Der 92-jährige, weltweit berühmte Maler ordnet seinen Nachlass. Bei dieser Gelegenheit hat er mit einer grossen Geste eine der autorisierten Kopien seines Zyklus «Birkenau» dem Internationalen Auschwitzkomitee und der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oswiecim/Auschwitz überlassen. Anfang Februar wurde das Gesamtkunstwerk offiziell übergeben.
Natürlich hängen diese vier 260 x 200 cm grossen Gemälde des Birkenau-Zyklus ab jetzt nicht irgendwo in der schon 1986 gegründeten Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oswiecim/Auschwitz, gerade mal einen Kilometer vom Stammlager Auschwitz und vier Kilometer von Birkenau entfernt.
Der Bau
Nein. Als Gerhard Richter vor gut vier Jahren den Vorschlag des Internationalen Auschwitz-Komitees (IAK) spontan und fast selbstverständlich akzeptiert hatte, der Begegnungsstätte eines der vier absolut unverkäuflichen Exemplare seines Birkenau-Zyklus zu überlassen, war klar, dass dafür am Ort eine besondere Räumlichkeit entstehen musste.
Nun steht der Bau tatsächlich da, ganz in Weiss, simpel, ja fast spartanisch unter Bäumen, direkt neben dem kleinen Fussballplatz der Jugendbegegnungsstätte, mit Lichteinfall durch einen Teil des Dachs. Mancher mag in der Form des Ausstellungsgebäudes eine Anspielung auf die Gebäude des Vernichtungslagers sehen.
Neben der Eingangstür liest man aussen, in roten Lettern, die einfache Aufschrift: GERHARD RICHTER BIRKENAU
Der Künstler, bei der Einweihung aus gesundheitlichen Gründen nicht anwesend, hat diesen Ausstellungsbau in weiten Teilen sogar selbst entworfen.
Das von ihm gebaute Modell des Gebäudes hatte bei der gut besuchten Eröffnungsfeier in der Jugendbegegnungsstätte, bei der der deutsche Kanzleramtsminister und hohe Repräsentanten von polnischer Seite anwesend waren, einen Ehrenplatz.
« … sich ein Bild zu machen, macht uns zu Menschen … »
Dieser Satz von Gerhard Richter ist im Eingangsraum der Ausstellungshalle gut sichtbar in die Feinbetonwand gemeisselt.
Sich ein Bild machen, die schier unbeschreibbaren Gräuel und Verbrechen von Auschwitz sichtbar machen, sie abbilden oder nicht, und wenn ja, dann wie – dieser seit Jahrzehnten sehr kontrovers diskutierte Komplex von Fragen hat auch Gerhard Richter in seinem Künstlerleben ein halbes Jahrhundert lang begleitet und beschäftigt.
Dieses Exemplar des «Birkenau-Zyklus», das quasi an den Ort des Geschehens zurückgefunden hat, ist ein Extrakt und zugleich eine Art Schlusspunkt des Richterschen Umgangs mit dem Thema des Nationalsozialismus und der Vernichtung der europäischen Juden.
Ein langer Prozess
Gerhard Richter war an der Kunstakademie in Dresden ausgebildet worden und ging 1961, im Jahr des Mauerbaus, im Alter von 29 Jahren von Ost nach West, wo er in Köln und Düsseldorf relativ schnell Fuss fassen sollte.
Den Beginn seiner Arbeiten zum Thema Nationalsozialismus und der Ermordung von Juden und anderen Minderheiten machte ein Werk aus dem Jahr 1965: «Tante Marianne», ein in Grautönen verfremdeter, verzerrter Ausschnitt aus einem Familienfoto.
Das Baby auf dem Bild war Richters Tante, die, als Erwachsene an Schizophrenie erkrankt, noch im Februar 1945 im Rahmen des Euthanasieprogramms der Nazis ermordet wurde – neben 5’000 weiteren Personen.
Erst in den 80er Jahren machte der Maler weitere Versuche, dem Thema künstlerisch gerecht zu werden. Doch es blieb da bei Skizzen, Zeichnungen, Entwürfen und Fotos, die in Richters berühmten ATLAS wanderten, in das Archiv aller Dokumente, die zu seinen Werken geführt haben oder, wie in dem Fall, zunächst eben auch nicht.
