Fast genüsslich, möchte man sagen, zitierte die BBC-Nachrichtensendung Outside Source am 16. August gleich zweimal die Einschätzung der politischen Lage in Afghanistan von US-Präsident Joe Biden. Nein, habe Biden vor kurzem gesagt, die Taliban seien in keiner Weise in der Lage, Kabul in absehbarer Zeit zu erobern. Und nein, Bilder wie beim Abzug der amerikanischen Truppen aus Saigon im Jahre 1975 werde es in Kabul nicht geben.
Es gab diese Bilder: Menschen, die sich verzweifelt an ein startendes amerikanisches Transportflugzeug hängten, und es gab Leichenteile, die in eben diesem Flugzeug nach der Landung in Katar im Fahrwerksschacht gefunden wurden – weshalb der Pilot schon kurz nach dem Start berichten musste, sein Fahrwerk lasse sich nicht vollständig einziehen.
Die grosse, kaum bündig zu beantwortende Frage lautet: Warum? Wie kann das sein, nach zwanzig Jahren militärischen und zivilen Einsatzes, nach Investitionen von rund 100 Milliarden Dollar in die afghanische Armee?
Siegmar Gabriel, ehemaliger deutscher Aussenminister, sagte am 17. August im Deutschlandfunk, das Nation Building habe weder im Irak noch jetzt in Afghanistan funktioniert. Tatsächlich, das lehren diese beiden Beispiele, ist es unmöglich, auf andere Gesellschaften mit ihren eigenständigen Kulturen und Traditionen ganz einfach westliche Strukturen überzustülpen.
Fehlende Voraussetzungen einer Modernisierung
Eine Afghanin, die in den 1970er Jahren von ihrem Vater nach Deutschland zur Ausbildung geschickt wurde, seitdem in Deutschland lebt und die deutsche Staatsbürgerschaft hat, sagte dem Autor dieses Berichtes voller Kummer und Verzweiflung über die Ereignisse in ihrem Land, Schuld seien die Afghanen selber: Habgier, Korruption, mangelnde Bildung besonders auf dem Land, die Zersplitterung in Stämme, Unterstämme und Familienclans hätten zu der Tragödie geführt, die sich jetzt in ihrem Land entfalte.
Der afghanische Schriftsteller Taqi Akhlaqi fasste die Tragödie seiner Heimat in einem Beitrag der Süddeutschen Zeitung vom 18. August 2021 so zusammen:
„Die Islamische Republik steckte tief in der Sickergrube der Korruption (…) Seit vielen Jahren wussten wir über die nicht existenten Geisterlehrer in verschiedenen Provinzen, aber dann entdeckten wir Schritt für Schritt immer mehr Geisterschüler, Geisterschulen, Geisterkrankenhäuser, Geisterärzte, Geisterpatienten und – sehr gefährlich – Geistersoldaten. Man fragt sich jetzt, ob wir wirklich 350’000 Sicherheitskräfte hatten. Wie viele von ihnen existierten, wie viele gab es nur auf der Gehaltsliste? Wer kassierte die Gehälter und Boni all dieser Geistersoldaten? Die korrupten Beamten (…) nahmen das afghanische Volk als Geisel und missbrauchten die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.“
In der Tat, ein Staat, wie ihn der Westen sich vorstellt, ein Gemeinwesen, in dem, theoretisch wenigstens, divergierende Interessengruppen letztlich für ein Funktionieren des Staates streiten – das hat es in Afghanistan nie gegeben und kann es, das zeigt die Geschichte, bisher auch nicht gegeben haben. Schon die hier jetzt grob aufzuzeigenden Stammesstrukturen haben dies nicht zugelassen.
Ungebrochene Stammesstrukturen
Die Paschtunen – selber in zahlreiche Stämme und Unterstämme verzweigt – machen etwa 15 Millionen Menschen (40 Prozent der Bevölkerung von insgesamt knapp 40 Millionen) aus. Sie haben sich stets als die eigentlichen Afghanen betrachtet. So sei, schreibt der Historiker Conrad Schetter, im afghanischen Sprachgebrauch der Begriff Afghane ein Synonym für Paschtune.
Die zahlenmässig zweitgrösste ethnische Gruppe, die Tadschiken, werden auf fünf bis neun Millionen Menschen geschätzt. Sie sind im ganzen Land verteilt, verstehen sich als Nicht-Paschtunen und als Nicht-Hazara und stellten lange Zeit, schreibt Konrad Schetter, einen Grossteil der Intelligenzija und der Wirtschaftsführer.
Die Hazara (etwa fünf bis zehn Millionen Menschen) sind durch ihr turko-mongoloides Aussehen, ihre schiitische Konfessionszugehörigkeit (Zwölfer-Schia) und ihre Sprache (Hazaragi), ein Idiom des Persischen mit mongolischem Einschlag, abgegrenzt.
Schliesslich die Usbeken: Sie sprechen das zentraltürkische Idiom Usbaki. Sie leben vor allem im Norden Afghanistans. Die Angaben über ihre Anzahl in Afghanistan schwanken zwischen 1,5 und 2,5 Millionen Personen. Daneben finden sich in Nordafghanistan noch etwa 500’000 Turkmenen.
