In Portugal schlägt ein Wahlausgang im fernen Westen gerade Wellen in der Politik. Es geht dabei nicht um die Präsidentenwahl in den USA, die noch bevorsteht. Etwas weniger fern, gut zwei Flugstunden westlich von Lissabon, hat Portugal seinen eigenen fernen Westen. Mitten im oft rauen Atlantik schlummern die neun vulkanischen grünen Inseln der Azoren mit zusammen rund 243’000 Einwohnern. Wegen ihrer Abseitslage geniessen sie seit 1976 (ebenso wie Madeira) den Sonderstatus einer „autonomen Region“ innerhalb der sonst sehr zentralistisch regierten Republik.
Schwierige Polit-Arithmetik
Zu ihren Organen gehört das regionale Parlament, dessen 57 Mitglieder am Sonntag neu gewählt wurden – und das jetzt so zersplittert-bunt ist wie nie zuvor. Acht Parteien, zwei mehr als bisher, und eine Allianz sind nun darin vertreten. Keine Partei hat die absolute Mehrheit. Stärkste Partei blieb der Partido Socialista (PS), der aber fünf seiner bisher 30 Sitze und damit die absolute Mehrheit verlor. Auf 21 Mandate, zwei mehr als bisher, kam der bürgerliche Partido Social Democrata (PSD).
Seit 1996, also seit 24 Jahren, regieren auf den Azoren die Sozialisten, die seit 2015 unter Ministerpräsident António Costa auch in Lissabon am Ruder sind – gestützt auf eine nur relative Mehrheit im Parlament. Gern hätte Vasco Cordeiro, seit 2012 Regierungschef auf den Azoren, die absolute Mehrheit, über die seine Partei seit 20 Jahren verfügt hatte, für weitere vier Jahre erneuert. Nun ist aber nicht einmal mehr klar, ob er überhaupt an der Spitze der nächsten Regierung stehen wird.
Wie könnten die Sozialisten auf eine Mehrheit von 29 der 57 Abgeordneten kommen? Zwei Mandate errang erneut der marxistische Linksblock und einen Sitz erstmals die Partei für Menschen, Tiere und Natur (PAN). Rein rechnerisch kämen die Sozialisten aber ohne wenigstens eine Stimme aus dem rechten Lager immer noch nicht auf die absolute Mehrheit.
Signale für die nationale Politik?
Möglich wäre eine – wenngleich sehr heterogene – bürgerlich-rechte Mehrheit, aber nur unter Einschluss der populistisch-xenophoben Partei Chega. Sie zieht erstmals ins Regionalparlament ein, und das mit gleich zwei Abgeordneten. Sie will aber nicht als blosser Mehrheitsbeschaffer dienen und macht jedes insulare Entgegenkommen von Zugeständnissen des PSD auf nationaler Ebene abhängig. Im nationalen Parlament stellt Chega seit Oktober 2019 einen Abgeordneten, der mächtig Wirbel macht und sich im Aufwind fühlt. Manche Umfragen prognostizierten Chega landesweit bereits Stimmenanteile um 8 Prozent, mit denen diese neue Partei nach einer Neuwahl des Lissabonner Parlaments bei knappen Mehrheitsverhältnissen vielleicht das Zünglein an der Waage spielen könnte.
Das Szenario auf den Inseln wirft also auch landesweit Fragen auf. Gerade jetzt spürt Ministerpräsident Costa einigen Gegenwind. Hatte sich seine Minderheitsregierung in der Legislaturperiode 2015–19 auf schriftlich fixierte „gemeinsame Positionen“ mit kleineren Linksparteien stützen können, so regiert er nun ohne einen solchen Rückhalt. Gerade stimmte der Linksblock im Parlament gegen den Entwurf der Regierung für das Staatsbudget 2021. Nur mit Mühe konnte Costa die Kommunisten, zwei kleinere linke Parteien und zwei parteilose Abgeordnete, dazu bewegen, sich bei der Abstimmung am Mittwoch zu enthalten und so eine parlamentarische Schlappe abzuwenden.
