
Das Museum der konstruktiv-konkreten Kunst zieht zum zweiten Mal in seiner noch jungen Geschichte um. Die Abschiedsvorstellung am alten Ort demonstriert einmal mehr das Engagement und die kreative Lust, mit der hier Kunst gepflegt und gefördert wird.
Zum Abschied ihres Museums vom Gebäude des EWZ-Unterwerks Selnau zündet Direktorin Sabine Schaschl nochmals ein Ideenfeuerwerk, das es in sich hat. Sechs Künstlerinnen und Künstler hat sie eingeladen und ihnen je einen grossen Raum oder eine Suite von Räumen zur Verfügung gestellt, um eine eigene Sicht des gemeinsamen Themas «All-Over» zu realisieren.
Das augenzwinkernd doppeldeutige Motto benennt sowohl die künstlerische Form des sich in alle Richtungen ausdehnenden Werks als auch das schlichte «alles vorbei». Was das Kunstkonzept des «All-Over» betrifft, so ist dieses im Haus Konstruktiv seit jeher heimisch. Der 1963/64 für die New Yorker Stadtwohnung des damaligen Gouverneurs entstandene «Rockefeller Dining Room» des Amerikaschweizers Fritz Glarner ist als permanente Installation für das Museum ein Ensemble von programmatischer Bedeutung. Mit seinem All-Over von Malerei, Möbeldesign und Innenarchitektur knüpft es an die disziplinenübergreifenden Gestaltungen von russischem Konstruktivismus, De Stijl und Bauhaus an. Nicht zuletzt antwortet der Dining Room auf bildnerische Experimente der Zürcher Konkreten, deren Erbe das Museum pflegt und weiterträgt.
Doch nicht erst am Endpunkt der Ausstellung, im letzten Raum der obersten Etage, begegnet man einem Ausgangspunkt ihres Mottos. Auf ein erstes All-Over trifft man schon beim Eintritt ins Museum. Den Raum von Foyer, Empfang und Café, in dem noch ein wuchtiger Kranhaken als Zeuge der einstigen Gebäudenutzung von hoch oben herunterhängt, hat Claudia Comte mit dem Werk «Easy Heavy III» (2013) gestaltet. Die den Raum umgreifende Arbeit vereint Elemente von Op-Art und Pop-Art und bereitet mit heiterem Hintersinn die Eintretenden auf das vor, was sie in diesem Haus erwartet: Kunst, die gelegentlich irritiert, aber sehr oft vor allem Freude macht.
Irritieren und Freude machen, das funktioniert durchaus auch gleichzeitig. Die in Wien lebende Südtirolerin Esther Stocker (*1974), im Haus Konstruktiv keine Unbekannte, hat in dem grossen Raum, den man als ersten betritt, ihre Installation «A Space for Thoughts» (Gedankenräume) eingerichtet (Bild ganz oben). Der erste Eindruck ist selbst dann noch umwerfend, wenn man durch Abbildungen vorbereitet ist: Der Boden und die hohen Wände sind weiss und mit einem dicken schwarzen Liniengitter kariert.
Dieses All-Over, das auch über Türen und Fenster geht, intensiviert die Raumwahrnehmung in nie gesehener Weise, indem es die bei jedem Move des Betrachters ändernden Perspektiven extrem hervorhebt. In diesem vibrierenden Raum befinden sich zehn amorphe, mit der strengen Geometrie kontrastierende Objekte, bei denen das gleiche Karo als Hülle über verborgene Gegenstände geworfen ist oder wie ein zerknülltes Papier im XXL-Format am Boden liegt, im Raum hängt oder an der Wand klebt.
