Premierminister Jean-Marc Ayrault ist gerade vier Monate im Amt und sieht bereits alt aus. Trotz der Maske schien der blonde Deutschlehrer aus dem westfranzösischen Nantes plötzlich einige Jahre mehr auf dem Buckel zu haben, wirkte blass und angestrengt, letzten Donnerstag im Fernsehstudio, als er sich ganze zwei Stunden lang der Öffentlichkeit und den Fragen von Journalisten und politischen Gegnern stellte.
Kein Wunder, denn der Premierminister musste den Franzosen den ersten Haushalt seiner Regierung verkaufen, in dem er gleich ein Loch von mindestens 30 Milliarden Euro zu stopfen hat. "Historisch" hat man dieses Budget getauft, das den Franzosen Opfer abfordere wie schon seit 30 Jahren nicht mehr. 10 Milliarden werden bei den Ausgaben gestrichen, 20 Milliarden sollen durch höhere Steuern für besser Verdienende, höhere Abgaben für Grossunternehmen und die Abschaffung einer Reihe von Steuernischen hereinkommen. 9 von 10 Bürgern seien von den Steuererhöhungen nicht betroffen, betonte der Premierminister immer und immer wieder. Von einem «Kampfhaushalt für den Aufschwung und für mehr Gerechtigkeit» sollte Ayrault am Tag darauf auf den Stufen des Elyséepalastes sprechen, nachdem der Haushaltsentwurf dem Kabinett vorgelegt worden war.
Und natürlich, Finanzmärkte hört her: Unser Land wird, wie angekündigt, sein Haushaltsdefizit von heute 4,5 bis Ende 2013 auf 3 % reduzieren.
Präsident Hollande – weit ab vom Schuss
Der Premierminister, so der Eindruck, muss da etwas vorbeten, woran im Land immer weniger glauben. Selbst der sozialistische Parlamentspräsident sah sich, auch wenn das nicht seine Rolle ist, bemüssigt anzumerken, das Ziel der 3%-Marke sei angesichts der Wirtschaftskrise nicht haltbar. Und an die Berechnungsgrundlage für diesen Haushaltsentwurf, an die 0,8% Wachstum im kommenden Jahr, will auch fast niemand mehr glauben. Fast zur selben Stunde, als das Budget dem Kabinett vorgelegt wurde, verkündete das französische Statistikamt für das letzte Quartal genau 0 % Wachstum, sprich Stagnation.
Doch das war bei weitem nicht die einzige Hiobsbotschaft aus der Welt der Wirtschaft, der Finanzen und des Arbeitsmarktes im Lauf der letzten Woche, als der Staatspräsident weit weg war und auf internationalem Parkett tanzte. Vor der UNO in New York wirkte er redlich bemüht und wenig überzeugend und musste sich nebenbei schon wieder der Lächerlichkeit preisgeben wegen des verqueren Verhältnisses zu seiner Ex-Gefährtin Ségolène Royal.
Die hatte es fertig gebracht, als Mitglied einer Delegation der Sozialistischen Internationale im New Yorker UNO-Gebäude just dort aufzutauchen, wo die Delegation des französischen Präsidenten des Weges kam, abrupt stoppte, lange zögerte, nervös auf den Füssen herumtrat und schliesslich umkehrte und in die andere Richtung verschwand. Mein Gott! 30 Jahre haben die beiden zusammengelebt, gemeinsam vier grossartige Kinder in die Welt gesetzt, beide sind sie nun bald 60 und dann solche Kindereien!
Hiobsbotschaften ohne Ende
Währenddessen jagte zu Hause, wie gesagt, eine Hiobsbotschaft die andere.
Erstmals seit 13 Jahren zählt man wieder mehr als 3 Millionen Arbeitslose – nimmt man die kurzzeitig oder teilweise Beschäftigten hinzu, sind es gar 4,7 Millionen! Das Statistikamt verkündete darüber hinaus, dass das Vertrauen der Verbraucher und der Unternehmer in Frankreich noch nie so niedrig war wie im vergangenen Monat. Die Vorstandsvorsitzenden von Peugeot-Citroën und Renault nahmen den Pariser Automobilsalon zum Anlass, um der Politik nichts weniger ins Stammbuch zu schreiben, als den Satz: Mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und mehr Wettbewerbsfähigkeit sind für Frankreichs Automobilindustrie inzwischen schlicht eine Überlebensfrage!
Im ohnehin schon völlig ausgebluteten und zur Industriewüste verkommenen Lothringen kündigte dann der indische Stahlriese Mittal an, die letzten beiden noch existierenden Hochöfen Frankreichs für immer schliessen zu wollen. Seit 14 Monaten kämpfen die Arbeiter in diesem ehemaligen Herzstück der französischen Schwerindustrie nun schon um den Erhalt dieser zwei Hochöfen. Am Mittwoch, als die Nachricht durchsickerte, standen Hunderte von ihnen stundenlang sprichwörtlich im Regen und warteten, was der herbeigeeilte Industrieminister ihnen zu sagen hatte.
