In Tunis ist ein Video an die Öffentlichkeit gelangt und übers Internet in zwei leicht unterschiedlichen Versionen verbreitet worden. Es zeigt Rached Ghannouchi im Gespräch mit einer Gruppe von muslimischen Predigern und Honoratioren. Ghannouchi ist selbst nicht an der tunesischen Regierung beteiligt. Doch er ist der Chef der Ennahda Partei, die zusammen mit zwei anderen, säkularen, Koalitionsparteien die Regierung bildet.
Die Ennahda sucht Islam und Demokratie zu kombinieren. Es gibt aber Muslime und muslimische Gruppen, die der Ansicht sind, dies sei unmöglich, weil das muslimische Gottesgesetz, die Scharia, für alle Muslime gelte und daher auch für einen muslimischen Staat, so dass ein Staat, dessen Gesetze von Menschen niedergelegt würden, kein muslimischer Staat sein könne.
Allein Islam, nicht Demokratie!
Dies ist die Ansicht vieler der sogenannten "Salafiten" und auch der Grund, warum Saudi-Arabien keine Verfassung und kein Parlament hat. Die in Saudi-Arabien gültige Form des Salafismus erklärt, die Scharia sei das geltende Gesetz und der Koran die Verfassung des Königreiches.
Die tunesischen Salafiten sind Minderheitsgruppen, die bei den tunesischen Wahlen vom Oktober 2011 nicht zugelassen waren, weil sie nicht als Parteien, sondern als religiöse Gruppen eingestuft wurden. Sie sind zudem unter sich oft zerstritten. In der Zwischenzeit wurden ihnen jedoch Parteigründungen erlaubt. Im ersten Jahr der Republik haben sich salafistische Aktivisten auf den Strassen hervorgetan, indem sie gewalttätig gegen Anlässe und Personen einschritten, die sie nach ihren Islamvorstellungen als unislamisch oder anti-islamisch einstuften. Sie haben sich dadurch im Inland und im Ausland mehr Publizität geschaffen, als sie ihrer geringen Zahl entspräche.
Ghannouchis Umgang mit den Puristen
Unter den Gesprächspartnern Ghannouchis müssen sich auch Vertreter derartiger Tendenzen befunden haben. Das geht aus dem Inhalt der Aussagen Ghannouchis hervor. Der Ton des Ennahda Gründers ist versöhnlich. Er versucht seine Gesprächspartner in erster Linie davon zu überzeugen, dass ein allzu starres Bestehen auf ihren Islamvorstellungen und deren sofortiger Verwirklichung den bisherigen Erfolg der muslimischen Kräfte in Tunesien gefährde.
Er beruft sich dabei unter anderen auf die algerischen Erfahrungen: "Glaubt ihr, dass das, was wir erreicht haben, uns nicht mehr genommen werden kann?", fragt er. "Das ist, was wir in den 90er Jahren in Algerien glaubten", erinnert er sich. "Wir meinten, Algerien habe das Ziel erreicht. Doch die Moschee kam wieder unter die Kontrolle der Säkularisten."
Er spielt damit auf den Staatsteich der algerischen Militärs an, welche die für FIS (Islamische Heilsfront) erfolgreich verlaufenden Wahlen im Januar 1992 abwürgten, worauf ein vieljähriger, grausamer Bürgerkrieg folgte.
Unsere Herrschaft ist ungewiss
"Wir haben zwar 40 Prozent der Stimmen gewonnen", erklärt Ghannouchi seinen Gesprächspartnern, "doch die säkularen Kräfte kontrollieren noch immer grosse Teile des Landes. - Obwohl sie keine Mehrheit erlangten, kontrollieren sie die Wirtschaft, die Medien und die Verwaltung. Die Verwaltung liegt in ihren Händen. Zwar sind wir die Oberhäupter, doch alle Basen beherrschen sie. Die Armee liegt in ihrer Hand. Wir können die Polizei und die Armee nicht kontrollieren."