Wir befinden uns augenscheinlich in einer grosskarierten Welt. Das fette Karomuster definiert den Raum, und zu Knäueln deformiert ist es auch in der Gestalt der eigenartigen Objekte erkennbar. Doch welches ist unsere Position in dieser Welt? Die Installation von Objekten im gleichermassen als Objekt aufgefassten Raum bringt die Betrachterin in eine eigenartige Lage. Sie wird selbst zum Bestandteil des Werks, und es fehlt nur, dass sie als Besucherin sich auch noch ins gleiche Karo zu hüllen hätte.
Esther Stockers All-Over versetzt die Museumsbesucher tatsächlich in einen Gedankenraum – und vielleicht ebenso sehr in eine Zone der traumartigen Befindlichkeit. Ist man anfänglich etwas benommen, so weicht dieses Gefühl bald einer leichten Euphorie, einem schwerelosen Schwimmen in diesem Zauberraum. Man kann kaum genug bekommen von der Phantastik, in die man eintaucht, will die Szenerie aus immer neuen Positionen erkunden und Gedanken und Gefühle mit den zehn Rätseln schweben lassen in dem Raum, der nicht von dieser Welt ist.
Gewöhnlich rechnet man zur bildenden Kunst alle Varianten von Artefakten, die sich als visuell wahrnehmbare Objekte oder als Ensembles von Objekten der Betrachtung anbieten. Bei Carlos Cruz-Diez (1923–2019) kommt man mit dieser Definition nicht weit. Zwar ist seine Kunst zum Sehen geschaffen, aber da sie aus Lichtereignissen (nicht aus Leuchtobjekten) besteht, kennt sie keine Artefakte im gewohnten Sinn.
Durch das Werk «Chromosaturation» (Farbsättigung) führt ein Parcours intensivster Farberlebnisse. Das Abenteuer beginnt mit einem schmalen Gang, in dem die zunächst noch entfernten Quellen von Blau, Rot und Grün sich zu einem kreideweissen Leuchten überlagern. Gesättigt ist hier nicht primär die Farbe, sondern die Luft, in der das Lichtphänomen die Festigkeit von Boden und Wänden aufzulösen scheint, so dass Auge und Körper keinen Halt finden. Wer schon in ungespurtem Schnee in dichten Nebel geraten ist, kennt die Empfindung.
Nach zwei Ecken öffnet sich eine Folge von drei offenen Räumen, die von blauem, dann rotem und schliesslich grünem Licht geflutet sind. Verweilt man etwas in einem dieser Lichtbäder, so verändert sich die Farbwahrnehmung gleitend. Die Reflexe auf der gegenüber den drei Räumen verlaufenden Wand verschieben sich und die additiven Farbmischungen – Gelb zwischen Rot und Grün, Purpur zwischen Blau und Rot – treten deutlich hervor.
«Who pays the Bill», nennt Christine Streuli ihr um vier Wände laufendes Monumentalgemälde. Es befindet sich in dem durch eine brutale Deckenabsenkung mittendurch geteilten und daher als Ganzem schwierig zu bespielenden Saal. Der Titel verweist auf einen der vier Zürcher Konkreten, die dem Haus Pate stehen, genauer, auf ein bestimmtes Bild von Max Bill: «horizontal-vertikal-diagonal-rhythmus» von 1942, das aus schwarzen Streifen und farbigen Binnenflächen komponiert ist.
Bills späten Gruss an Piet Mondrian greift Christine Streuli drei Generationen danach wieder auf und umgreift so ein Jahrhundert europäischer Kunstgeschichte. Ihre Titelfrage ist kritisch auf diese Historie gemünzt: «Wer zahlt und zahlte denn tatsächlich die Rechnung, wenn in der Kunstgeschichte vorwiegend männliche Kollegen unterstützt, gesammelt und gezeigt wurden? Wer zahlt, wenn nicht mehr präzise unterschieden wird zwischen Original und Fake oder zwischen Wahrheit und Täuschung?»