Diese tribalistischen Strukturen bestehen noch heute. Versuche, diese zu überwinden, hat es kaum gegeben – anders als in den ehemaligen sowjetischen zentralasiatischen Regionen. Dort, schreibt Sonja Zekri in der Süddeutschen Zeitung vom 17. August, hätten die Bolschewiken vor hundert Jahren „eine Feudalgesellschaft, die ähnlich archaisch, tribalistisch und frauenfeindlich war wie die afghanische (…), in einem der „grössten sozialen Experimente der Neuzeit“ zerschlagen und „durch neue Werte, einen neuen, freieren Lebensstil“ ersetzt. Afghanistan dagegen habe in seiner Geschichte „nichts dergleichen erlebt“.
Dystopische Zustände
Im Gegenteil: Von der CIA aufgestellte lokale Milizen, schreibt Emran Feroz in den „Blättern für deutsche und Internationale Politik“ (Ausgabe März 2021) führten bei ihrer Suche nach Talibankriegern auf eigene Faust den „Krieg gegen den Terror“ weiter und gefährdeten durch diesen Privatkrieg die zarten Versuche des Nation Building.
Feroz, dessen Eltern Afghanistan angesichts der sowjetischen Intervention (1979) verlassen haben, schreibt, dass in den „betroffenen Gebieten fernab von Kabul oftmals dystopische Zustände“ herrschten: „Die Sicherheitskräfte werden dort vor allem als Aggressor wahrgenommen, der die eigene Bevölkerung als ‚Unmenschen‘ und ‚Terroristen‘ abstempelt und zum Abschuss freigibt. Die wachsende Wut und Trauer“, schreibt Feroz weiter, „machen es den Taliban leicht, die radikalisierten Teile der Bevölkerung für ihre Zwecke zu rekrutieren und sich selbst wieder als ernstzunehmenden Machtfaktor zu etablieren“.
Koloniale Hybris
Ist Afghanistan ein traditioneller Staat nach europäischem Muster? Kaum. Erst im 19. Jahrhundert, schreibt der Historiker Conrad Schetter, habe sich der Begriff „Afghanistan“ für die aus der Sicht der konkurrierenden Grossmächte Russland und Grossbritannien herrschaftslose Pufferzone zwischen Persien und den Kolonialmächten Russland und Britisch-Indien etabliert.
In dieser Rivalität liegt die Ursache für den kolonialen Konflikt, der als „Great Game“ in die Geschichte eingegangen ist: die Auseinandersetzung zwischen England, das seine Besitzungen in Indien abschirmen wollte, und Russland, das den Zugang zu einem warmen Meer eben dort suchte.
Als Grossbritannien seinen Einfluss in Afghanistan wegen des dortigen russenfreundlichen Herrschers Dost Mohammed schwinden sah, schickte das Imperium im Dezember 1838 seine Indus-Armee an den Hindukusch. Diese habe, schreibt Conrad Schetter, aus über 20’000 Mann, 38’000 Trossangehörigen und 30’000 Kamelen bestanden. „Die Ausstattung der Armee“, schreibt Konrad Schetter, „bietet ein schillerndes Stück Kolonialgeschichte.“ So hätten zwei Kamele die Zigarrenvorräte für die Offiziere transportiert, es seien Vorkehrungen für Fuchsjagden getroffen worden, und der Tross eines britischen Offiziers habe nicht selten aus 40 Dienern und 50 Kamelen bestanden.
Diese koloniale Hybris sollte in einem militärischen und menschlichen Desaster enden. Angekommen in Kabul, habe man feststellen müssen, dass ein kurzer erfolgreicher Kriegszug gegen den aufmüpfigen Herrscher aussichtlos sei. Man habe sich in Kabul einrichten müssen und sei schliesslich vier Jahre später vernichtend geschlagen worden. Lediglich 88 Offiziere, 12 Frauen und 22 Kinder seien am Leben geblieben. Alle anderen seien von den Afghanen niedergemetzelt worden oder in der Eiseskälte des Winters 1842 erfroren.
Ein Vietnam für die Sowjets
„Friedhof der Imperien“ hat man Afghanistan genannt. Knapp eineinhalb Jahrhunderte später, im Jahr 1989, wurde in Afghanistan das Ende eines anderen Imperiums eingeläutet: das der Sowjetunion. Zehn Jahre lang hatte Moskaus kommunistisches Regime versucht, die von ihm unterstützte Regierung in Kabul gegen muslimische Rebellen, die Mudschahedin, zu unterstützen.
Der Kampf war die Geburtsstunde der arabischen Afghanenkämpfer. Organisiert von Osama Bin Laden, strömten Tausende von Kämpfern aus arabischen Ländern an den Hindukusch, um das nach ihrer Ansicht gottlose Kommunistenregime zu stürzen. Amerika und seine CIA investierten grosszügig Milliarden von Dollar, um dem Erzfeind in Moskau eine Art Vietnam zu bereiten, eine Niederlage, wie sie die USA 1975 in Ostasien erlitten hatten.
