«Auch eine Geschichte der Philosophie», so der Titel des jüngsten zweibändigen Werks von Jürgen Habermas. 2019 hat er es als Neunzigjähriger nach zehnjähriger Arbeit vorgelegt. Sie gilt dem Verhältnis zwischen Religion und Philosophie. Besonders beschäftigt ihn die Frage, wie Religion die Wahrnehmungs-, Artikulations- und Wirkungsmöglichkeiten der Vernunft erweitert – und was an die Stelle der Religion tritt, wenn diese wegfällt.
Philosophie ist hervorgegangen aus dem Formen und Zerbrechen religiös-metaphysischer Weltbilder. Da in letzteren sowohl Glaubens- wie Wissensinhalte stecken, bearbeitet Philosophie deren gegenseitiges Verhältnis; dies gilt auch noch da, wo das Philosophieren explizit vom Glauben Abschied genommen hat. Wo immer das Denken sich mit dem Sollen befasst, sind säkularisierte Gehalte biblischen Ursprungs mit im Spiel.
Exemplarisch zeigt sich dies am historischen Höhepunkt der Praktischen Philosophie, bei Kants Kernthema der Verbindung von Vernunft und Freiheit. Philosophisches Nachdenken über gutes Leben und rechtes Tun kann daher bis heute nicht absehen von Erträgen des Diskurses über Glauben und Wissen.
Rationalisierungsschub in der Achsenzeit
Eingehend setzt sich Habermas mit der von Karl Jaspers als «Achsenzeit» bezeichneten Phase (ca. 800 bis 200 v. Chr.) auseinander. Es ist die Zeit der israelitischen Propheten, der Ausbildung von Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus sowie der griechischen Philosophen. Diese Achsenzeit bringt den eurasischen Kulturen einen mächtigen Rationalisierungsschub. Dieser schafft kritische Distanz zu den überlieferten Mythen, entwickelt kohärente Weltbilder, moralisiert das Heilige und universalisiert die Moral.
Es sind genau diese Bewegkräfte, die in der Folge die okzidentale Welt formen und damit die Prozesse in Gang setzen, die Habermas nachzeichnet. Auf das Panorama der Achsenzeit-Kulturen hat er sich, wie er selber sagt, mangels Spezialwissen und einschlägiger Sprachkenntnisse «als Amateur» eingelassen. Was er zu dem kulturgeschichtlichen Phänomen zusammenträgt und zur grossen Synthese verarbeitet, sprengt jedoch entschieden den Rahmen einer Liebhaberei. Es ist denn auch für das gesamte Werk, das auf die abendländische Entwicklung fokussiert, von grundlegender Bedeutung.
Die denkende Religion
Mit Sorgfalt zeichnet Habermas die komplexe Entstehung des Christentums nach. Christliche Lehre und Praxis wachsen im Zuge einer rückblickenden Deutung des Kreuzestods Jesu aus dem Judentum heraus. Bei Jesus wird die alttestamentliche Gesetzesmoral erweitert zu einer Ethik der Versöhnung. Entscheidend für die welthistorische Wirkung des Christentums ist Paulus. Er hat das Christentum theologisiert und systematisiert, doch fügt er diesem damit nichts Wesensfremdes hinzu: «Das Christentum zeichnet sich dadurch aus, dass die Überlieferung von Beginn an durch eine theologische Reflexion auf die mündlich tradierte Lehre des Stifters mitkonstruiert worden ist.» Schleiermacher hat deswegen das Christentum «die denkende Religion» genannt.
Schon in der Alten Kirche zur Zeit des Hellenismus beginnt die wechselseitige Auseinandersetzung zwischen christlicher Lehre und philosophischem Denken – hier zunächst mit einer doppelten Reflexion: «Die christliche Lehre musste sich gleichzeitig (…) zum Judentum auf der einen und zu den hellenistischen Erben Platons auf der anderen Seite, also zu zwei starken Traditionen der Achsenzeit ins Verhältnis setzen.»
Das platonische Erbe (Platon lebte von 428/27 bis 348/47 v. Chr.) ist die erste umfassende und systematisch durchgearbeitete Theorie der Philosophiegeschichte. Ihrer Ideenlehre sowie ihrem Stufenaufbau mit den entsprechenden Schritten der Erkenntnis ist die Vorstellung einer «Rettung» der philosophisch zu Bildenden – eine Art Heilsweg also – eingeschrieben. Der Platonismus hat in der griechisch-römischen Antike während etwa acht Jahrhunderten eine dominante Stellung. So ist er denn auch das wichtigste intellektuelle Vis-à-vis der sich ausbreitenden christlichen Kirche.
