Die Häufung von Ereignissen und Erschütterungen, die derzeit die Gesellschaft Frankreichs, seine politische Landschaft, ja selbst seine Institutionen destabilisieren und die Geschwindigkeit, mit der in den letzten Wochen ein wichtiges Ereignis das andere ablöste, haben etwas Schwindelerregendes. Mehr als einer fragt sich am Jahresende 2018, ob das Land in den nächsten Wochen oder Monaten irgendwann auch wieder mal einigermassen zur Ruhe kommen wird.
Gewalt wie selten
Immerhin: 10 Tote und fast 2’800 Verletzte (darunter 1’800 „Zivilisten“ und 1’000 Ordnungskräfte) sind rund um die Gelbwestenbewegung inzwischen zu beklagen. Nicht zu unrecht fragte Innenminister Castaner jüngst, welche andere soziale Bewegung in Frankreich in den letzten Jahrzehnten eine derartige Serie von Toten und Verletzten und ein derartiges Ausmass von Gewalt hervorgebracht habe. Niemand konnte ihm ein Beispiel nennen.
Erstaunlich dabei ist, dass diese „Kollateralschäden“ des gelben Aufstandes wochenlang in Frankreichs Öffentlichkeit so gut wie kein Thema waren und kaum jemanden zu empören schienen. Die erste Gelbweste verlor ihr Leben, als eine Mutter in den Alpen ihre Tochter zum Arzt fahren wollte. Als sie am blockierten Kreisverkehr ein wenig insistierte, um weiterzukommen, haben die Blockierer auf ihr Auto eingetrommelt und eingeschlagen. Die Frau geriet in Panik und startete durch – eine 63-jährige Demonstrantin starb.
In der Nähe von Avignon ging eine Gelbweste nachts zu einem LKW, der schon Stunden im Stau stand, und machte Anstalten, die Tür zum Fahrerhaus öffnen zu wollen. Der Fahrer aus Weissrussland, Bulgarien oder sonstwo, weder des Englischen, noch des Französischen mächtig, wähnte einen Überfall und fuhr los – der 23-jährige Demonstrant kam ums Leben.
Zwei andere Autofahrer starben, weil sie nachts in stehende, unbeleuchtete LKWs am Ende einer endlosen Schlange auf einer Bundessstrasse geknallt waren. Und dann war da noch der Fahrer eines Müllwagens, der auf einer Nationalstrasse umdrehte, um nicht in eine Blockade zu geraten und der einen Motorradfahrer nicht gesehen hatte.
Ein Wunder
Erstaunlich bleibt nach mehr als sieben Wochen der Konfrontation auch: Die völlig ausgelaugten Polizisten und Gendarmen, die so schon mehr als 20 Millionen unbezahlte Überstunden mit sich herumschleppten und von denen an manchen Samstagen fast 100% des Personals im Einsatz war, haben sich keinen ernsten, unverzeihlichen Fehltritt geleistet. Mit anderen Worten: Bei den unzähligen, zum Teil extrem gewaltsamen Zusammenstössen der letzten Wochen auf Frankreichs Strassen, vor allem an den Samstagen und besonders in Paris, aber auch in Bordeaux, Toulouse, Nantes, Marseille, ja selbst in Städten wie Reims oder Besançon, ist im ganzen Land kein Demonstrant, kein erprobter rechts- oder linksextremer Strassenkämpfer, kein Randalierer oder Plünderer ums Leben gekommen. Mehrere Experten sagten dieser Tage rückblickend, dies grenze tatsächlich an ein Wunder.
Extreme Gereiztheit
Zu den gewaltsamen Demonstrationen kamen die zahllosen Blockaden von Verkehrskreiseln, Mautstellen, sowie von Auf- und Abfahrten mancher Autobahnen, ja ihre oft Stunden dauernden Teilsperrungen.
