Eigentlich sollte Patrick Modianos vorletzter, 2013 in Frankreich erschienener Roman, erst kommendes Frühjahr in deutscher Übersetzung herauskommen. Nachdem dem 69-jährigen Autor, dessen Lesergemeinde im deutschsprachigen Raum bislang relativ bescheiden war, aber der Literaturnobelpreis zugesprochen worden war, hat der Hanser Verlag die Übersetzung beschleunigt und brachte das Buch schon zu Beginn dieser Woche in die deutschsprachigen Buchhandlungen.
«Gräser der Nacht» - ein Zitat aus einem Gedicht von Paul Valéry - ist die Geschichte eines noch nicht volljährigen, angehenden Schriftstellers, der, ein wenig verloren im Paris der beginnenden 60-er Jahre, sich in eine etwas ältere, reichlich mysteriöse Frau verliebt, die in einem eher zwielichtigen Milieu verkehrt, offensichtlich mehrere Leben führt und, so plötzlich, wie sie erschienen war, auch wieder verschwand..
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Die «Gräser der Nacht» sind im Grunde Nachtgestalten, ein halbes Dutzend undurchsichtiger, orientierungsloser und verdächtiger Zeitgenossen, die Modiano aus seinem schier grenzenlosen Erinnerungsfundus, fast ein halbes Jahrhundert später, wieder ans Licht des Tages geholt hat - besser gesagt: aus dem Dunkel, auch seiner eigenen Vergangenheit, in ein sorgsam gepflegtes Zwielicht gestellt hat.
«Es bleiben einem nur Fetzen dieser Vergangenheit», sagte der Autor vor über einem Jahr beim Erscheinen der französischen Originalausgabe. «Man versucht diese Fetzen wiederzufinden, doch die Zeit hat wie ein Nagetier gearbeitet - es bleiben Namen und Strassen, die einem gewisse Begegnungen in Erinnerung rufen, Namen, die in der Erinnerung herumschwimmen. Doch diese Erinnerungen sind nur noch sehr parzellär, was ein wenig erschreckend ist.»
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Dieser Roman ist, wie praktisch immer bei Patrick Modiano, der Ausdruck, ja das bruchstückhafte Protokoll eines Kampfs mit der verfliesenden Zeit und der Erinnerung, ein sentimentales Suchen und Tasten in der Vergangenheit - diesmal nicht während der deutschen Besatzungszeit in Frankreich, sondern - wie bereits in mehreren anderen Romanen - Mitte der 60-er Jahre. Vor dem Leser taucht das Paris des beginnenden nachkolonialen Frankreichs auf, die Metropole, deren Strassen, Plätze, Cafés, Hotels und Hausnummern in diesem Roman die einzigen sicheren, präzisen Anhaltspunkte sind. Die Topographie der französischen Hauptstadt, die in Modianos Romanen fast ein Subjekt ist, hat sich bei ihm regelrecht verinnerlicht und lässt streckenweise, trotz aller Konkretheit, ein fast imaginäres und zeitloses Paris entstehen.
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«Gräser der Nacht» ist ein Roman ohne stringente Handlung, in dem sich die Bausteine aus der Vergangenheit nur unvollständig zusammenfügen, vieles undeutlich, verschwommen, geheimnisvoll, ja angsteinflössend bleibt, in dem Stadtviertel hinter Montparnasse, wo heute der Wolkenkratzer steht und das zur Zeit der Handlung ein Abrissviertel von eher zwielichtigem Charakter war. «Überall lag eine Bedrohung in der Luft und gab dem Leben eine besondere Farbe», heisst es in dem Roman.
Er habe, so Modiano, in «Gräsern der Nacht» vor allem Empfindungen niedergelegt, die er einst in einem Paris gehabt habe, das ihm ein wenig bedrohlich erschienen sei. Wenn man jung ist, wie er damals, gerade 20 und allein unterwegs, könne einem die Stadt manchmal ziemlich bedrohlich erscheinen.