Theologie und Metaphysik im Pas de deux
Augustin (354–430) ist deren herausragender Theologe. Sein «Hindurchfiltern der Glaubensgehalte durch den philosophischen Denk- und Argumentationsstil» des Platonismus hat nicht nur zur Ausbildung einer wissenschaftlichen Theologie geführt, sondern auch «die philosophische Begriffssprache mit der Semantik ihrer Glaubenserfahrungen infiltriert, umgeformt und erweitert.»
Der Neuplatoniker Plotin (205–270) liefert mit seiner zwischen Philosophie und Religion angesiedelten Ideenlehre dem Theologen und Bischof Augustin eine ausformulierte Metaphysik als Vorlage und Pièce de Résistance – wobei Augustin seine Theologie immer zugleich als «die bessere Philosophie» versteht. Bemerkenswert ist Plotins weitreichende Wirkung bis zu den spekulativen Idealisten des frühen 19. Jahrhunderts. Plotins Bemühen um die Formulierung absoluter Transzendenz inspiriert Schelling und Hegel anderthalb Jahrtausende später zur genialen Formel «Identität von Identität und Differenz». Habermas wird immer wieder auf sie zurückgreifen, um die formal-logische Struktur metaphysischen Denkens zu beschreiben. Als metaphysisch gelten diejenigen Begriffe und Konzepte, die über das konkrete Einzelne, Besondere und Allgemeine hinaus auch umfassende Totalitäten für real halten und mit entsprechenden Weltbildern operieren.
Augustin vertritt sowohl den Vorrang des Glaubens vor dem Wissen wie die Vernünftigkeit der Glaubensinhalte. Nun kollidiert aber ausgerechnet der Kern des christlichen Glaubens – die Menschwerdung Gottes – mit jeglicher Rationalität. Augustin versucht zu harmonisieren und entwickelt hierzu elaborierte Deutungen von Hauptbegriffen wie Sünde, Freiheit, Gnade und Ewigkeit. Im Kern dieses Theoriegebäudes steht Augustins Lehre von Zeit und Ewigkeit, ein geniales Glanzstück spekulativer Philosophie, das heute noch begeistern kann.
Im antiken Verhältnis zwischen Wissen und Glauben, bzw. zwischen Philosophie und Theologie rumort immer wieder diese eine Frage: Existiert die Welt ewig, oder ist sie ein Geschöpf des ewigen Gottes? Augustin wendet sich gegen die in der zeitgenössischen Philosophie gängige Vorstellung von der Ewigkeit des Kosmos und der ewigen Wiederkehr. Die christliche Lehre sieht ein Ende der Zeiten als Ziel der Geschichte. Sie rechnet mit etwas Kommendem, das neu und einmalig ist.
Dieses Neue – und damit das für den Glauben Entscheidende – ist mit der Vernunft nicht zu fassen. Das hat Konsequenzen für das Verhältnis von Glauben und Wissen: Augustin postuliert eine völlige Unabhängigkeit der Glaubensautorität von der Vernunft.
Ein Vergessener taucht auf
Am Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter bilden sich konstitutive Elemente des modernen Europa aus, und zwar auf der Erfolgsspur des lateinischen, nicht des griechischen Christentums. Im Westen werden Priester und Mönche zu Pionieren der Schriftkultur. Während Byzanz die spätantike Symbiose von weltlicher und geistlicher Macht beibehält, bildet der Westen eine bipolare Machtstruktur aus. Gleichzeitig löst die Verinnerlichung des Glaubens im Mönchtum einen Schub der Individualisierung aus.
Im 11. Jahrhundert begünstigen mildes Klima, Bevölkerungswachstum und wirtschaftliche Dynamik eine kommerzielle und kirchliche Revolution. Ein neues Milieu von Stadtbürgertum, Handel und Gewerbe wird zum Vorläufer der gesellschaftlichen Moderne. Ordensschulen und Universitäten verarbeiten theologisches und profanes Wissen. Geistliche Orden breiten sich aus: Die Cluniazenser betreiben hundert Jahre nach ihrer Gründung (920) in ganz Europa bereits mehr als tausend Klöster!
Eine der grössten geistigen Umwälzungen des Abendlandes verdankt sich der Wiederentdeckung der aristotelischen Philosophie im 13. Jahrhundert. Der Universalgelehrte, Philosoph und Naturforscher Aristoteles (384–322 v. Chr.) ist der wohl einflussreichste Denker überhaupt. Doch in der Spätphase Westroms ist sein Werk nur noch in Spuren präsent. Die Kirchenväter kennen ihn kaum, sodass sich bis ins Hochmittelalter die Wirkung des Aristotelismus weitgehend verliert.
