Als Georges Braque vor 50 Jahren starb, erwies ihm die französische Nation offiziell die Ehre und bei der nächtlichen Trauerfeier vor den Säulen des Louvre, wo die republikanische Garde in voller Montur angetreten war und Fackeln trug, hielt kein geringerer als der Schriftsteller André Malraux, damals Kulturminister, die Trauerrede, stellte den Verstorbenen in feierlich pathetischem Tonfall auf eine Ebene mit Künstlern wie Victor Hugo, von der Grösse des Geistes und der Grösse Frankreichs war die Rede.
Im letzten Jahrzehnt seines Lebens war Georges Braque in der französischen Malerei der unumstrittene Meister der Moderne gewesen, aber eben auch eine Art offizieller Künstler des Landes und ein Botschafter der Nation geworden - bei einer Ausstellung in Tokio kurz vor seinem Tod hatten sich Hunderttausende gedrängt. Braque durfte sich sogar – und das war seit dem 19. Jahrhundert und Delacroix nicht mehr vorgekommen - mit einem Deckengemälde im Louvre verewigen, im Saal der etruskischen Kunst. Dies sollte ihn bei den nachfolgenden, eher wilden Generationen der 70-er und 80-er Jahre suspekt machen und in gewisser Weise nach und nach seinen Stellenwert senken. Während einem in den letzten 20 Jahren angesichts von Matisse – vor allem aber von Picasso- Ausstellungen fast schwindlig werden konnte, war es im Vergleich dazu um Braque fast still geworden.
"Kein Mitläufer Picassos"
Die geradezu grandiose Pariser Retrospektive jetzt, mit über 200 Werken aus 60 französischen und 50 ausländischen Museen, sowie aus zahlreichen Privatsammlungen, darunter aus der von Florence Malraux und der der Maeght-Stiftung, bringt die Vielseitigkeit dieses Künstlers und vor allem die Bedeutung Braques für die Malerei des 20. Jahrhunderts wieder ins Bewusstsein und straft all die Lügen, die in Braque nur einen Mitläufer Picassos sehen wollten .
Gemeinsam hatten die beiden 1907 den Kubismus auf den Weg gebracht und - bis zum ersten Weltkrieg sieben Jahre lang eng befreundet - wie Brüder zusammengearbeitet. „Wie in einer Seilschaft von Bergsteigern“, so Braque, „und wir haben uns Dinge gesagt, die man so nie mehr sagen wird“. Den ersten Weltkrieg, in dem Braque schwer verletzt und leicht vergast wurde, während Picasso als Spanier nicht eingezogen wurde und weiterarbeiten konnte, sollte diese Freundschaft nicht überleben.
Die Frau mit gewaltigen Formen
„Braque hat“, so Brigitte Léal, die Kommissarin der Retrospektive, „eine ästhetische Revolution ausgelöst. Er schuf neue Räume, ohne die traditionellen Perspektiven und ohne Anekdoten, erfand eine völlig neue Sichtweise, eine Art moderne Schönheit.“
Diese moderne Schönheit ist unter anderem verkörpert in dem berühmten „Grossen Akt“ aus dem Jahr 1907, eine wie aufrecht liegende Frau mit gewaltigen Formen - Braques Antwort auf die Demoiselles d'Avignon, die er 1907 in Picassos Atelier auf Montmartre gesehen hatte, wo, mit dem grossen Kunsthändler Daniel Kahnweiler in der Rolle des Vermittlers, ihre siebenjährige Freundschaft begonnen hatte .
"Braque malt Würfel"
In der Retrospektive - nach wenigen Gemälden aus der fauvistischen Frühphase - öffnet dieser „Grosse Akt“ die Tür zur kubistischen Revolution. Da sind die ockergelben geometrischen Formen der Häuser des legendären Orts L'Estaque westlich von Marseille, über die Matisse gespottet hat - und damit der Bewegung des Kubismus ihren Namen gegeben haben soll, mit dem Satz: „Braque peint de petits cubes“. (Braque malt kleine Würfel.)
