Eldars Schilderung vermittelt ein von der israelischen Propaganda wie von der Hamas-Rhetorik unabhängiges Bild des politischen und menschlichen Dramas, welches sich in dem verarmten Küstenstreifen mit seinen etwa eineinhalb Millionen quasi gefangenen Menschen abspielt.
Abu Ali Shahins Geschichte
Man kann in diesem Werk fast auf jeder Seite Informationen finden, welche in dieser Klarheit vorher kaum zur Kenntnis genommen wurden. Ein Beispiel ist die Geschichte des palästinensischen Gefangenen Abu Ali Shahin. Als Gefolgsmann Jassir Arafats kam er 1967 in israelische Haft. Dort gründete er die „Palästinensische Gefangenenakademie“: Heimlich bildeten Palästinenser Palästinenser aus für den weiteren Kampf um die besetzten Gebiete. Andererseits machten die Gefangenen auch einen Wandel durch: Viele lernten Hebräisch - und sie kamen zur Einsicht, dass die einzige Lösung die Friedenslösung sei. „Ich habe sie nach meinem Ebenbild geschaffen, Hunderte, Tausende, sie sind meine Schüler?“, erzählte Abu Ali Shahin dem Autor.
Am 27. Februar 1968 wurde Abu Ali Shahin aus seiner Zelle geholt. Er durfte seinen von Folter gekennzeichneten Körper entlausen und reinigen. Danach wurde er vor Yitzhak Rabin, damals israelischer Generalstabschef, geführt. Abu Ali Shahin sollte endlich über seine Mitkämpfer aussagen. „Wenn Du nicht sterben willst, dann rede“, sagte Rabin. Darauf Abu Ali Shahin: „Wenn ich Tel Aviv erobert hätte und du wärest mein Gefangener, wärest du bereit, deine Kameraden auszuliefern?“ Rabin stand auf, verließ den Raum und sagte: „Wir sind fertig.“
Arafats Korruption, gebrochene Versprechen von Hamas
Die Konsequenzen aus der Tatsache, dass bis heute ständig Tausende von Palästinensern in israelischer Haft seien und teilweise misshandelt würden, beschreibt Shlomi Eldar so: „Israel hat niemals die Bedeutung des großen Drucks verstanden, den die Gefangenen, die frei gelassenen Gefangenen und ihre Familien auf die palästinensische Autonomieverwaltung ausgeübt haben. Danach war die Freilassung der Gefangenen die Voraussetzung für eine Fortführung des politischen Prozesses und die Erfüllung der gegenseitigen Verpflichtungen.“ Für einen Journalisten wie Shlomi Eldar ist es selbstverständlich, dass er auch die andere Seite, die Korruption der von Jassir Arafats Fatah-Bewegung, schildert und auch die Folter, mit welcher dieser arabische Despot seine eigenen Landsleute malträtiert hat.
Nachdem die Wähler aus Enttäuschung über die Fatah 2006 der Hamas das Vertrauen geschenkt hätten, habe diese ihrerseits in Gaza alle ihre Versprechen gebrochen, schreibt der Autor. In den internen Machtkämpfen habe der militärische Flügel einen versöhnlicher gestimmten Mann wie Ismail Haniye kaltgestellt. „Dieser Weg“, schreibt der Autor, hat den Bewohnern Gazas nicht nur nicht gut getan, sondern sie um Jahre und Generationen zurückgeworfen. Zurück in eine Zeit der Finsternis und Angst, der Entbehrungen und der Hoffnungslosigkeit.“
Spiel mit dem Feuer auf beiden Seiten
Und schließlich der israelische Angriff auf Gaza vom 7.Dezember 2008. Diesmal habe es nicht nur die israelische Führung übertrieben: „Alle haben es übertrieben in diesem Spiel mit dem Feuer.“ Shlomi Eldar schliesst sein Buch mit fast apokalyptischen Worten: „Gaza im Jahr 2011 ist tatsächlich wie der Tod.“
*Shlomi Eldar: Gaza bis zum bitteren Ende. Im Schatten des Todes. Aus dem Hebräischen von Abraham Melzer. Melzer-Verlag Neu-Isenburg 2011. 528 S, 19.99 Euro
Diese Besprechung ist zuerst in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 21. 11. 2011 erschienen