"Wir sollten nichts übereilen", rät er, "unser Diskurs sollte beruhigend wirken und darauf ausgehen, unsere Errungenschaften abzusichern. Wir sollten unsere Schulen ausbreiten und das Land mit unseren Assoziationen durchdringen."
Die Verfassung und die Scharia
Ghannouchi geht dann spezifisch auf die Frage ein, ob die Scharia in der Verfassung genannt werden solle. Was zeigt, dass das Video aus der Zeit stammt, in der diese Frage in den islamischen Gruppen und Parteien, auch in Ennahda selbst, heiss diskutiert wurde. Dies war im vergangenen März. Im April verzichtete Ennahda ausdrücklich auf die Nennung der Scharia in der Präambel des Verfassungsentwurfs.
Ein Streit um Worte ?
In der Video-Aufzeichnung fragt Ghannouchi seine Zuhörer: "Nützt es dem Islam, wenn wir den Begriff Scharia in die Verfassung aufnehmen? - "Oberflächlich sind alle Tunesier Muslime", fährt er fort. "Es gibt aber eine Gruppe von Tunesiern, die den Begriff Scharia fürchten. Dies sind die Säkularisten. - Gibt es einen Unterschied zwischen dem Islam und der Scharia? - Das ist das Gleiche nur mit einem anderen Namen. Sogar jene, die fordern, dass die Scharia in die Verfassung aufgenommen werde, - wenn ich sie frage, ob sie die Scharia als Gesetz anwenden wollen, antworten, das wollten sie nicht. Sie wollen die Scharia als Wortlaut einschliessen, um dadurch die Macht des Staates einzuschränken, insbesondere weil der frühere Text (der Verfassung, in dem Tunesien als ein islamischer Staat jedoch ohne Nennung der Scharia bezeichnet wurde), die Macht des Staates nicht einschränkte. "
"Doch dies ist oberflächlich. Ein Islamist, der sich an den (blossen) Wortlaut hält, ist ebenso oberflächlich wie ein Säkularist, der diesen Wortlaut zurückweist."
"Ihr habt nun eine Gelegenheit, die Lage schrittweise zu verändern. Ihr habt die Möglichkeit, Schulen zu eröffnen. Warum insistiert ihr auf der Scharia (in der Verfassung), wo ihr die Möglichkeit habt, Schulen zu gründen. Wir sollten Koran-Schulen aufmachen und die Zaytouniya Moschee (als Lehrmoschee) wieder eröffnen."
Islam ja, aber wie?
Ghannoushi schliesst ab: "Wir sagen immer, die Salafisten sind unsere Söhne und Töchter, die Kinder dieses Landes, und dass wir die Verbindung mit ihnen nie abbrechen wollen. Wir sind uns nicht uneinig über die Religion, wir sind uns nur uneinig darüber, wie man sie anwenden soll !"
Diese beiläufigen und in tunesischem Dialekt gehaltenen Äusserungen Ghannouchis sind gerade jetzt an die Öffentlichkeit gebracht worden. Dies geschah wohl nicht durch Anhänger von Ennahda, sondern durch ihre politischen Gegner, vermutlich Kreise, die Ghannouchi vorher vergeblich einzubinden versuchte. Sie haben die Regierungspartei und besonders ihre Koalitionspartner in einige Verlegenheit gebracht. Am 23. Oktober geht das Mandat der tunesischen Übergangsregierung zu Ende, und Wahlen für ein reguläres Parlament stehen bevor. Zur Zeit wird allerdings darüber gestritten, ob dieser Termin verlängert werden könne, bis die Verfassung endgültig fertiggestellt und verabschiedet sei.
Ein neues Sammelbecken für Säkularisten
Die gegenwärtige Regierung tritt für eine Verlängerung ein. Doch eine neue Oppositionsfront hat sich gebildet, die dagegen spricht. Sie steht unter dem Alt-Politiker der Bourguiba Zeit, Baji Caid as-Sibsi, der auch die provisorische Regierung nach der Revolution und vor den Wahlen der gegenwärtigen Verfassungsversammlung geleitet hat. Die neue Sammelpartei heisst "L'Appell Tunisien" und gehört zum Lager der Säkularisten. Sie soll schon kurz nach ihrer Gründung 20 Prozent der Wahlintentionen auf sich vereinigt haben. Ihre Gegner sagen ihr nach, ein solcher Erfolg sei nur möglich, weil sie unter der Hand durch die ehemaligen Anhänger Ben Alis, die Leute der damaligen Staatspartei, RCD, unterstützt werde.