Der erste Frage lastet auf der ganzen Kulturgeschichte und ragt dadurch in die Gegenwart herein. Für die Kunstwelt im Hier und Jetzt ist sie hingegen erledigt. Dass Frauen im Kunstbetrieb noch benachteiligt wären, lässt sich für Haus Konstruktiv – und nicht nur für dieses Institut – mittlerweile ausschliessen. Die zweite Frage allerdings dürfte mit dem Vordringen von KI in den Kulturbereich noch viel brisanter werden als sie es mit dem Problem des Fälschens seit jeher schon ist.
Doch Christine Streulis All-Over ist keine Thesenkunst, sondern ein Spiel zunächst mit Bills Mondrian-Version und dann mit immer weiteren Referenzen: Roy Lichtensteins Brushstrokes, Ikonografien der Street Art, Verfahren des Action Painting. So kreiert die Künstlerin ein kraftvolles Panorama verschiedener Bildsprachen und Stimmungen. Ihre Wandmalerei folgt einer Dramaturgie des Auflösens klarer Ordnungen und damit einem Hauptstrang der Kunstgeschichte der letzten hundert Jahre. Doch das Werk ist nicht nur im Grossen wahrnehmbar. Immer wieder wird der Blick zu Details gezogen, die man einzeln als konstruktiv-konkretes Bild liest. Dann wird «Who pays the Bill» unversehens zum Baukasten, aus dem das Auge des Betrachters eine unabschliessbare Reihe faszinierender Gemälde mitkreiert.
In der Raumsuite des obersten Ausstellungsgeschosses zeigt der in die Uckermark ausgewanderte Berner Reto Pulfer (*1981) die vielteilige Installation «Zustand Urgeflecht». Mit bemalten und bestickten Stoffbahnen, einem schlauchartigen Durchgang zu verschiedenen Zelten, mit Leinen in unterschiedlichen Verarbeitungsstadien und weiteren Naturmaterialien kreiert Pulver ein poetisches All-Over der Introversion.
Von der in Mexiko lebenden Spanierin Ana Montiel (*1981) sind unter anderem zwei computergenerierte Videos – «Istigkeit» (Naked Existence) und «Khoreia» (Dancing in Unison) – zu sehen. Das erste ist ein animiertes Mandala von psychedelischer Wirkung, das zweite eine fliessende Evokation von artifiziell-realen Chimären in oft blütenähnlichen Formen.
Der in Barcelona lebende Portugiese Carlos Bunga (*1976) hat den ihm zugewiesenen zwölf Meter hohen Treppenhausschacht mit Malereien behängt, die subtil auf den bevorstehenden Umzug des Museums hindeuten. Bungas Arbeiten sind hier gewissermassen schon unterwegs und nur bei der Passage innerhalb des Gebäudes zu betrachten. – Vielleicht eine Lesart des gemeinsamen Mottos, die eher auf die Flüchtigkeit des Bestehenden verweist: Schon bald ist hier alles vorbei.
Tatsächlich ist «Konzepte des All-Over» die abschliessende Ausstellung des Museums Haus Konstruktiv im EWZ-Unterwerk Selnau, in dem es 24 Jahre lang untergebracht war. Das Gebäude hatte den Charme des Industriebaus, der wunderbar zur konstruktiven Kunst passte, aber es bot für den Museumsbetrieb auch erhebliche strukturelle Schwierigkeiten. Dass Haus Konstruktiv nun ins Areal Löwenbräu in Zürich West zieht und dort als prägendes Element eines bedeutenden Kunst-Clusters figurieren wird, ist ein Glücksfall. Wenn nicht alles täuscht, hat Haus Konstruktiv seine besten Zeiten noch vor sich.
Museum Haus Konstruktiv, Zürich: Konzepte des All-Over
mit Werken von Carlos Bunga, Carlos Cruz-Diez, Fritz Glarner, Ana Montiel, Reto Pulfer, Esther Stocker und Christine Streuli
Kuratiert von Sabine Schaschl
Katalog erschienen im Verlag für Moderne Kunst
Zu sehen bis 13. April 2025