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Vor drei Jahren, bei einem Sonntagsspaziergang, erfolgte beim Anblick einer Häuserfassade im 14. Arrondissement der so genannte Wespenstich, wie Modiano gerne sagt, oder das Morsezeichen aus der Vergangenheit.
Auf einmal seien alle Gesichter und Silhouetten, die er in diesem Viertel zu einer bestimmten Zeit wahrgenommen habe, wieder aufgetaucht, erzählt Modiano und er habe danach sofort angefangen, diesen Roman zu schreiben, ohne zu wissen, wohin er sich wirklich bewege, welchen erzählerischen Weg er einschlagen würde und wie es ausgehen könnte.
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Einer gewissen Dannie war er damals, 1965, als 20-Jähriger begegnet. Sie war nicht wirklich eine Studentin, über ihre Herkunft erfährt man so gut wie nichts. Ab und an, nach Besuchen in einem Haus im noblen 16. Arrondissement, tauchte sie, nachdem der Erzähler in einem Café gewartet hatte, mit Bündeln von Bargeld wieder auf. Regelmässig begleitete er sie auch in ein anderes Pariser Arrondissement, wo sie ihre Briefe postlagernd empfing. Man erfährt weder, warum das so war, noch von wem die Briefe kamen. Dannie war aus der Cité Universitaire an der Peripherie der Stadt, die in jenen Jahren ein brodelnder, internationaler Treffpunkt der französischen Hauptstadt war, in ein Hotel gezogen, dessen Foyer von Männern bevölkert war, die im weitesten Sinn alle etwas mit Marokko zu tun hatten, möglicherweise mit der Justiz in Konflikt geraten und vielleicht in die Entführung und Ermordung eines marokkanischen Exilpolitikers verwickelt waren - eine Anspielung an das nie aufgeklärte, ominöse Verschwinden von Mehdi Ben Barka 1965 vor der Brasserie Lipp am Boulevard Saint Germain und den Tod des marokkanischen Oppositionellen, bei dem möglicherweise der französische Geheimdienst seine Finger im Spiel hatte.
Am Ende taucht Dannie, die auf die eine oder andere Art sogar selbst in einen Mord verwickelt war, unter, hinterlässt dem Erzähler nur einen kurzen Brief, in dem sie ihm versichert, sie tue diesen Schritt nur, um ihn nicht in Gefahr zu bringen.
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Wie fast alle Werke von Patrice Modiano ist auch «Gräser der Nacht», wie man spätestens seit seinem autobiographischen Schlüsselroman «Ein Stammbaum» weiss, nur ein weiterer Baustein auf der Suche nach seiner eigenen Identität. Denn Modiano war als Kind und Heranwachsender von seinen Eltern weitgehend verlassen, bei Freunden und Bekannten und in wechselnden Internaten abgestellt worden. Liebesentzug, Verunsicherung und eine gewisse Orientierungslosigkeit haben sich im Werk von Modiano als permanente Themen eingenistet. Die Eltern hatten sich während der deutschen Besatzungszeit in Paris kennen gelernt, die Mutter, eine Flämin, sich als Tänzerin vor den Besatzungstruppen verdingt, der Vater, als Jude italienischer Herkunft, dank bestimmter Beziehungen nicht nur überlebt, sondern auf dem Schwarzmarkt auch einiges Geld gemacht - für Modiano ein nicht leicht zu tragendes Erbe.
«Ich habe», sagt der Autor, «diese Dinge, von denen in «Gräser der Nacht» die Rede ist, zu einer Zeit empfunden, da ich keinen familiären Rahmen hatte und auch nicht eindeutig etwas studierte. Es war eine Zeit, in der ich regelrecht geschwommen bin und in der Stadt auch nur Zufallsbekanntschaften machte.»
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«Gegenwart oder Vergangenheit hat es für mich niemals gegeben. Alles verschmilzt» - ist ein weiterer Satz aus «Gräsern der Nacht», einer, der die Erzähltechnik, ja das gesamte Werk des französischen Literaturnobelpreisträgers charakterisieren könnte.