All diese Aktionen waren von Anfang an nie ein friedliches Kinderspiel und die Akteure alles andere als unschuldige Konfirmanden. Vielmehr lag seit Mitte November permanent irgendwo im Land eine gehörige Portion Gewalt in der Luft. Über Wochen hinweg mussten sich hunderttausende Autofahrer und LKW-Lenker von den Blockierern drangsalieren und nötigen lassen. Da schwangen sich an unzähligen der inzwischen berühmten Verkehrkreisel ein, zwei oder drei Dutzend Aktivisten zu den Herrschern über die Landstrassen auf und funktionierten nach dem Prinzip: Wir machen hier auf oder zu, wenn es uns passt und wenn du, der genervte Autofahrer im Stau, brav eine Gelbweste hinter deine Windschutzscheibe legst und dich auf diese Art solidarisch mit uns zeigst, dann darfst du vielleicht früher durch, vielleicht aber auch nicht. So etwas zehrt an den Nerven. Spätestens nach drei Wochen steigerten sich auf beiden Seiten Müdigkeit, Ungeduld und Gereiztheit und ergaben ein reichlich explosives Gemisch.
Kreisverkehr als Diskussionsforum
Gewiss: die zum Teil über Wochen hinweg besetzten Vekehrskreisel waren mit der Zeit auch zu einer neuartigen Agora geworden. Ein Ort der öffentlichen Debatte, des Miteinanders und der sozialen Kontakte für viele der so genannten Unsichtbaren und Stimmlosen in der französischen Bevölkerung, wie das in den vergangenen Wochen gerne – und auch durchaus berechtigt – in längeren Reportagen der landesweiten, also Pariser, Medien beschrieben, zum Teil aber auch idealisiert worden war.
Le Monde etwa hatte die vielfach preisgekrönte, sensible und grossartige Reporterin Florence Aubenas losgeschickt. Sie hatte 2015 Monate als Geisel im Irak verbracht und rückt in ihren Artikeln immer wieder mal an das Genre „Literarische Reportage“ heran. So auch diesmal.
Eine Woche an einem Verkehrskreisel im Südwesten Frankreichs hatte sie sich zur Aufgabe gestellt.
Auch Florence Aubenas hat an dieser dauerbesetzten Verkehrkreuzung, die einem improvisierten Dorfplatz glich, eine neue Örtlichkeit der menschlichen Wärme, der Würde und der Solidarität unter Menschen ausgemacht, die bislang eher vereinsamt lebten und ihre Alltagssorgen und den tief sitzenden Frust über Jahre in sich hineingefressen hatten und das Gelbwestenlager in ihrem Landstrich auch als eine Art Befreiung vom tristen Alltagstrott empfanden. „Sonst würd’ ich ja doch nur vor dem Fernseher sitzen“, wird der eine zitiert. „Es ist jetzt schon 14 Tage her, dass ich kein Kreuzworträtsel mehr gelöst habe“, eine andere.
Vive la Revolution
Man kann auch nicht verhehlen, dass es an den gelb blockierten Kreisvekehren, an Mautstellen und in den angrenzenden Kleinstädten sowie in vielen Kommunen des Landes seit Wochen immer wieder Hinweise darauf gibt, dass sich die aufgebrachten Bürger rege an die grosse Französische Revolution erinnern – und nicht nur beim Gedanken daran, dass der König damals einen Kopf kürzer gemacht worden war. So haben z. B. hunderte Bürgermeister quer durchs Land in ihren Rathäusern die legendären „Cahiers de Doléance“, die Beschwerdehefte wieder zum Leben erweckt, in denen die Bürger Einwände, Sorgen, Kritik und Vorschläge schriftlich niederlegen können.
Und in der Kleinstadt Nyons im Südosten des Landes hat man seit Beginn der Bewegung etwa prompt die Gedenksäule zum „Ruhm der französischen Revolution“ zeitgemäss verfremdet: Die oben throhnende Marianne trägt Gelbweste und schwingt eine Tricolore, als sei sie direkt Delacroix’ Gemälde „La liberté guidant le peuple“ entsprungen.
