Die jüngste Regierungskrise in Italien hat etwas Seltsames an sich. Normalerweise tritt eine Regierung zurück, wenn ihr im Parlament das Misstrauen ausgesprochen wurde. Das ist hier nicht der Fall. Im Gegenteil: Conte überstand vor gut einer Woche eine wichtige Vertrauensabstimmung im Senat – knapp zwar, aber eben doch.
Wieder einmal befasst sich die italienische Politik mit sich selbst. Persönliche Befindlichkeiten, das Ego einzelner Spitzenpolitiker stehen wieder im Vordergrund, obwohl man nun wirklich Wichtigeres zu tun hätte. Es geht um die Frage, wie Italien die EU-Milliarden des Aufbaufonds verteilen und investieren soll. Gelingt innerhalb der nächsten Wochen keine Einigung, besteht die Gefahr, dass die EU das Geld blockiert – oder gar streicht.
Applaus für Conte
Am Vormittag hatte Conte seine Minister zum letzten Mal zusammengerufen. Er dankte allen für ihre Arbeit. Dieses letzte Ministertreffen ging mit einem langen Applaus für den abtretenden Regierungschef zu Ende. Am Mittag fuhr Conte zum Quirinal hoch, einem der sieben Hügel Roms, wo sich der Sitz von Staatspräsident Sergio Mattarella befindet.
Es wird erwartet, dass Mattarella, einer der besonnensten Politiker des Landes, Conte erneut, zum dritten Mal, mit der Regierungsbildung beauftragen wird.
Vorausgesetzt allerdings, dass Conte eine „solide parlamentarische Mehrheit“ hinter sich scharen kann. Das konnte er nach dem Auszug von Matteo Renzis Partei „Italia Viva“ nicht mehr. Bei der Vertrauensabstimmung im Senat letzte Woche gewann er zwar die Mehrheit, aber nur eine einfache und nicht die absolute. Damit wurden ihm die Hände gebunden.
Wofür das ganze Renzi-Theater?
Findet er nun eine „solide Mehrheit“? Die Fünf-Sterne-Bewegung, die Cinque Stelle, die Sozialdemokraten und die kleine Linkspartei „Liberi e Uguali“ (LeU) stützen ihn weiterhin. Unklar ist, ob Renzis „Italia Viva“ wieder in den Schoss der Conte-Koalition zurückkehrt. Wenn ja, kann man sich fragen, wofür das ganze Renzi-Theater gut war.
Renzi, der frühere sozialdemokratische Ministerpräsident, hatte letztes Jahr seine Mutterpartei verlassen und eine eigene Partei gegründet: „Italia Viva“. Entgegen Renzis Hoffnung dümpelt diese Partei zwischen 2,5 und 3,5 Prozent dahin. Italia Viva hatte vor zehn Tagen die Regierungskoalition verlassen und damit die jetzige Regierungskrise ausgelöst.
Auf dem hohen Ross
Nach Renzis Auszug aus der Regierung fehlten Conte entscheidende Stimmen, um weiter zu regieren. Renzi warf Conte Unfähigkeit vor. Viele sind der Ansicht, dass der frühere Ministerpräsident, dessen Glanz längst verblasst ist, sich wieder in die Schlagzeilen hissen und sein Ego befriedigen wollte.
Renzi hat sich aufs hohe Ross gesetzt. Wenn er nun heruntersteigt, verliert er seinen Leuten gegenüber an Ansehen. Bleibt er auf dem hohen Ross, besteht die Gefahr, dass man ihn allein für die Regierungskrise mit all ihren Folgen verantwortlich macht.
Dass sich Conte und Renzi spinnefeind sind, ist bekannt. Möglich ist, dass Renzi eine neue Regierung unterstützen wird, vorausgesetzt, Ministerpräsident Conte wird ausgewechselt. Ebenso möglich ist, dass Conte Renzi einige Konzessionen macht, was ihm ermöglichen würde, unter Wahrung seines Gesichts wieder in die Regierung einzutreten.