Vier Fotografien
2008 war Gerhard Richter dann schliesslich auf Fotos aufmerksam geworden, die damals anlässlich der Rezension des Buchs von Georges Didi-Hubermann «Fotos trotz allem» erstmals in der FAZ einem grösseren Publikum zugänglich gemacht wurden.
Es sind vier Fotografien, die ein Häftling der Sonderkommandos auf einem Film abgelichtet hatte, welchen polnische Widerstandskämpfer mit einem Fotoapparat 1944 ins Lager geschmuggelt – und auch, in einer Zahnpastatube versteckt, wieder herausgeholt hatten.
Man sieht auf einem Bild nackte Frauen, die durch ein Waldstück in die Gaskammern und in den Tod getrieben werden. Auf zwei anderen Mitglieder der Sonderkommandos, die vor einem Haufen vergaster Leichen stehen und sie unter freiem Himmel verbrennen, weil die Kapazitäten der Krematorien nicht mehr ausreichten. Das vierte Foto bleibt mysteriös.
Die vier sind die einzigen existierenden Fotos, die die letzte Konsequenz des Vernichtungswillens der Nationalsozialisten in Auschwitz-Birkenau, die Nähe zu den Gaskammern und die Folgen des Zyklon B, sowie den menschenverachtenden Umgang mit den sterblichen Überresten dokumentieren. Insgesamt 1,1 Millionen Menschen wurden an diesem Ort ermordet, was Birkenau und seine Felder aus Asche zum grössten Friedhof auf der Welt macht.
Der Zyklus
Es sollte noch weitere sechs Jahre dauern, bis Gerhard Richter sich dann im Sommer 2014 an die Arbeit machte. Er übertrug zunächst die besagten Fotos auf vier grossformatige Leinwände, entschied sich danach aber, auf eine abbildende Wiedergabe der Gräuel in Auschwitz/Birkenau zu verzichten und das Thema in abstrakter Form in den Griff zu bekommen.
«Es gibt eben Fotos, die ich durchs Abmalen nur zu schlechten Bildern machen konnte», sagte Richter 2015 in einem Gespräch mit der FAZ. «Diese vier Fotos sind aber so gut, dass ich sie nur so belassen kann. Man kann sie beschreiben oder ihnen eine Musik widmen oder, wenn es gut geht, ein abstraktes Bild.»
Schwarz, Grau- und Grüntöne dominieren auf den vier grossformatigen Gemälden, ab und an erscheinen Spuren von Rot und ein wenig Weiss dringt durch – mehr als drei Monate lang hat der damals schon 82-Jährige an diesem Werk gearbeitet, Farbschichten aufgetragen, wieder abgespachtelt, neu verteilt und die nächste Farbschicht aufgelegt.
Man darf sich vorstellen, Gerhard Richter habe wie im Rausch gemalt, gekratzt und komponiert auf dem Untergrund der übertragenen Fotos, von denen am Ende keine Spur mehr blieb, emblematische Fotos des Grauens der Vernichtungslager.
«Ich habe abstrakt gemalt, weil diese Fotos unübertroffen sind – ich kann es nicht besser», sagte der Künstler dann 2016 bei einer Ausstellung des Werks im Burda-Museum in Baden-Baden, wo er die vier Gemälde erstmals als «Birkenau-Zyklus» benannte.
Im Jahr davor, als er die vier grossformatigen Werke im Albertinum seiner Geburts- und Ausbildungsstadt Dresden ein erstes Mal präsentierte, hatte Richter sie noch schlicht als «4 abstrakte Bilder» bezeichnet. Das war unverfänglich, so als hätte er erst einmal Diskretion wahren wollen.
Diese Fotos, ebenso wie ein langer, grauer Spiegel, in dem sich die Besucher und die vier Gemälde reflektieren, sind heute Bestandteil des Werks und seiner drei autorisierten Kopien, von denen eine nun in Auschwitz, unweit des Stammlagers, zu sehen und dort für immer fixiert ist.