Und gleichzeitig ...
Andererseits hat die Gelbwestenbewegung aber auch eine ganze Reihe von eher unfreundlichen Aspekten zum Besten gegeben. Da sind etwa die selbst ernannten Sprecher, die in den letzten Wochen über eine gewisse Medienpräsenz verfügen durften, unter denen einigen vor allem daran gelegen scheint, die Stimmung weiter anzuheizen. Da ist derjenige aus der Gegend von Avignon, der dafür plädiert, Macron solle sich aus dem Staub machen und durch den ehemaligen Oberbefehlshaber der Armee, Pierre de Villiers, ersetzt werden. Dieser habe eine ausreichend harte Hand, die Frankreich derzeit nötig habe.
Ein anderer spricht auf seinem Facebook-Konto dieser Tage davon, man müsse sich für Januar auf einen Bürgerkrieg vorbereiten.
Gleichzeitig sind 20 Abgeordnete der Präsidentenpartei LREM in den letzten Wochen gewaltsam attackiert worden. Dem einen hat man einfach sein Auto abgefackelt, dem anderen eine Gewehrkugel per Post geschickt mit dem Hinweis, das nächste Mal würde er sie zwischen die Augen bekommen. Mehreren hat man ihre Wahlkreisbüros kurz und klein geschlagen, einem anderen sein Privathaus mit Parolen beschmiert und wieder andere Abgeordnetenkollegen auch mit telefonischen Morddrohungen traktiert.
Nachdem seit Monaten schon die Gewalt in den verbalen Auseinandersetzungen mit und unter den Politikern deutlich zugenommen hatte, entlädt sie sich jetzt immer häufiger auch in Taten. Worte haben den Taten sozusagen den Weg geebnet und ganz langsam macht sich da ein übler Geruch breit.
Vor wenigen Tagen haben Gelbwesten etwa die Auslieferung von fast 200’000 Exemplaren der Tageszeitung „Ouest France“ verhindert, weil ihnen gewisse Artikel über ihre Bewegung in diesem Blatt nicht gefallen hatten.
Mehrere Mautstellen auf Frankreichs Autobahnen sind zerstört und abgebrannt. Die Reparaturen werden dutzende Millionen kosten.
Zwei Drittel aller Radarfallen im Land sind inzwischen mutwillig zerstört – der Staat weigerte sich, die exakten Zahlen und die entstandenen Kosten zu nennen.
In Paris sind an den vergangenen Samstagen mehr als 500 Geschäfte zertrümmert und teilweise geplündert worden.
Die grossen Kaufhäuser, die an diesen Demonstrationstagen schliessen mussten, büssten pro Samstag rund 5 Millionen Euro Umsatz ein. Die Hotels der Hauptstadt verzeichnen für das Jahresende einen Buchungsrückgang von rund 40%. Die Stadt Paris hat in ihrem Haushalt einen Sonderposten über 5 Millionen Euro aufgenommen, um die nötigsten Reparaturen am städtischen Mobiliar vornehmen zu können.
Am 6. Demonstrationssamstag waren in Paris gerade noch 800 Gelbwesten auf der Strasse. Trotzdem wurde berichtet, als sei die Kapitale erneut belagert. Eine Hundertschaft Gelbwesten am Morgen auf den Treppen unterhalb von Sacré Coeur – die Bilder waren perfekt, die Info-TVs machten weiter wie an den Samstagen davor und übertrugen live. 800 Demonstranten in Paris sind im Normalfall nicht mal eine Kurzmeldung wert. Am Ende des Tages dann aber doch noch eine Szene der aussergewöhnlichen Gewalt: Drei Polizisten auf Motorrädern, die auf den Champs-Élysées um Haaresbreite von Vermummten gelyncht worden wären, ein Polizist zog vorübergehend seine Waffe …
Die Ultrarechte
Und nicht zu vergessen die offen hässlichen Aspekte der Gelbwestenbewegung: antisemitische, rassistische und homophobe Ausfälle, die es von Anfang an und immer noch zu beklagen gilt.
