
Die Schrift auf dem zerknitterten Zettel hat es in sich. In einem gebratenen Huhn wird das Stück Papier versteckt und so von der Gefängnisinsel aufs Festland geschmuggelt. Heute ist der Text aktueller denn je und wirft dieser Tage in Italien hohe Wellen. Regierungschefin Meloni reagiert unglücklich.
Der Text, der im Huhn geschmuggelt wurde, enthielt ein Manifest, das für eine starke gesamteuropäische Union plädiert – ein Imperium mit einer eigenen Armee. In einer Zeit, in der Donald Trump Europa im Stich lässt und sich der Alte Kontinent neu aufstellen muss, ist das 1941 geschriebene Manifest hochaktuell.
Hauptautor der Schrift war der italienische Antifaschist Altiero Spinelli. Er war schon als junger Mann der Kommunistischen Partei beigetreten und kämpfte gegen Mussolini. 1927 wurde der Zwanzigjährige verhaftet. Von 1928 bis 1937 verbrachte er zehn Jahre in Gefängnissen in Lucca, Viterbo, Civitavecchia und Rom. 1937 wurde er ins hufeisenförmige Gefängnis auf Santo Stefano gebracht. Das felsige Inselchen gehört zur daneben liegenden anderthalb Quadratkilometer grossen Insel Ventotene. Sie liegt im Golf von Gaeta, gut 70 Kilometer vor Neapel.
Das Bild zeigt Spinelli während seiner Haft. Immer mehr wendete er sich vom Marxismus ab. Berichte über die Gräueltaten Stalins veranlassten ihn, die kommunistische Führung zu kritisieren. Dogmatisches Denken lehnte er nun ab. 1937 wurde er aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, weil er «die bolschewistische Ideologie untergraben wollte und sich in einen Kleinbürger verwandelt hatte».
Immer mehr faszinierte ihn die Idee eines starken, friedlichen, geeinten, demokratischen Europa. Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Grossbritannien und all die anderen unter einen Hut zu bringen – das war sein Traum. Ziel war die Errichtung eines europäischen Bundesstaates, einer europäischen Grossmacht – frei von jedem Totalitarismus.
Das «Manifest von Ventotene»
Spinelli war auf Ventotene nicht alleiniger Häftling. Zusammen mit seinen zwei Mitgefangenen Ernesto Rossi und Eugenio Colorni brütete er über der Idee eines geeinten Europa. Rossi war ein Liberaler und Colorni ein sozialreformistischer Philosoph und Sozialist. Seine Schwester hatte einen revolutionären Zionisten und Marxisten zum Mann.
1941 verfassten die drei, die aus verschiedenen ideologischen Ecken stammten, das «Manifest von Ventotene». Darin wird die Schaffung einer Europäischen Föderation vorgeschlagen. Dies sei die einzige Möglichkeit, dass das geschundene Europa längerfristig überlebensfähig sei. Geprägt ist das Manifest von sozialistischen Wirtschaftsvorstellungen. Die Souveränität der einzelnen Nationalstaaten sei die Ursache für Kriege und Elend, heisst es. Die Gründung eines europäischen Bundesstaates sei deshalb die einzige Lösung, um Frieden und Freiheit zu bewahren.
Im Juli 1943 wurde Mussolini auf Befehl von König Vittorio Emanuele III. festgenommen und auf dem Gran Sasso in den Abruzzen inhaftiert. Jetzt wurde Spinelli in Ventotene entlassen.
Grossaufmarsch auf der Piazza del Popolo
Am letzten Wochenende hatten sich auf der Piazza del Popolo in Rom 50’000 Menschen versammelt. Sie protestierten gegen Trump, gegen Putin, für die Ukraine und vor allem: für ein geeintes Europa. Neben blauen Europa-Flaggen sah man auch Porträts von Altiero Spinelli. Organisiert worden war die Grosskundgebung von Michele Serra, einem einflussreichen Journalisten und Kolumnisten der linksliberalen Römer Zeitung «La Repubblica». Unterstützt wurden die Manifestanten von zahlreichen Prominenten, so von Giorgio Armani, dem Architekten Renzo Piano, dem Mussolini-Biografen Antonio Scurati und dem Sänger Jovanotti. Mehrere Redner zitierten das Manifest von Ventotene und bezeichneten es als ersten Entwurf für ein geeintes Europa.
Da und dort brach ein eigentliches «Ventotene-Fieber» aus, auch im Römer Parlament. Linke und liberale Kreise huldigten Spinelli. La Repubblica publizierte den vollständigen Text des Manifests.