Abnützung von an-Ennahda ?
Doch Ennahda gibt zu, dass ihre eigene Beliebtheit abgenommen habe. Die Kritik vieler Tunesier, nach der Ennahda sich zu sehr den Religionsfragen zugewandt habe und zu wenig tue, um Arbeitsplätze zu schaffen, ist unüberhörbar. Die Wünsche und Hoffnungen auf bessere Lebensbedingungen vieler der Revolutionäre und ihrer Sympathisanten, blieben unerfüllt.
Die Veröffentlichung der vertraulichen Ausführungen des Ennahda Chefs gegenüber Mit-Muslimen vom vergangenen Frühling hat unter diesen Umständen gewiss politische Zwecke, und sie hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Ghannouchi spreche von jeher eine doppelte Sprache, werfen ihm seine Kritiker vor. Die Veröffentlichung beweise dies einmal mehr. In Wirklichkeit gehe es ihm darum, das Land und seine Regierung zu "islamisieren", nur versuche er dabei vorsichtig und schrittweise vorzugehen. Er rede als Demokrat mit den Aussenseitern, wozu auch seine säkularistischen Koalitionspartner gehörten, jedoch als Islamist mit den muslimischen Aktivisten. Man kann in der Tat seine Ausführungen in diesem Sinne lesen.
Taten statt Worte
Doch man muss auch bedenken, zu wem er spricht. In den Hintergrundreden vom vergangenen Frühling ging es darum, seine strenggläubigen Mitmuslime davon zu überzeugen, dass der Begriff Scharia in der Verfassung schädlich sei, weil er nur Streit auslösen werde. Sein Kernargument lautete, Islam genüge in der Verfassung. Weder "Islam" noch "Scharia" als blosse Worte in der Verfassungspräambel würden zu einem Staat führen, der echte islamische Werte verwirkliche. Dies habe das Wort "Islam" in der Verfassung Ben Alis so wenig bewirkt, wie es die Worte "Islam und Scharia" in der neuen Präambel vermöchten. Islamische Schulen, so macht er klar, könnten tatsächlich etwas bewirken.
Seither mehr Konfrontation
Seit dem vergangenen Frühling hat sich der Ton von Ennahda gegenüber jenen Salafiten verschärft, die weiterhin ihren formalistisch verstandenen Islam mit Gewalt und Strassenradau durchsetzen wollen. Einen Wendepunkt hat der Ansturm auf die amerikanische Botschaft in Tunis anlässlich des provozierenden Muhammed-Videos abgegeben. Seither werden die Hassprediger in den Moscheen und ihre Raufbolde auf den Strassen polizeilich verfolgt. "Sie sind nicht mehr Muslime als alle anderen", erklärte der Regierungschef Jabali kürzlich in einer Rede. "Sie haben kein Recht, andere Muslime als Ungläubige zu behandeln. Sie haben kein Recht, ihren Lebensstil der tunesischen Gesellschaft aufzuzwingen; sie hat ihre eigenen Traditionen und ihren eigenen Lebensstil".
Kommt ein Rückschlag für Ennahda ?
Wenn es tatsächlich schon am 23. Oktober zu den vorgesehenen Wahlen kommt, muss sich zeigen, welcher Teil der über den bisherigen Verlauf des neuen demokratischen Regimes bitter enttäuschten Wähler der Ennahda sich den Salafisten zuwenden wird, welcher den Vorkämpfern des Säkularismus unter dem Schirm des neu in die Ränge getretenen Altpolitikers as-Sibsi und wieviele der bisherigen Wähler an-Ennahda die Treue halten.