uns nicht: Also Abzug. Andere jedoch fürchteten, in einem „Kalifat Afghanistan“ würde der internationale Terror aufblühen.
Also kämpften die USA und ihre Verbündeten nun gegen die Taliban. Die Nato hätte gewarnt sein müssen: In Afghanistan gewinnen Ausländer keinen Krieg. Das mussten die Briten und dann die Sowjets erfahren.
Die USA wollten das Land stabilisieren, den Frauen und Mädchen mehr Rechte geben, den Hunger bekämpfen, demokratische Strukturen errichten, den Terror eindämmen, Menschenrechte zur Geltung bringen, die Korruption eindämmen, das Land zusammenschweissen – und es so immun machen gegen radikalislamistische Gelüste. Aus westlicher Sicht war das alles lobenswert.
Etwas vergisst man: Die USA und ihre Verbündeten haben durchaus etwas zustande gebracht. In den Gebieten, die noch von der Regierung kontrolliert werden, lebt es sich freier. Auch Frauen und Mädchen haben Rechte erhalten, Zehntausende gehen zur Schule oder an die Universität. Es gibt sogar weibliche Fussballmannschaften. Die Zahl der Menschenrechtsverletzungen ist gesunken.
In Afghanistan wollten die USA also, wie dies schon George W. Bush im Irak wollte, dem Land ein Stück westliche Zivilisation bringen. Dort, zwischen Euphrat und Tigris scheiterte dieses Experiment kläglich. In Afghanistan versuchten es die USA trotzdem.
Doch trotz des vielen Milliarden-teuren militärischen Engagements: Die Taliban wurden stärker und stärker. Sie kontrollieren heute bis zu 70 Prozent des Landes. Nach dem Abzug der westlichen Truppen werden sie demnächst das ganze Land beherrschen.
Man muss naiv sein, um zu glauben, sie wollten mit der jetzigen Regierung Frieden schliessen. Die Taliban wollen keinen Frieden, sie wollen die Macht. Die werden sie haben. Die Frage ist nur: Wie lange finanzieren die USA noch die korrupte afghanische Regierung und das afghanische Militär.
Dass Biden das Land verlässt, ist nachvollziehbar. Soll dieser für den Westen hoffnungslose Krieg nochmals 20 Jahre weitergeführt werden: noch hoffnungsloser werden? Was hat er bisher gebracht? Zehntausende Tote, 2’500 gefallene Amerikaner. Trotzdem bezeichnen manche in den USA den Abzug aus Afghanistan als „historischen Fehler“. Doch die USA hatten „only bad choices“, sagte Thomas Ruttig, der Co-Direktor des „Afghanistan Analysts Network“.
Gutmeinende Leute, die den Abzug der USA rechtfertigen wollen, argumentieren, dass die Taliban gar nicht so schlimm seien. Ihr Staat werde an ausländische Hilfe gebunden sein, was die Taliban zu Konzessionen zwingen werde. Zudem gäbe es auch unter den Taliban gemässigte Kreise, und ihr Frauenbild sei dabei, sich zu ändern.
Wenn man sich da nur nicht täuscht! Jedenfalls gibt es unter den Taliban zahlreiche schreckliche Hardliner mit feudalen Vorstellungen, wie die Frauen leben sollten. Viele Indizien sprechen dafür, dass das Rad zurückgedreht wird.
Das Experiment Afghanistan ist gescheitert. Vielleicht muss der Westen erneut einsehen, dass der Export seiner Werte, seiner Zivilisation, seiner Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten nicht überall willkommen ist. Vielleicht wird die Zeit einmal reif dafür; jetzt ist sie es noch nicht.
Das Traurige ist: Die Afghanen, die zwanzig Jahre lang an der Seite des Westens für ein besseres Afghanistan gekämpft haben, werden nun kläglich fallen gelassen. Sie müssen gar fürchten, dass sich die Taliban an ihnen rächen werden. Dazu gehören auch die Frauen, die aus den fast mittelalterlichen Gesellschaftsstrukturen ausbrechen konnten. Was geschieht mit ihnen? Ihre Zukunft sieht wohl nicht gut aus. Sind die USA und Europa bereit für Zehntausende afghanischer Flüchtlinge?