Der Neuseeland-Effekt ist ausgeblieben
Als ein wichtiger Pluspunkt für die Sozialisten auf den Azoren hatte die sehr niedrige Zahl der Covid-19-Infektionen auf den Inseln gegolten. Zu verdanken ist dies vor allem den systematischen sanitären Kontrollen von Fluggästen, die auf den Azoren ankommen. Im fernen Neuseeland hatten die Erfolge im Kampf gegen die Pandemie der Labour Party von Premier Jacinda Ardern kürzlich zur absoluten Mehrheit verholfen. Auf den Azoren blieb der Neuseeland-Effekt aber aus.
Auf den Azoren sind die Probleme vielfältig. Die Inseln leiden in erster Linie an ihrer Abseitslage. Sie haben im nationalen Vergleich ein relativ niedriges Pro-Kopf-Einkommen und sind auf finanzielle Zuwendungen aus dem Staatsbudget angewiesen. Zum teilweisen Ausgleich für die Kosten der „Insularität“ ist der gesetzliche Mindestlohn derweil 5 Prozent höher als auf dem Festland, während die Sätze der Einkommens- und Konsumsteuern um 20 Prozent niedriger sind.
Auf der Suche nach einem besseren Leben blicken viele Insulaner traditionell nach Nordamerika. Es gibt kaum eine Familie auf den Inseln ohne Angehörige, die es seit dem 19. Jahrhundert in die USA oder, später, nach Kanada gezogen hat. Manche zogen aus reiner wirtschaftlicher Not fort, andere nach Erdbeben und, seltener, Ausbrüchen von Vulkanen, die Häuser zerstörten und Felder unter Lava begruben.
In der einst agrarisch geprägten Region hat sich, wirtschaftlich gesehen, eine Dienstleistungsgesellschaft etabliert. Im Landschaftsbild dominieren indes die Rinderweiden. Keine andere portugiesische Region erzeugt so viel Milch und Käse wie die Azoren, die unter anderem aber auch – in eher kleinen Mengen – exzellente Weine produzieren. Zu den eher exotischen Erzeugnissen der Inseln gehören seit dem 19. Jahrhundert schon Ananas und Tee. Eine gewisse Bedeutung hat die Fischerei. Passé ist seit den späten 1980er Jahren die Zeit des Walfangs. An seine Stelle trat, als Attraktion für Touristen, die Organisation von Bootstouren zur Beobachtung von Walen und Delfinen.
Wegen der Abseitslage und eines wechselhaften, oft regnerischen Wetters hatte der Tourismus bisher viel weniger Gewicht als etwa auf Madeira oder den Kanaren. Vor allem die Aufnahme von Low-Cost-Flügen vor einigen Jahren bescherte einigen Inseln – in erster Linie São Miguel, bekannt für eine atemberaubende Landschaft mit Kraterseen und heissen Quellen, – einen touristischen Boom. Insbesondere auf São Miguel, wo über die Hälfte der Bevölkerung des Archipels lebt, zeigte der Tourismus bald aber seine vom Festland bekannten lästigen Nebenwirkungen. In Covid-19-Zeiten macht sich natürlich auch die touristische Flaute bemerkbar.
Eine kleine Welt – oder neun ganz kleine Welten
In der EU bilden die Azoren eine „ultraperiphere Region“. Auch aus der Lissabonner Perspektive ist dies eine Welt für sich, wo es stets eine Stunde früher ist als auf dem Festland. Aus der Nähe gesehen sind dies neun kleine Welten für sich. Sie verteilen sich immerhin über ein Seegebiet, das ähnlich gross ist wie Festland-Portugal. Nur 6 Kilometer beträgt die Entfernung zwischen den zwei Inseln, die einander am nächsten liegen – dies sind Faial und Pico mit dem gleichnamigen Berg, ein 2351 Meter hoher erloschener Vulkan, die höchste Erhebung des gesamten Landes. Rund 600 Kilometer trennen jene zwei Inseln, die am weitesten voneinander entfernt sind.