Lebendig ist seine Philosophie hingegen in der islamischen Welt geblieben. Schon im 9. Jahrhundert liegen seine Schriften auf Arabisch vor. Der Perser Ibn Sina oder Avicenna (ca. 980–1037) sowie der in Andalusien lebende Ibn Rusch (1126–1198, latinisiert: Averroes), werden zu Vermittlern der Werke des Aristoteles, indem ihre vorwiegend arabischen Schriften ins Latein übersetzt und ab ca. 1200 im Okzident rezipiert werden.
Thomas von Aquins Ringen mit Aristoteles
In der hochmittelalterlichen Gelehrtenwelt der Scholastik schlägt der endlich bekanntgewordene Aristotelismus wie eine Bombe ein. Für das christliche Verständnis von Glauben und Wissen war bis ins 11. Jahrhundert noch immer Platon der massgebliche Philosoph. Dessen Lehre des kontemplativen Aufstiegs zur Idee des Guten diente den Theologen als Brücke zum christlichen Heilsweg.
Als die Schriften des Aristoteles allmählich im Westen auftauchen, führen sie sogleich zu tiefer Beunruhigung unter den mittelalterlichen Theologen. Einer von ihnen wächst durch die gewaltige geistige Herausforderung zum epochalen Erbauer eines imponierenden Gedankengebäudes heran. Es ist der Italiener Thomas von Aquin (1225–1274), der in permanenter Auseinandersetzung mit dem 1600 Jahre älteren Aristoteles das erste umfassende, im christlichen Geist entworfene philosophische System erschafft.
Die aristotelische Naturphilosophie basierte erstmals auf methodisch verarbeiteter Erfahrung, die in einem deduktiven Aufbau begründungsfähig gemacht wurde. Philosophie und Naturforschung erreichten dadurch das Niveau der axiomatisch aufgebauten euklidischen Mathematik. Dieser für das Hochmittelalter neue, revolutionäre Denkansatz konfrontiert die Scholastik «mit einer diskursiv ernüchterten Konzeption wissenschaftlicher Erkenntnis» und öffnet eine Kluft zwischen Glauben und Wissen.
Thomas sieht Natur und Geschichte in einem Kontinuum. Dadurch kann er Metaphysik und Heilsgeschichte miteinander verbinden, obschon die erste einen ewigen Kosmos annimmt und die zweite die Welt als ganze zeitlich versteht. Mit seinem Versuch zur Versöhnung der im Grunde inkompatiblen Denkansätze stösst Thomas auf ein Problem, das schon bei Aristoteles nicht gelöst war. Dieser hatte, obschon Empiriker, nicht konsequent auf eine Metaphysik verzichtet, deren Kennzeichen es ja ist, die Welt als solche und als Ganze zu denken. Empirisches Denken setzt im Unterschied zum metaphysischen immer beim Einzelnen an. Thomas bemerkt, dass die aristotelische Metaphysik in der Luft hängt und überdeckt das Problem mit einer hochkomplexen Begriffskonstruktion; seine Nachfolger werden sie umgehend zerzausen.
Konsequent und epochemachend war Aristoteles hingegen bei der Ethik. Mit der Entkoppelung von theoretischer und praktischer Vernunft eilte er der Philosophie um mehr als ein Jahrtausend voraus. Seine Tugendlehre kam ganz ohne metaphysische Prämissen aus. Ethik war bei ihm Ratgeberin für das Streben nach Eudaimonia (Wohlergehen, Glückseligkeit). Sie hatte profanen Charakter und erforderte Urteilskraft (Phronesis) – im Unterschied zu der in theoretischen Belangen nötigen Erkenntnis (Episteme).
Wie gehört Ethik zur Philosophie?
Die Theologen des 13. Jahrhunderts versuchen die von Aristoteles aufgegebene Einheit des theoretischen und praktischen Wissens wiederzugewinnen. Gott ist für sie Ens realissimum (allerwirklichstes Sein) und summum Bonum (höchstes Gut) in Einem. Die Geltungskraft der göttlichen Gebote verschmilzt so mit der Wahrheit der Lehre vom höchsten Sein. Genau diese Verankerung des Moralischen im Ontologischen droht mit der von Aristoteles postulierten Differenzierung ins Wanken zu geraten. Und auf ebendieses Problem spitzt sich in der Genealogie des Verhältnisses von Glauben und Wissen bei fortschreitender Tendenz zur Trennung der beiden Grössen die philosophische Debatte immer wieder zu.
