In seinem Essay unter dem Titel «Weltfrömmigkeit» betritt Andreas Iten mit seinen Lesern einen Weg, der mit dem ganz persönlichen Leben und Erleben beginnt und weiter und weiter an den Horizont letzter Fragen führt. Aus jeder Seite spricht die Erfahrung des Pädagogen und Politikers, der zeit seines Lebens im Zwiegespräch mit grossen Autoren stand.
Sein Essay – man könnte auch sagen: seine Erkundung – gliedert sich in fünf Teile. Im ersten Teil über das «gelingende Leben» geht es Andreas Iten um die Frage, worin die Grundbedingung dafür besteht, dass ein Mensch im Laufe seines Lebens mit sich selbst ins Reine kommt. Die Antwort ist im Grunde sehr einfach: Der Mensch findet nur dann Erfüllung in seinem Leben, wenn er ein Sensorium für die Aufgaben entwickelt, die auf ihn warten. Erst dadurch entsteht eine Lebensspannung, die ihn als Menschen in der Begegnung mit anderen interessant werden lässt. Iten unterscheidet zwischen dem «lebensmüden» und dem «lebensgesättigten» Menschen. Der lebensmüde Mensch ist aller Dinge überdrüssig, weil er sich im Grunde für nichts interessiert: «Er hat wenig zu erzählen. Von den Reisen ins immer gleiche Hotel in Südtirol ist rasch berichtet.» Und Smalltalks «reicher Leute» drehen sich um die Fragen: «Wo legst du dein Geld an? Wohin gehst du in die Ferien. Wo isst man gut.»
Die Grundhaltung der «Weltfrömmigkeit»
Um ein erfülltes Leben zu führen, bedarf es keiner spektakulären Aufgaben. «Ein erfülltes Leben kann in jedem Winkel gefeiert werden, es braucht dazu keinen Palast.» Der Mensch braucht nur einen Ort, «wo seine Talente und Begabungen, sein Engagement und seine Hilfsbereitschaft Anerkennung finden». Das Sensorium für Aufgaben setzt voraus, dass der Mensch sich nicht «verwöhnen» lässt. Denn wer verwöhnt wird, verliert seine Eigenständigkeit und seine Bereitschaft, sich selbst zu fordern.
Wie um den Verdacht zu zerstreuen, diese Ausführungen zielten auf eine etwas freudlose Askese, widmet sich Andreas Iten in seinem zweiten Kapitel dem «würdigen Geniesser». Iten versteht viel von gutem Essen, wie man in seinen früheren Büchern hier und da erfuhr, und er hat ein Kochbuch geschrieben. In seinem Essay geht es ihm aber auch um die Frage, wie Philosophen gegessen haben. Immanuel Kant und Jean-Paul Sartre kommen dabei gar nicht gut weg. Dagegen stellt er eine gehobene Esskultur, die entstehen kann, wenn das Grundbedürfnis der blossen Nahrungsaufnahme erfüllt ist. An der Tafel entstehen gute Gespräche, sie dient der Feier und nicht zuletzt der Erotik. Dem stellt er scharf «die Peinlichkeit der Gourmandise» entgegen, also die «Völlerei» und den verschwenderischen Umgang mit Nahrungsmitteln. Er fordert eine neue Grundhaltung, die er an dieser Stelle im Vorgriff auf seine späteren Ausführungen als «Weltfrömmigkeit» charakterisiert.
In Geschichten verstrickt
Mit dem 3. Abschnitt «Zur Poetologie der Religionen» beginnt im Grunde der zweite Teil seines Essays, der aus fünf Abschnitten besteht. Der Übergang wirkt etwas abrupt, aber man versteht, dass die Frage nach dem gelingenden Leben in den ersten beiden Abschnitten auf eine Sinndeutung zielt, die auch religiöse Dimensionen hat. Wie aber können wir Religion heute noch denken und verstehen? Ganz offensichtlich hat sich Andreas Iten wieder und wieder mit dieser Frage beschäftigt und dazu grosse Denker der Vergangenheit, aber auch zeitgenössische Schriftsteller wie Peter Sloterdijk und Thomas Hürlimann befragt.
Ein zentraler Gedanke, den er im Rahmen verschiedener Exkurse und Auseinandersetzungen mit der griechischen Antike bis hin zu Albert Einstein, Bertrand Russell, Karl Jaspers, Hermann Lübbe und auch Peter Sloterdijk entwickelt, besteht darin, dass der Mensch «in Geschichten verstrickt» ist. Diese Formulierung wurde von Wilhelm Schapp gefunden, um zu zeigen, dass jenseits aller Metaphysik Menschen in Geschichten leben, die sie interpretieren. Die metaphysische Frage nach der Realität Gottes kommt auf diese Weise auf eine existentielle Ebene, die dem Einzelnen die Freiheit gibt, die Geschichte der Welt und seine eigene Geschichte aus seiner eigenen Perspektive heraus zu deuten.
Anwalt der Erde
Dazu kann die Religion dienen, die aber immer in der Gefahr steht, blosse Gedankenkonstruktionen für eine letztendliche Wahrheit zu halten. Viel Sympathie hat Andreas Iten für Karl Jaspers, der in den religiösen Bezügen «Chiffern» – Andeas Iten benutzt diesen an sich veralteten Ausdruck für «Chiffren» – sieht. Seine Schlaglichter auf einige der tiefen Diskussionen des 20. Jahrhunderts zwischen Albert Einstein und Bertrand Russell zeigen auch, wie sehr er sich zeit seines Lebens mit den grossen und letzten Fragen beschäftigt hat.
Was ist nun die «Weltfrömmigkeit»? Sie kann sich nicht auf die überkommene christliche Religion allein stützen, denn sie wird zu oft für vordergründige Interessen missbraucht: «Der Weltfromme kann sich also nicht auf die Religion verlassen. Er muss sich von ihr emanzipieren und seiner Vernunft folgen.» Dieser Maxime gesellt Andreas Iten eine sehr schöne und berührende Beobachtung hinzu: Zur Religion gehört auch das tiefe Gefühl der Dankbarkeit. Früher galt die Dankbarkeit einem mehr oder weniger persönlich vorgestellten Gott. Im Sinne der «Weltfrömmigkeit» vor dem Hintergrund unseres naturwissenschaftlich geprägten Weltbildes formuliert Andreas Iten jetzt: «Auch wenn die Erde mit ihrer Geschichte kein Ziel verfolgt, so schuf sie in wunderbarer Weise doch ein Wesen, das sich seiner selbst bewusst werden kann. Mit dem Selbstbewusstsein wird der Mensch zum Mitgestalter des Lebens und seiner eigenen Umstände.»
Deswegen, so spitzt Andreas Iten seinen Gedankengang zu, sucht die «Weltfrömmigkeit» ihre Orientierung nicht in der Transzendenz, die Karl Jaspers in religiösen Chiffren angedeutet findet, «sondern in der sinnlich wahrnehmbaren Ordnung der Dinge». Diese Sicht ist für ihn mit einer unhintergehbaren Verpflichtung verbunden: «Eine tiefe Weltfrömmigkeit bürdet dem Menschen die Verantwortung auf, Anwalt der Erde zu sein.»
Andreas Iten: Weltfrömmigkeit. Gut ist zu leben. Ein Essay in fünf Abschnitten, 139 Seiten, Bucher, 2023, CHF 23.90