Schon dieser Umstand erfordert enorme öffentliche Investitionen im Gesundheitswesen oder für die Infrastruktur. Sogar die abgelegene Insel Corvo, 17 Quadratkilometer klein mit rund 450 Einwohnern, hat einen Flughafen, wo Turboprop-Maschinen der regionalen Airline Sata landen können. Junge Leute müssen ihre Insel nicht mehr verlassen, um die Sekundarstufe bis zum 12. Schuljahr zu absolvieren.
Bei der Wahl des Regionalparlaments bildet jede Insel einen Wahlkreis, und ähnlich wie kleinere Länder im EU-Parlament sind kleinere Inseln im Parlament der Azoren überproportional vertreten. Sogar das winzige Corvo stellt zwei Abgeordnete. Und wer eine Kandidatin oder einen Kandidatin auf dem Stimmzettel ankreuzt, denkt oft mehr an die Person und das, was sie für die eigene Insel tut, als an das Programm der Partei, die sie vertritt. Eine neue Schnellstrasse auf São Miguel bringt ja wenig für die Menschen auf der fernen Insel Flores, wo ein äusserst heftiges Unwetter vor einem Jahr den Güterhafen zerstörte. Sein Wiederaufbau geht nur langsam voran.
Weltoffen und mit dem Blick ins All
Dies mag eine statistisch relativ arme Region sein, ein kulturelles Notstandsgebiet ist dies aber nicht. Just von den Azoren kamen schon vor über hundert Jahren die ersten beiden Staatspräsidenten der im Jahr 1910 ausgerufenen portugiesischen Republik (Manuel de Arriaga und Teófilo Braga) ebenso wie, schon seit dem 19. Jahrhundert, etliche Grössen des nationalen Kulturlebens. Nicht nur die starken, durch die Emigration bedingten Bande nach Nordamerika sichern eine Öffnung gegenüber der „Welt da draussen“.
Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert kreuzten sich auf der Insel Faial etwa die Drähte der transatlantischen Telekommunikation. Faial war ein Knotenpunkt der Unterseekabel, wo Nachrichten von beiden Seiten des Teiches per Morse ankamen und weitergeleitet wurden. Heute lässt keine Segelcrew auf Transatlantik-Kurs diese Insel mit dem für Gin-Tonic bekannten Seglercafé „Peter“ links liegen.
Von der Flugzeug-Tankstelle zum TechIsland?
In den 1950er, 1960er und 1970er Jahren war der Flughafen von Santa Maria eine Tankstelle für Passagierflugzeuge, die den Atlantik überquerten. Auf dem Flughafen sahen Frauen von der Insel, wie sich die Damen in New York und London so kleideten. So fand zu einer Zeit, als in Portugal noch der erzkonservative Diktator Salazar regierte und es auf den Azoren noch kein Fernsehen gab, der Minirock seinen Weg auf die Inseln. Just auf Santa Maria soll ein Weltraumbahnhof für die Lancierung leichter Satelliten entstehen.
Seit dem Zweiten Weltkrieg unterhalten die USA auf der Insel Terceira eine Luftwaffenbasis, die im Kalten Krieg von enormer strategischer Bedeutung war. Seit einer drastischen Reduzierung des Personals vor einigen Jahren ist es auf der Basis aber relativ ruhig geworden. Zahlreiche Wohnungen, wo einst US-Militärs gehaust hatten, stehen leer. Auf den Azoren bestehen ehrgeizige Pläne, um Terceira von der Tankstelle für Militärflugzeuge in ein Tech-Land der digitalen Ära zu verwandeln.
In der regionalen Politik geht es nicht ganz so mondän zu. Nicht zuletzt wegen alten Rivalitäten zwischen den Inseln gibt es keine offizielle Hauptstadt der Region. Ihr Regierungschef residiert auf São Miguel in Ponta Delgada, der wirtschaftlichen Metropole dieses Archipels. Sein Parlament aber ist in Horta auf Faial, während sich die Ministerien der autonomen Region – die „secretarias“ auf São Miguel, Faial und Terceira verteilen, also auf drei Inseln. Auf Terceira liegt die Bischofsstadt Angra do Heroísmo, die als kulturelle Metropole des Archipels gilt. So sind die Inseln unter sich nicht immer gar so grün wie die urwüchsige Landschaft.