Die Art und Weise wie Gerhard Richter nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus eben dieses Thema umgesetzt hat, stellt, wie so oft seit bald 80 Jahren, erneut die Frage, ob und wie Auschwitz, der Schrecken dieser unvorstellbaren Verbrechen, in der Kunst thematisiert werden kann und darf.
Gerhard Richter selbst betonte vor einigen Monaten: «Auschwitz/Oswiecim ist der richtige Ort, an dem diese Werke, dieses Ensemble in einem eigenen Bau permanent gezeigt werden. Es gibt noch viele andere Orte dieses Grauens, aber Auschwitz ist als Name zum Symbol für sie alle geworden und muss daran erinnern. Und für mich ist dies alles auch eine Auszeichnung, ein Trost und auch das Gefühl einer erledigten Aufgabe.»
Vorgeschichte
Der Freitag, 9. Februar, war Gerhard Richters 92. Geburtstag. Ein Tag, an dem er ein Projekt zu Ende brachte, das auch eine schöne und menschlich bewegende Vorgeschichte hat.
Vor rund vier Jahren fand der Künstler in seinem Kölner Postkasten einen Brief vom Exekutiv-Generalsekretär des Internationalen Auschwitzkomitees, Christoph Heubner, mit der schlichten Anfrage, ob er, Gerhard Richter, nicht eine der autorisierten Kopien seines Werks der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oswiecim/Auschwitz überlassen würde.
Und Gerhard Richter sagte tatsächlich sofort zu.
Danach entspannte sich ein reger Austausch über drei Jahre hinweg zwischen Richter und dem Generalsekretär des Internationalen Auschwitzkomitees, welcher unter anderem auch dafür sorgte, dass der deutsche Architekt aus dem Allgäu, der schon am Bau der Begegnungsstätte vor fast 40 Jahren mitgewirkt hatte, auch für Richters Ausstellungsbau mit ins Boot geholt wurde.
Und schliesslich gelang es auch, dass die Volkswagen AG, die seit Jahren die Begegnungsstätte in Auschwitz unterstützt und dort ein aussergewöhnliches, regelmässiges Seminar-Programm für ihre Auszubildenden aufgelegt hat, mit einer grosszügigen Spende den Bau des Ausstellungshauses möglich machte.
Die Lichtgestalt der Überlebenden
Und dann stand da auf dem Podium bei der Eröffnungszeremonie am 9. Februar, halb verschwunden hinter dem Rednerpult, Marian Turski, der bald 98-jährige Überlebende von Auschwitz-Birkenau und Präsident des Internationalen Auschwitzkomitees. Ein in Litauen geborener polnischer Journalist und Historiker, der in den letzten Jahrzehnten im Vatikan und vor der Uno, vor dem EU-Parlament, im St. James Palace in London und vor Dutzenden nationalen Parlamenten sowie an den namhaftesten Universitäten der Welt gesprochen und Zeugnis abgelegt hat.
Da stand einer, der die Hölle überlebt und trotzdem, oder gerade deswegen, ein permanentes Lächeln im erstaunlich faltenlosen Gesicht trägt, so etwas wie Güte, Offenheit und Interesse an seinen Mitmenschen ausstrahlt. Dieser junge, alte Mann, der seine täglichen Schritte zählt und sagt, er mache davon immer noch 10’000 mit seinen Nordic-Walking-Stöcken, er hat im Rahmen der Eröffnungszeremonie wohl die eindrücklichsten Worte über Gerhard Richters Werk gesprochen:
«Das Allerschlimmste im Lager waren nicht die Schläge, nicht die Folter», sagte Turski. «Das Allerschlimmste war die Verzweiflung. Man hatte z. B. seine Eltern, seine Geschwister vor Augen. Man wusste, sie sind noch am Leben, aber auch, dass es nicht mehr lange dauern wird, dass sie bald tot sein werden. Das war das absolut Entsetzlichste. Wie aber kann man das abbilden? Macht man es naturalistisch? Mich zumindest spricht das nicht an.