Deutlich wird auch: Je weniger Protestierende sich wirklich an den Kreisverkehren und bei Demonstrationen einfinden, desto deutlicher ist die Präsenz von altgesottenen Ultrarechten, die nach dem alten Motto verfahren: Sorgen wir für Chaos, um hinterher eine autoritäre Lösung zu finden.
Und ausserdem dürfte es kein Zufall sein, dass die Blockaden von Verkehrskreiseln und Mautstellen zumindest in Südfrankreich gerade dort am heftigsten waren und am längsten anhielten, wo Marine Le Pen in der Regel 40% der Stimmen und mehr erzielt: von Montélimar in Richtung Süden über Bollène, Orange, die Region von Avignon und dann weiter Richtung Nîmes bis hin nach Perpignan, wo Marine Le Pens Lebensgefährte Louis Aliot das politische Schwergewicht in der Region ist.
Präsident macht sich rar
Und währenddessen reissen die hasserfüllten Tiraden gegen Staatspräsident Macron, diesen Vertreter der Wohlhabenden, der mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden sei, nicht ab.
Dieser Tage wurde gar eine Strohpuppe, die den Präsidenten darstellte, auf einem Platz im westfranzösischen Angoulème mit einer Axt enthauptet.
Derweil kann sich der Präsident selbst kaum mehr sehen lassen. Nach seiner Fernsehansprache am 10. Dezember, in der er den Gelbwesten eine ganze Reihe von Zugeständnissen machte, welche de facto eine Wende der Macronschen Politik für eine so genannte Neue Welt darstellten, war der Präsident gleich wieder für Tage von der Bildfläche verschwunden.
Erst im fernen Tschad, bei der vorgezogenen Weihnachtsfeier mit den französischen Soldaten aus der Sahel-Zone, meldete er sich dann wieder zu Wort, um aus tausenden Kilometerrn Entfernung den Satz zu sprechen: „In Frankreich muss nun wieder Ordnung einkehren.“
Eigenartig: wie schon bei seiner Fernsehansprache wirkte Macron auch dabei eher wie ein verunsicherter Pennäler als wie der allmächtige Präsident, den er vom Abend seines Wahlsieges an vor der Kulisse des Louvre, dem ehemaligen Königsschloss, zu verkörpern versuchte.
Angst
Mittlerweile ist es ein offenes Geheimnis: Frankreichs Staatsoberhaupt hat es im Lauf der letzten, bewegten Wochen tatsächlich mit der Angst zu tun bekommen. Am 8. und 15. Dezember hatte Macron den Élyséepalast verbunkern lassen, wie noch keiner seiner Vorgänger dies in kritischen Situationen bisher je getan hatte. Die Drohung der Gelbwesten, sie würden zum Präsidentenpalast gleich neben den Champs-Élysées marschieren und sich dort einladen, weil der ehemalige Palast der Pompadour ja schliesslich auch ihr Haus sei, wurde vom Staatsoberhaupt offensichtlich mehr als ernst genommen. 500 republikanische Garden des 1. Infanterieregiments und 100 Polizisten der Spezialeinheit, die für den Schutz Emmanuel Macrons zu sorgen hat, waren zum Élysée abbestellt worden, und für den Fall der Fälle stand gar ein Hubschrauber bereit, um den Präsidenten auszufliegen.