Aristoteles stellt sein System auf die Basis einer Wissenschaft vom Seienden (Ontologie). Darin folgt ihm Thomas, doch er möchte die Ontologie für die Vorstellung eines persönlichen Schöpfergottes und den Glauben der Kirche öffnen. Zu diesem Zweck entwickelt er den Gedankengang seines Traktats zur Ontotheologie, «De ente et essentia». Er operiert mit der aristotelischen Vorstellung einer dualen Seinsstruktur von Potenz und Akt, bzw. Möglichkeit und Wirklichsein: Ein Wesen befindet sich solange bloss im Status des Möglichen, als nicht das Wirklichsein als ontologische Qualität hinzukommt. Jedes Wesen muss sein eigenes Sein von einem anderen Wesen erlangen. Am Ende der Kette steht der Schöpfergott.
Nach der von Thomas geteilten griechischen Auffassung kann es von Einzeldingen keine Wissenschaft geben. So wäre denn nicht nur das Heilsgeschehen der wissenschaftlichen Erkenntnis entzogen, sondern ebenso auch das menschliche Handeln. Aristoteles hat ja die Ethik gegenüber der Metaphysik und der Naturwissenschaft zurückgestuft und in die Zuständigkeit der Phronesis (Urteilskraft) verwiesen. Diese Abwertung darf für Thomas nicht sein: Geschichte und Praxis müssen genauso wissenschaftsfähig sein wie die Metaphysik. Grund dafür ist die Theologie, für die der Schöpfer und der Erlöser identisch sind. Also konzipiert Thomas die Ethik als Scientia practica, er ontologisiert sie.
Von der Sprachkritik zum Individuum
Am Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter kommt es nach jener geistigen Revolution, die von der verzögerten Aristoteles-Rezeption ausgelöst wurde, gleich zu einer nochmals tieferen philosophischen Umwälzung. Sie ist verbunden mit den Namen Johannes Duns Scotus (um 1266–1308) und Wilhelm von Ockham (um 1288–1347). Als Exponenten im sogenannten Universalienstreit bzw. Nominalismus wirken die beiden bis in gegenwärtige Fachdiskussionen hinein. Ihr Denken haben sie als Via moderna von der Via antiqua der thomistischen Scholastik scharf abgegrenzt.
Thomas von Aquin behauptet eine Analogie zwischen endlichem Seiendem und unendlichem Seiendem. Dieser Begriffsgebrauch von «Seiendes» wird von Duns Scotus als unzulässige Äquivokation durchschaut: «Seiendes» ist eine transkategoriale (für alle Kategorien gleichermassen geltende) Bestimmung und taugt weder für eine Sicherung metaphysischer Thesen noch für eine Erkenntnis Gottes. Mit diesem Gedanken stösst Duns Scotus auf philosophisches Neuland vor: Er wagt sich an eine logisch-semantische Untersuchung metaphysischer Begriffe.
Seiendes, so die sprachkritische Analyse, ist der bedeutungsärmste und inhaltsreichste Begriff und kann deshalb für Gott und dessen Kreaturen, für Unendliches und Endliches gebraucht werden. Zwischen endlichem Seiendem und unendlichem Seiendem besteht nicht ein Verhältnis wie zwischen Sache und Sache, sondern zwischen unterschiedlichen sprachlichen Eigenschaften des Begriffs «Seiendes». Mit seiner semantischen Operation bricht Duns Scotus die Brücken zwischen Glauben und Wissen ab und entlässt beide in eine bisher ungekannte Eigenständigkeit. Auf lange Sicht ebnet dies auf der einen Seite den Weg zur modernen Naturwissenschaft. Auf der anderen Seite erlaubt es ein Denken, das metaphysische Begriffe mit Natur und Geschichte in Verbindung bringt und in neuzeitlichen Geistes- und Sozialwissenschaften eine Fortsetzung finden wird.
Die Allmacht Gottes bedeutet, dass Gott frei wollen kann, was für Scotus die Kontingenz (die Unvorhersehbarkeit) des Geschehens in der Welt und die Möglichkeit des radikal Neuen erklärt. Damit bekommt das Besondere und Konkrete eine neue philosophische Dignität. Die Natur besteht aus kausal geordneten und in diesem Sinn notwendigen Dingen, die jedoch auch anders sein könnten. Reflektierte Erfahrung gewinnt als Medium der Erkenntnis dadurch eine ganz neue Bedeutung, und das Individuum wird philosophisch validiert.