Aber Gerhard Richter spricht mich an. Denn was er gesehen hat, was er zeigt, das sind ikonische Bilder, authentische Bilder, die sehr tief in meine Vorstellungskraft, in meine Seele eingedrungen sind. Klar ist: wer nach Auschwitz-Birkenau kommt und die Gedenkstätte besucht, ist nach mehreren Stunden dort völlig erschlagen. Und dieses Ausstellungsgebäude mit Richters Werk ist jetzt ein Ort, an den er sich begeben kann, um sich mit dem Gesehenen auseinanderzusetzen und sich etwa überlegen kann, ob, was man dort gesehen hat, nur Geschichte ist oder vielleicht auch Gegenwart. Was soll man jetzt tun? Wie soll man das verarbeiten? Dieses Ausstellungshaus wird auch ein Ort der Meditation werden. Als ehemaliger Häftling bin ich Gerhard Richter unendlich dankbar für seine Grosszügigkeit.»
Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste
All dies, was unweit des ehemaligen Vernichtungslagers in der Begegnungsstätte, wo rund 100 Personen empfangen werden können und die das Jahr über ausgebucht ist, seit bald vier Jahrzehnten stattfindet und mit dem Ausstellungsgebäude Richters nun eine Art Krönung erlebt, ist möglich geworden, weil die 1958 gegründete, aus Kreisen der evangelischen Kirche hervorgegangene Organisation «Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste» in Berlin schon in den 60er und 70er Jahren, lange vor Lech Walesa und dem Fall der Mauer, äusserst mühselig den Kontakt zu polnischen Institutionen, Verantwortlichen und Politikern gesucht und letztlich auch gefunden hatte.
Der massgebliche Betreiber dieses Unterfangens hiess Volker von Törne, Schriftsteller und bis zu seinem frühen Tod 1980 Vorsitzender der «Aktion Sühnezeichen Friedensdienste», unermüdlich engagiert für Versöhnung über den eisernen Vorhang hinweg.
Sein Engagement rührte ganz überwiegend daher, dass er der Sohn eines SS- Sturmbannführes war und damit in der Nachkriegszeit zurechtkommen musste. Erst rannte er und wurde in Niedersachsen Bezirks- oder gar Landesmeister auf der Mittelstrecke, dann schrieb er, ganz überwiegend, Gedichte. Etwa diese Zeilen , die gerne zitiert werden, wenn den Menschen angesichts von Auschwitz-Birkenau die eigenen Worte fehlen:
«Birkenau.
Hier führt kein Weg zurück.
Hier bleibst du allein,
mit dem Schlag deines Herzens,
mit der Asche unter dem Gras.
Hier enden die Worte.»
Volker von Törnes Konterfei steht heute als Bronzebüste verlassen in einer Ecke des grossen Saals der Internationalen Jugendbegegnungsstätte. Ganz so, als wisse man nicht, was mit ihm anfangen und wisse niemand mehr, dass es dieser Volker von Törne war, der in jahrelangen Bemühungen noch zu Zeiten des Kalten Krieges die Fundamente für diesen einzigartigen Ort der Jugendbegegnungsstätte gelegt hatte.
Denn diese Internationale Jugendbegegnungsstätte (IJBS) ist definitiv ein Ort, der seit Jahrzehnten einen gewichtigen Teil dazu beiträgt, dass die Beschäftigung mit dem Holocaust nie aufhört und dass vor Ort dafür gesorgt wird, dass ein Motto weiter Bestand hat, welches seit den 60er Jahren unter anderen von «Aktion Sühnezeichen Friedensdienste» hochgehalten wurde: «Über Auschwitz darf kein Gras wachsen».
Gerhard Richter hat mit seiner Schenkung und dem Bau des Ausstellungsgebäudes auf dem Gelände der Internationalen Jugendbegegnungsstätte dazu beigetragen, dass dieser Ort weiterlebt, sich entwickelt und mit seinem hier verewigten «Birkenau-Zyklus» eine zusätzliche Dimension erhält.
Und dies zu einem Zeitpunkt, da die letzten Überlebenden von Auschwitz und anderen Vernichtungslagern bald nicht mehr selbst werden Zeugnis ablegen können.