Die nicht enden wollenden persönlichen Angriffe auf ihn, die Wut, ja immer häufiger der schlichte Hass, die sich da breitmachen, scheinen Macron ehrlich schockiert und auf dem falschen Fuss erwischt zu haben. Ein Frankreich, dessen Existenz er kaum zu vermuten schien, springt ihm plötzlich ins Gesicht. „Macron – Demission“ und „Macron – hau ab“ tönt es seit Wochen im gelbgefärbten Frankreich. Kompromisslos und wütend präsentieren sich die Gelbwesten – so als gäbe es definitiv nichts mehr zu diskutieren und existiere die repräsentative Demokratie in diesem Land schlicht nicht mehr. Die, die Jahrzehnte lang beständig gemurrt haben, sie brüllen jetzt und es ist, als könne der Präsident sagen, was er will – keiner unter den hartgesottenen Gelbwesten hört ihm überhaupt noch zu. Dass sich Emmanuel Macron zurzeit noch irgendwo in der Provinz zeigen und sich auf einem öffentlichen Platz sehen lassen könnte, ist schlicht undenkbar.
Das letzte Mal hat er es Mitte Dezember im zentralfranzösischen Puy-en-Velay versucht. Unangekündigt war er in die Stadt gekommen, in der Gelbwesten wenige Tage zuvor die Präfektur – das Symbol der Pariser Zentralmacht – in Brand gesteckt hatten. Bei der nächtlichen Abfahrt aus der im Grunde erzkatholischen und konservativen Stadt wurde der Autokonvoi des Präsidenten von rennenden Gelbwesten verfolgt, die sogar auf die eine oder andere dunkle Limousine einschlugen und dem Präsidenten Verwünschungen hinterherriefen.
Nun, zwischen Weihnachten und Neujahr, mussten selbst ein paar Tage Skiferien aus dem Programm Macrons gestrichen werden – zu gefährlich. Und auch sein Landhaus unweit des Ärmelkanals kam für einen Kurzaufenthalt nicht in Frage – wiederholt hatten Gelbwesten versucht, sich an ihm auszulassen – und auch dem offiziellen Feriensitz des Präsidenten, der Festung Brégançon am Mittelmeer, hatten die Aufständischen bereits einen Besuch abgestattet.
Der Präsident der französischen Republik ist inzwischen quasi gezwungen, im Untergrund zu verschwinden, um irgendwo ein paar Tage Urlaub machen zu können. Dass er letztlich bei Freunden seiner Frau Unterschlupf gefunden hat, jedoch ausgerechnet in Saint-Tropez, wo es vor Paparazzi nur so wimmelt, war auch wieder keine gute Idee. Sofort tönte es durch Gazetten und soziale Netzwerke: „Saint– Tropez – Ort der Reichen, Macron – Präsident der Reichen“.
Die Präsidenten Pompidou und Chirac haben sich dort mehrere Wochen pro Jahr herumgetrieben, Chirac, der Schmarotzer, ständig als Gast des Grossindustriellen François Pinault. Wirklich gestört hat das damals niemanden. Doch ganz offensichtlich waren das andere Zeiten.
Frankreich, kein Start-up-Unternehmen
Macron, der sich angeschickt hatte, einen Staat wie ein Start-up-Unternehmen lenken und die Bevölkerung wie Angestellte oder Kunden behandeln zu wollen, zahlt derzeit knallhartes Lehrgeld. Seine Methoden, sein Regierungsstil, seine zur Schau getragene Besserwisserei und seine hier und dort gestreuten, etwas despektierlichen Äusserungen gegenüber einfachen Bürgern kommen seit Mitte November wie ein Boomerang mit dreifacher Gewalt auf ihn zurück. Besonders grausam für Macron: Er hat mit seinem Wahlerfolg 2017 den beiden traditionellen und reichlich verstaubten Parteien, die Frankreich seit einem halben Jahrhundert regiert hatten, den Gnadenstoss versetzt. Er selbst und die Seinen, sowie die meisten Kommentatoren in ganz Europa feierten dies damals als den Geniestreich eines politischen Anfängers. Jetzt aber steht der geniale Sieger von vor 18 Monaten plötzlich mutterseelenallein da und tatsächlich wie ein politischer Anfänger, der von den Untiefen der französischen Volksseele nicht die geringste Ahnung hatte und dementsprechend von der Gelbwestenbewegung vollständig überrascht wurde.