Braque, der stille Intellektuelle im Vergleich zum überschäumenden Picasso, ist fünf Jahre später, 1912, dann auch der erste, der so genannte „Papiers Collés“ herstellt, eine Frühform der Collage, wo Form und Farbe getrennt sind und erstmals Gegenstände - Tapetenstreifen oder Zeitungsfetzen - in ein Gemälde integriert werden – die Retrospektive bietet eine ungewöhnlich grosse Anzahl dieser Arbeiten, anschliessend an eine dunkle Serie aus dem Jahr 1911, die Braque im Lauf mehrerer Monate Seite an Seite mit Picasso in Ceret an der spanischen Grenze gemalt hatte. Werke, in denen sich das Thema oft erst nach und nach erahnen lässt, wo aber wie später in den Collagen und bis in die 40-er Jahre, Musikinstrumente – Gitarren, Mandolinen, Geigen oder Notenblätter immer wieder ein zentrales Motiv dieses Malers sind, der seine Gemälde komponierte, wie kaum ein anderer und einmal davon sprach, dass für ihn Farben wie Musik seien.
Auf dem Seemänner-Friedhof beerdigt
Braque hat sich - und das ist eine zentrale Erkenntnis, die man aus dieser Retrospektive mitnimmt - in seiner künstlerischen Arbeit sein gesamtes Leben lang, vom Alter von 25 Jahren an bis zum 82. Lebensjahr, ständig weiterentwickelt, sich immer wieder in Frage gestellt. „Jeder Zyklus in seiner Malerei“, so die Kommissarin, Brigitte Léal, „steht für eine vollständige Erneuerung seiner Arbeit, einer Arbeit, die auch etwas Lyrisches hat.
Nach dem ersten Weltkrieg, in den 20-er und 30-er Jahren, kehrt die Farbe wieder stärker zurück, es ist die grosse Zeit der Stilleben vor der Besatzung Frankreichs durch Hitlers Truppen.
Braque wird diese Jahre in seinem Haus in Varengeville an der Normandieküste westlich von Dieppe verbringen, wo er auf dem Friedhof der Seemänner beerdigt ist und seinen Stil radikal ändert, mit Motiven die für sich sprechen: ein Stilleben mit schwarzen Fischen, ein anderes mit einem Totenkopf, Menschen, die dem Betrachter den Rücken zuwenden.
Der Vogel - Symbol für das Streben nach Unendlichkeit
Das Faszinierendste, ja wohl die Höhepunkte dieser Retrospektive sind Braques Spätwerke aus den 50-er und 60-er Jahren. Zum einen die Gemäldeserie der „Ateliers“, die im Grand Palais erstmals vollständig vereint ist und eine Art Bilanz, ja ein Testament darstellt, wenn man so will ein Selbstportät des Künstlers, seine Innenwelt aus Material, Farben und Pinsel, eine Allegorie der Malerei. Die Palette des Malers verwandelt sich in einigen dieser Atelierbilder in einen Vogel, der den letzten grossen Zyklus von Braque, den der grossformatigen Vögel ankündigt, von denen manche, tiefblau oder schwarz, Flugzeugen gleichen und in Braque den Vorläufer der Abstrakten erkennen lassen.
Dieser letzte Zyklus ist so etwas wie die Apotheose einer langen Geschichte zwischen Braque und der Malerei, wobei die Vögel gerne als ein Symbol für das Streben nach Unendlichkeit interpretiert werden.
Bis zum Schluss ging es Braque vor allem darum, die Vorstellungskraft und die Phantasie des Betrachters herauszufordern. In einem der Nebenräume der Retrospektive mit Manuskripten und zahlreichen Fotos, ist eines seiner letzten Interviews zu sehen, das er anlässlich seiner letzten Ausstellung im Louvre gab und in dem er betont, er wolle mit seinen Werken niemanden überzeugen, jedoch die Menschen dazu bringen nachzudenken. Wenn seine Bilder Reflexionen auslösten, sei das für ihn das Beste.