Durchbruch zum nachmetaphysischen Denken
Radikaler als Scotus ist der Engländer Wilhelm von Ockham, Franziskaner auch er. Bei ihm erkennt Habermas den Durchbruch zu einem nachmetaphysischen Denken, also gewissermassen den Dreh- und Angelpunkt seiner Genealogie des Verhältnisses von Glauben und Wissen. Allerdings wird sich zeigen, dass die Metaphysik in der weiteren Entwicklung der Philosophie noch längst nicht aus den Traktanden gefallen ist; der Versuch, in Totalitäten zu denken, reizt allen Dekonstruktionen zum Trotz bis in die Gegenwart immer wieder zu philosophischen Entwürfen.
Klarer als sein Mitbruder im Franziskanerorden arbeitet Wilhelm das revolutionäre nominalistische Konzept heraus: Allgemeinbegriffe sind Gedankendinge ohne ontische Korrelate. Die Kluft zwischen Glauben und Wissen vertieft sich. Glaubenswahrheiten haben zwar ihre eigene Rationalität als widerspruchsfreies System von Sätzen, aber sie beruhen nicht auf selbstevidenten Wahrheiten. Der «gläubige» ist vom «wissenschaftlichen» Habitus getrennt.
Während Duns Scotus an einer «Gottesperspektive» auf das Individuum, am «individuierenden Blick Gottes» festhält, wechselt Wilhelm von Ockham zu einer «neutralen» Beobachterperspektive: Alles Seiende ist ausschliesslich in Einzeldingen vorhanden. Er schafft so die Grundlage zur Vergegenständlichung der Natur.
Wilhelm verwandelt den ontologischen Dualismus von Geist und Materie in das erkenntnistheoretische Verhältnis von Subjekt und Objekt. Habermas konstatiert an diesem Punkt eine «mentalistische Wende». Sie bestimmt für Jahrhunderte den Königsweg der Philosophie. Die Via moderna ist Ursprung der Bewusstseinsphilosophie. Glaubensakte, Gefühle, Vorstellungen etc. werden als Objekte einer inneren Beobachtung aufgefasst.
Der Philosoph als Intellektueller
Mit seinem Denken über Politik und Recht gehört Wilhelm von Ockham mit Marsilius von Padua und Dante Alighieri zu den ersten öffentlichen Intellektuellen, die mit ihren Schriften bewusst Einfluss nehmen auf den Gang der Dinge. Insbesondere die Belange von Gesetz, Herrschaft und Individuum werden neu verhandelt. Das Recht ruht auf naturrechtlichen Prinzipien, die aber nicht bei jedem Fall direkt anwendbar sind. Es braucht deshalb ein breit ausgearbeitetes positives Recht und ein Verfahrensrecht, das dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit unterliegt. Wilhelm postuliert eine Verrechtlichung jeder Herrschaft sowie der Justiz. Herrschaft von Menschen über Menschen ist nur soweit legitim, wie sie zur Sicherung des notwendigen gemeinsamen Handelns dient.
Das gilt genauso auch für die Kirche. Wilhelm sieht sie als Parallelfall zum Staat. Als korporativ verfasste Organisation ist sie ein weltliches Phänomen. Dem Papsttum darf keine unbeschränkte geistliche und weltliche Macht zukommen. Oberstes Rechtsprinzip der Kirche – das sog. «evangelische Gesetz» – ist ein Gesetz der Freiheit; die Gläubigen dürfen nicht einem Regime der Knechtschaft unterworfen werden. Der Papst ist irrtumsanfällig. Deshalb soll die dialektische Argumentationspraxis der Universitäten auch in der Kirche gelten. Die letzte Entscheidungskompetenz hat nach Wilhelms Vorstellung bei einem Generalkonzil zu liegen, das alle Gläubigen vertritt. Legitime Herrschaft kann in Kirche und Welt immer nur unter Freien und Gleichen stattfinden.
Auch wenn Wilhelm von Ockham noch nicht zu Ideen wie Volkssouveränität und Gleichheit aller Menschen vorstösst: die herrschaftskritische und egalitäre Tendenz seiner Philosophie ragt aus seiner Zeit heraus. Sie liegt in der Konsequenz seiner kühnen Auflösung der wesenhaft hierarchischen Metaphysik und seiner scharfen Trennung von Wissen und Glauben.
Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, 1700 Seiten, Suhrkamp Verlag 2019.
Teil 2 der Besprechung erscheint am 2., Teil 3 am 4. September 2020.