Nicht mal auf seine eigne Partei „La République en Marche“, die ja eigentlich gar keine Partei sein will, kann Frankreichs Präsident in diesen unruhigen Zeiten wirklich zählen und sich hinter ihr verstecken. Die gesamte Mehrheitsfraktion mit ihren politisch weitgehend unbefleckten Abgeordneten hat in 18 Monaten nicht eine einzige, gewichtige Stimme hervorgebracht, die im aufgebrachten, fast hysterischen Klima Emmanuel Macron eine Stütze sein könnte.
Nein, der selbsternannte Jupiter steht plötzlich, ohne jeden Puffer, dem Volk direkt gegenüber. Und diese Situation ist mehr als ungemütlich, ja regelrecht angsteinflössend für einen, der sich monatelang in der Rolle des politischen Hoffnungsträgers für ganz Europa gesonnt, eine neue Welt und gar eine Revolution der politischen Praxis angekündigt hatte und nie den geringsten Zweifel zu haben schien, dass er seine Politik und seine Reformen würde durchsetzen können.
Das Wichtigste, was Frankreichs Präsident bei all dem vergessen hat: Er hatte die Wahlen 2017 nicht mit fast 67% gewonnen. Wirklich hinter ihm standen und stehen auch heute – mit einigen Einschränkungen – rund 24% der französischen Wähler, die ihm im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen ihre Stimme gegeben haben. In den besseren der Meinungsumfragen der letzten Wochen kommt Macron immer noch auf eben diese Zahl.
Gefährlicher Gesprächsstoff
Wie schwerwiegend, ernst und dominierend das Thema Gelbwesten und deren Ruf nach mehr sozialer Gerechtigkeit in nur wenigen Wochen geworden sind und welchen Raum die Thematik in der öffentlichen Diskussion Frankreichs einnimmt, mag man daraus ersehen, dass sie mittlerweile dazu in der Lage ist, alte Freundschaften zu bedrohen und ganze Familien zu spalten.
Vielerorts dürfte man für die traditionellen, rund fünfstündigen Familienessen zu Weihnachten oder Silvester die Devise ausgegeben haben: „Sprechen wir besser nicht über die Gelbwesten“, damit eine gewisse Harmonie erhalten bleibt und nicht passiert, was ein Karikaturist vor etwas mehr als 120 Jahren so grossartig skizziert hatte – damals ging es um die die Dreyfusaffäre, die bis heute als einer der wichtigsten Meilensteine in der Geschichte der Spaltung der französischen Gesellschaft gilt.
Niemand weiss zum Jahreswechsel, wie Präsident Macron und seine Regierung aus dem Gelbwestenschlamassel wieder herausfinden werden. Nur eines scheint sicher: Die Proteste, der Aufruhr und der richtiggehende Hass auf den Präsidenten werden nicht ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie in der zweiten Novemberhälfte urplötzlich auf der politischen Bühne des Landes aufgetaucht waren. Frankreichs junger Präsident dürfte die besten Momente seiner 5-jährigen Amtszeit nach nur 18 Monaten bereits hinter sich haben und bis 2022 als lahme Ente seine restliche Zeit im Élysée verbringen. Schwer vorzustellen, dass Macron angesichts der gegenwärtigen Stimmung im Land mit seinem Reformprogramm weitermachen kann wie geplant. Und selbst die gross angekündigte, landesweite Konsultation der Franzosen in den kommenden drei Monaten, die den Unmut wieder in gewisse Bahnen lenken soll, wird derzeit eher skeptisch beäugt. Niemand kann sich zur Stunde so recht vorstellen, wohin sie letztlich führen soll.