Harte Kritik an Meloni
Ministerpräsidentin Giorgia Meloni reagierte wenig souverän und plump. Sie habe nichts mit Ventotene am Hut, sagte sie. Die Regierungschefin, die in postfaschistischen Kreisen sozialisiert worden war, sieht in Spinelli einzig den Antifaschisten und den ehemaligen Kommunisten. Statt den Faschismus zu verurteilen, verurteilt sie die Bekämpfer des Faschismus. Ein Teil ihrer Wählerschaft schleppt nach wie vor neofaschistischen Ballast mit sich. Diese Leute will sie, im Hinblick auf kommende Wahlen, bei der Stange halten. Sie pickte einige ihr genehme Sätze aus dem Manifest, so der Vorwurf, und verstand den Geist des Manifests nicht.
Und ausgerechnet Meloni, eine enge Freundin des «illiberalen» ungarischen Präsidenten Orban, wirft jetzt der Linken vor, sie befürworte «illiberale» Ideen. Die Regierungschefin musste sich vorwerfen lassen, das Manifest gar nicht zu kennen und in historischen Belangen eher unbedarft zu sein. Im Parlament wurde sie von der Opposition hart angegangen. Es habe ihr gereicht zu wissen, hiess es, dass der Autor des Manifests ein Antifaschist war, um seine Idee in Bausch und Bogen undifferenziert zu verteufeln. «Ich war schockiert über die aus dem Gleichgewicht geratenen Reaktionen im Plenarsaal», antwortete sie.
«Erste Spuren eines föderalen Europa»
In Brüssel verteidigte Roberta Metsola, die Präsidentin des Europäischen Parlaments, das Manifest: «Es ist ein Stück Geschichte, es sind die ersten Spuren der Idee eines föderalen Europas.» Das Manifest von 1941, so sagte einst EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, gilt als «Meilenstein der europäischen Integration». Ein Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel wurde nach Altiero Spinelli benannt.
Der Philosoph Eugenio Colorni, einer der Mitautoren des Manifests war Ende Mai 1943, wenige Tage vor der Befreiung Roms, von Faschisten erschossen worden. Seine Frau, die deutschstämmige Jüdin Ursula Hirschmann, war es, die das Manifest in einem gebratenen Huhn von Santo Stefano aufs Festland geschmuggelt und dort vervielfältigt und verteilt hatte. Nach der Ermordung von Eugenio Colorni heiratete sie Altiero Spinelli.
Spinelli starb 1986 in Rom. 1974 war er für seine Verdienste um den Aufbau Europas mit dem Robert-Schuman-Preis geehrt worden. 1976 liess er sich ins Europäische Parlament abordnen. Inzwischen versöhnte er sich wieder mit den Kommunisten, doch das war jetzt eine ganz andere Partei als damals. Der Eurokommunist Enrico Berlinguer hatte die Kommunisten entstalinisiert, entdogmatisiert und fast schon auf sozialdemokratische Pfade geführt. Auf der Liste dieser Eurokommunisten wurde Spinelli 1979 als Unabhängiger ins EU-Parlament gewählt. In vielen Vorträgen hatte er seine Vorstellungen erläutert.
Ein Weckruf
Natürlich ist das Manifest von Ventotene eine Utopie, die so wohl nie verwirklicht wird. Vieles wirkt naiv und nostalgisch. Die europäischen Staaten haben sich aufgrund ihrer verschiedenen Kulturen, ihrer geografischen Lage und aufgrund ihrer Geschichte und ihrer unterschiedlichen Identitäten weit auseinanderentwickelt. Bis die «Vereinigten Staaten von Europa» verwirklicht werden, ist es wohl noch ein langer Weg.
Und dennoch: Das Manifest könnte ein Weckruf sein: ein Anlass dazu, endlich ernsthaft darüber nachzudenken, dass sich Europa zusammenraufen muss, um nicht ein Anhängsel der Mächte im Westen und Osten zu werden. Der alte Kontinent ist selbstgefällig geworden. Lange Zeit glaubten die 450 Millionen Europäer, der Frieden, den sie Jahrzehnte lang genossen, sei gottgegeben. Die letzten Wochen haben drastisch gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Die Europäer und Europäerinnen müssen endlich begreifen, dass sie etwas für unsere Sicherheit tun müssen und sich nicht in kleinkarierten Streitereien verheddern. Die europäischen Staaten müssen die Zusammengehörigkeit erlernen. Europa könnte eine starke Grossmacht sein. Wenn es denn nur wollte. Und könnte.
PS: An diesem Wochenende pilgern linke und liberale Politiker auf das Grab von Altiero Spinelli. Es befindet sich auf Ventotene.