Ein Minister der ganz besonderen Art
In müde, gezeichnete, wütende und resignierte Gesichter blickte Arnault Montebourg, der ein Ministerium mit einer Bezeichnung übernommen hat, die ausserhalb Frankreichs nur Schmunzeln hervorruft: «Ministère du redressement productif». Sein Job besteht, seit er angetreten ist, darin, fast täglich von einem Ort der sozialen Not zum anderen zu eilen und so zu tun, als könne der französische Staat, als könne die Politik entgegen aller Unkenrufe doch noch etwas tun gegen die strategischen Entscheidungen eines global agierenden Finanzkapitals, das über Frankreichs Industriestandorte genau so herrscht wie über andere auch. Schon nach vier Monaten werden Wetten darüber eröffnet, wie lange der schöne Arnault mit der kämpferischen Haarwelle und der ebenso kämpferischer Rhetorik dieses Spiel noch durchhalten kann, bevor ihm die Luft ausgeht.
Im lothringischen Florange jedenfalls werden die seit einem Jahr heruntergefahrenen Hochöfen unter der Regie des Stahlkonzerns Mittal nicht mehr angeworfen, doch Montebourg sagt den grimmig dreinschauenden, durchnässten Arbeitern an diesem Tag: «Das Kräftemessen mit Mittal beginnt jetzt erst wirklich.» Worauf die Arbeiter noch grimmiger schauen, denn sie messen ihre verzweifelten, geringen Kräfte schon seit 14 Monaten mit dem indischen Stahlriesen.
Als der Minister für die produktive Wiederaufrüstung bereits wieder auf dem Weg nach Paris ist, sickert durch, Lakshmi Mittal, der Herr über das Stahlimperium, habe Präsident Hollande persönlich seine Bereitschaft erklärt, die Hochöfen zu verkaufen – wahrscheinlich für einen symbolischen Euro - und sie nicht völlig abzurüsten, der Staat werde einen Käufer suchen. Angesichts der Konstellationen auf dem internationalen Stahlmarkt glaubt aber kaum jemand daran, dass sich irgendwo ein Käufer finden lässt, auch wenn der Minister betont hat, sein Amt werde in den nächsten Tagen zu allen Stahlerzeugern auf der Welt Kontakt aufnehmen.
Contra Fiskalpakt
Für Frankreichs Präsidenten endete die Woche, wie sie begonnen hatte: höchst ungemütlich. Zwei Tage bevor der europäische Fiskalpakt der Nationalversammlung zur Ratifizierung vorgelegt wird, demonstrierten am Sonntag über 50‘000 Menschen in Paris gegen diesen Fiskalpakt, gegen die, wie sie sagten, „permanente, in Stein gehauene Sparpolitik und die dadurch drohende, verschärfte Rezession“. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Linksfront, Jean-Luc Mélenchon, der 11 % der Stimmen auf sich vereinen konnte, war die Galionsfigur und der Lautsprecher dieses Protestes. Ein Hauch von 2005 weht wieder durch Frankreich. Wenn es um das Thema Europa geht, hat sich nach sieben Jahren fast nichts geändert, erscheinen auch heute noch die alten Fronten wieder: Die extreme Rechte Le Pens und die Linke links von den Sozialisten wettern dagegen, die Grünen sind gespalten und die Sozialisten ebenfalls, wenn auch weniger als vor 7 Jahren beim Referendum über den EU-Vertrag.
Präsident Hollande wird für die Ratifizierung des Fiskalpaktes im Parlament eine Mehrheit bekommen, aber es wird kein Zuckerschlecken. Die grünen Koalitionspartner werden, nach einem höchst umstrittenen Parteibeschluss, dagegen stimmen. Die zwei grünen Minister bleiben aber trotzdem in der Regierung. Und gut 20 sozialistische Abgeordnete vom linken Flügel der Partei wollen vom Fiskalpakt ebenfalls nichts wissen und werden auf keinen Fall für ihn stimmen, sich bestenfalls enthalten. Am Ende wird exakt der Fiskalpakt – und wahrscheinlich mit den Stimmen der konservativen Opposition - ratifiziert, den der vorhergehende Präsident, Nicolas Sarkozy, im März 2012 unterzeichnet hatte. Dabei hatte François Hollande erst im Wahlkampf, dann als Präsident monatelang den Franzosen versichert, er werde diesen Fiskalpakt nachverhandeln. Nun muss er eingestehen – bzw. sein Premierminister musste es öffentlich tun -, dass an dem Vertrag kein Komma geändert wurde.
Wieder einmal wird in Frankreich eine europäische Entscheidung mit Hängen und Würgen gefällt und so diskret wie möglich, nach dem Motto: nur keine grosse, wirklich öffentliche und konträre Diskussion. In diesem Zusammenhang ist auffallend, dass Präsident Hollande sich bislang in keinem seiner Fernsehinterviews und bei keiner seiner Pressekonferenzen wirklich zum Thema Europa geäussert hat.
Auf der Demonstration gegen den Fiskalpakt am Sonntag war dann auch immer wieder die Forderung zu hören, dieser EU-Vertrag müsse per Referendum ratifiziert werden. Laut Umfragen wollen dies 70 % der Franzosen. Doch es wird nicht so kommen. Am Ende wird Frankreich die europäische Sparpolitik mittragen, die unterschwellige Frustration in der französischen Bevölkerung gegenüber Europa aber erneut um ein gutes Stück gewachsen sein.