Vermeintlich nützliche Gotteskrieger
Fast nahtlos an diese „arabischen Afghanen“ anknüpfend, erschien eine andere Gruppe von ideologischen Kämpfern auf der asiatischen Bühne – die Taliban, erzogen und indoktriniert in Koranschulen und Flüchtlingslagern in Pakistan. 1996 übernahmen diesen neuen Gotteskrieger die Herrschaft im nach dem sowjetischen Abzug 1989 und dem folgenden Bürger- und Stammeskrieg ausgebluteten Afghanistan.
Amerika sah sich mit einer neuen, quasi autochthonen Art von Dschihadisten konfrontiert. Da man aber ein heftiges Interesse daran hatte, mit Hilfe der US-Firma Unocal von Turkmenistan nach Pakistan via Afghanistan eine Gaspipeline zu bauen, musste man mit den Taliban ins Geschäft kommen.
Amerikanische Diplomaten, schreibt der exzellente Taliban- und Afghanistankenner Ahmed Rashid, hätten die Taliban gelobt, weil diese dem schiitisch geprägten Iran feindlich gesinnt seien, weil sie angeblich den Mohnanbau beenden wollten und weil sie für die arabischen Afghanistankämpfer kaum Sympathie hegten. „Einige US-Diplomaten“, schreibt Ahmed Rashid, „sahen in ihnen (den Taliban) messianische Gutmenschen – wie wiedergeborene Christen im amerikanischen Bible Belt.“
So verblendet seien die Amerikaner von den Taliban, exakter von ihren Ölinteressen gewesen, schreibt Ahmed Rashid, dass sie kein Wort der Kritik an den Taliban geübt hätten, nachdem diese 1995 die afghanische Stadt Herat erobert und Tausende von Mädchen aus den Schulen verbannt hatten. „Tatsächlich betrachteten die USA“, schreibt Rashid, „den Fall von Herat als Hilfe für Unocal und als Mittel, die Schlinge um den Iran fester zu zerren.“ Wieder einmal ging es nicht um die Menschen, sondern um wirtschaftliche und sogenannte geopolitische Interessen.
Erst nachdem Osama bin Laden unter dem Schutz der Taliban am 11. September 2001 das World Trade Center in New York zerstört hatte, fand die politische Romanze zwischen den USA und den Taliban ein Ende. George Bush jr. verkündete seinen „Krieg gegen den Terror“. Die Taliban zogen sich in die Berge zurück.
Desaster für die USA
Und heute? Kaum sind die Taliban an die Macht zurückgekehrt, gieren China und Russland nach den Schätzen des Landes, nach Eisen- und Kupfererzen, nach Kohle und Erdgas, und, wie man vermutet, auch nach Seltenen Erden. Eine Taliban-Delegation weilte bereits in Peking, und aus Moskau kamen freundliche Worte für das neue Regime.
Für die USA dagegen endet die fatale Neuauflage des Great Game, in dem schon die Briten ein Jahrhundert zuvor als blutiger Verlierer vom Platz gejagt wurden, ebenfalls in einem Desaster. Zurück bleiben verzweifelte Menschen, die – zumindest in Städten wie Kabul – Ausbildung für Frauen, Literatur, ein gewisses künstlerisches Leben und vor allem Freiheit erleben konnten.
Blamiert steht besonders Deutschland vor jenen Afghanen, die ihm geholfen hatten. Vor einer sichtlich gerührten Moderatorin Marietta Slomka berichtete der Bundeswehrsoldat Marcus Grotian im ZDF-Heute-Journal, wie er monatelang die deutschen Behörden gedrängt habe, die vielen jetzt gefährdeten afghanischen Helfer auszufliegen. Vergebens. Es sei nicht „seine Wahrnehmung“, hatte der deutsche Aussenminister Heiko Maas im Juni im deutschen Bundestag gesagt, dass die Taliban in absehbarer Zeit in Kabul einmarschieren würden.
US-Präsident Biden wollte ein politisches Symbol setzen, indem er verfügte, die Vollendung des von Vorgänger Trump schon auf den 1. Mai 2021 festgelegten US-Rückzug auf den 11. September zu verlegen – den 20. Jahrestag des Angriffs Osama Bin Ladens auf das World Trade Center. Doch dieser 11. September 2021 wird nach zwei Jahrzehnten westlicher Militärpräsenz ein Datum der Niederlage sein und nicht ein Festtag eines Sieges.
Übrigens, das von Glenn Greenwald – er hat einst die Geheimdokumente Edward Snowdens der britischen Zeitung Guardian übergeben – gegründete Internetportal „The Intercept“ machte am 19. August 2021 folgende Rechnung auf: Wer am 18. September 2001, dem Tag, an dem George Bush jr. den Krieg gegen den Terror ausgerufen hat, zehntausend Dollar gleichmässig in die fünf führenden Waffenproduzenten investierte und alle Dividenden reinvestiert habe, komme heute auf ein Vermögen von 97’295 Dollar.
Quellen:
Conrad Schetter: Kleine Geschichte Afghanistans. C.H. Beck Verlag, München 2017
Ahmed Rashid: Taliban. I.B.Tauris, London 2001