Uneinige Rechte
Conte wird in den nächsten zwei Tagen verzweifelt versuchen, die kleinen Mitte-Parteien in eine neue Regierungskoalition einzubinden. Auch an mögliche Überläufer von Berlusconis Forza Italia wendet er sich. Mattarella wird am Mittwoch mit seinen Konsultationen beginnen und die Fraktionen der einzelnen Parteien treffen. Immer wieder wird auch Mario Draghi, der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank, als möglicher Ministerpräsident genannt.
Die populistische Rechte tut sich schwer mit der jetzigen Regierungskrise. Die drei Rechtsparteien, die Lega von Matteo Salvini, die postfaschistischen „Fratelli d’Italia“ von Georgia Meloni und Berlusconis Forza Italia, sind sich sehr uneinig. Die einen wollen absolut schnelle Neuwahlen. Vor allem Berlusconi jedoch könnte sich vorstellen, sich in eine „Regierung der nationalen Rettung“ einbinden zu lassen. Forza Italia ist zu einer 7-Prozent-Partei geschrumpft. Eine Regierungsbeteiligung könnte Berlusconi wieder etwas aufwerten.
Conte eins, zwei, drei
Giuseppe Conte, ein parteiloser Rechtswissenschaftler, war am 1. Juli 2018 zum ersten Mal Ministerpräsident geworden. Diese Regierung „Conte uno“ wurde von Salvinis Lega und den Cinque Stelle gestützt.
Im August 2019 setzte Salvini, der in Meinungsumfragen weit vorne lag, zum Sturz der Regierung an. Er glaubte, durch Neuwahlen „die ganze Macht“, wie er sagte, erringen zu können. Doch Staatspräsident Mattarella setzte keine Neuwahlen an, sondern beauftragte Conte erneut mit der Regierungsbildung. Diese „Conte bis“-Regierung stützt sich vor allem auf eine Koalition der Cinque Stelle und der Sozialdemokraten. Sie regiert seit 16 Monaten. Ihre Bilanz kann sich sehen lassen. Conte ist der populärste Regierungschef der letzten Jahrzehnte. Weshalb soll man ihn stürzen, fragen sich viele.
Jetzt also könnte der Staatspräsident den bisherigen Ministerpräsidenten zum dritten Mal mit der Regierungsbildung beauftragen. Gelänge es Conte, eine Mehrheit zu finden, wäre dies dann die Regierung „Conte ter“ (ter für terzo).
Neuwahlen sind wenig wahrscheinlich
Doch wenn es nicht gelingt, schnell eine neue Mehrheit oder einen neuen Regierungschef mit einer neuen Mehrheit zu finden, wären wohl vorgezogene Neuwahlen der letzte Ausweg. Doch solche sind wenig wahrscheinlich. Aus einem bestimmten Grund.
Die jetzige Legislatur dauert in Italien bis 2023. Im September des letzten Jahres hatten die italienischen Wahl- und Stimmberechtigten in einer Volksabstimmung einer Verkleinerung des Parlaments zugestimmt – deutlich mit fast 70 Prozent der Stimmen. Die Grosse Kammer, die Camera dei Deputati, wird von jetzt 630 auf 400 Abgeordnete verkleinert, der Senat von 315 Mitglieder auf 200.
Bekannt ist, dass die italienischen Parlamentarier zu den bestbezahlten der Welt gehören. Sie geniessen zudem weitreichende Privilegien.
Die Verkleinerung der beiden Parlamentskammern würde mit Neuwahlen in Kraft treten. Viele Parlamentarier müssten also befürchten, bei einer Auflösung des Parlaments nicht mehr gewählt zu werden. Sie würden dann ihre satten Diäten und Privilegien verlieren. So sagen sich viele: „Was sollen wir die Regierung stürzen und Neuwahlen provozieren? Wir würden ja nur unser Einkommen riskieren.“