
Wir feiern das hunderjährige Jubiläum der Quantentheorie. Sie ist die wohl am besten bestätigte Theorie in den Naturwissenschaften, sie ist die Grundlage neuer revolutionärer Technologien: Transistoren, Laser, Supraleiter, Atomuhren, Magnetresonanztomographie, Quantencomputer …
Zugleich hat diese Theorie einen paradoxen Zug: Sie erklärt erfolgreich physikalische Phänomene im Grossen und Kleinen, vom Ursprung des Universums bis zu den fundamentalen Teilchen der Materie, und dennoch diskutieren die Physiker bis heute, wie sie zu interpretieren sei, als handle es sich um Lyrik. Sie widerspricht dem meisten, was uns aus dem Alltagsverhalten von physikalischen Systemen vertraut ist.
Abschied von Selbstverständlichkeiten
Die grössten Geister der modernen Physik haben sich in diesem Sinn geäussert. Ich zitiere nur vier. Albert Einstein: «Wenn diese Theorie richtig ist, dann bedeutet sie das Ende der Physik.» Niels Bohr: «Wer die Quantenmechanik zunächst nicht schockierend findet, kann sie noch nicht verstanden haben.» Erwin Schrödinger: «Ich mag sie nicht. Und ich bereue es, dass ich jemals etwas mit ihr zu tun gehabt habe.» Schliesslich brachte Richard Feynman all diese Vorbehalte auf den berühmten Punkt: «Niemand versteht die Quantenphysik.»
Eine Theorie, die uns wie kaum eine andere zuvor Naturphänomene verstehen hilft und die man trotzdem nicht versteht – wenn das kein Paradox ist! Man muss freilich solche Aussagen cum grano salis lesen. Zweifellos bringen sie die tiefe Verwirrung zum Ausdruck, in welche die Physiker in den 1920er Jahren gerieten, weil diese neue Theorie der Materie alten und als selbstverständlich geltenden Annahmen radikal widersprach. Max Planck war der erste Physiker, der eigentlich wider Willen eine Selbstverständlichkeit der klassischen Physik aufgab. Und damit trat er eine Lawine los, die durch das ganze 20. Jahrhundert bis heute rollt.
Licht und Wärme
Die Geschichte beginnt auf klassischem Boden, im späten 19. Jahrhundert. Die Wissenschaftler kannten drei fundamentale Theorien, die sie als unumstössliche Pfeiler der klassischen Physik betrachteten: Die Mechanik, die Elektrodynamik und die Thermodynamik. Mit diesen Theorien glaubte man, alle Naturphänomene zumindest im Prinzip erklären zu können. Diese Überzeugung beflügelte viele Physiker zu einer Hybris, «im Grunde» sei alles verstanden. Aber ein Problem lauerte im Hintergrund, das sich als Sprengsatz der klassischen Physik herausstellen sollte. Es hat mit Licht und Wärme zu tun.
Das Phänomen ist wohlbekannt. Trifft Sonnenlicht auf einen Körper, erwärmt er sich, bis er sich in einem sogenannten Gleichgewichtszustand mit der Umgebung befindet. In diesem Zustand kann man dem Körper eine Temperatur zuschreiben. Von ihm selber geht auch Strahlung aus. Steigt die Temperatur, strahlt der Körper intensiver ab, und diese Strahlung lässt sich als Farbe – als Frequenz – beobachten. Ein Stück Eisen glüht zuerst rot, dann organge, gelb, schliesslich weiss. Sein Intesitätsmaximum befindet sich im Bereich der sichtbaren Lichtfrequenzen. Strahlt er das ganze Spektrum des Sichtbaren ab, erscheint er uns nahezu weiss, wie die Sonne am Mittagshimmel. Mein Körper bei 37° Celsius strahlt auch ab, vor allem im infraroten Bereich. Abgestrahlte Intensität und Frequenz der Strahlung hängen also miteinander zusammen. Einen solchen Zusammenhang wollen die Physiker im Idealfall als eine mathematische Gesetzmässigkeit ausdrücken.
Schwarze Strahler
Nun ist allerdings kein realer Körper ein reiner Wärmestrahler. Was wir als seine Wärme wahrnehmen, ist immer ein Gemisch aus absorbierter und reflektierter Energie. Um zu einer mathematischen Formel zu gelangen, greifen die Physiker zu einem bewährten Kniff: sie konstruieren ein abstraktes Modell. Es war im späten 19. Jahrhundert bekannt: der sogenannte Schwarze Strahler. Das ist eine ziemlich unglückliche Bezeichnung, denn ein Schwarzer Strahler muss nicht notwendig schwarz sein. Er ist schwarz, weil er alle Strahlung absorbiert.
Man stelle sich einen Schwarzen Strahler vor als einen Würfel mit einem kleinen Loch auf einer Seite. Im Inneren ist er ausgestattet mit reflektierendem Material. Tritt Strahlung ein in den Würfel, dann wird sie an den Wänden reflektiert und befindet sich in einem thermischen Gleichgewicht mit ihnen. Im Inneren herrscht also eine bestimmte Temperatur. Die Strahlung, die aus dem Loch austritt, hängt allein von dieser Temperatur ab. Aus diesem Grund spricht man auch von Hohlraum-Strahlung.
Die Anomalie
Ich habe das Modell etwas ausführlicher skizziert, weil es eine typische Vorgehensweise der theoretischen Physik exemplifiziert. Wenn man von realen Objekten ausgeht, dann sind die Grössen, die man an ihnen misst – also etwa Strahlungsintensität und -frequenz – nicht in einem reinen mathematischen Zusammenhang formulierbar. Das ist eben die «Unreinheit» der Empirie. Darüber setzen sich die Modellbauer hinweg, indem sie ein ideales Modell fingieren, an dem sich ein mathematischer Zusammenhang viel leichter statuieren lässt.
Genau einen solchen Zusammenhang kannte man um die Jahrhundertwende. Er beruht auf der klassischen Physik, lässt sich aus Elektrodynamik und Thermodynamik herleiten. Nun stellte man aber einen ärgerlichen Makel fest. Im ultravioletten Bereich – bei sehr kleinen Frequenzen – liefert die Formel eine unendliche Intensität, was ein eklatanter Widerspruch zu allen Beobachtungen darstellt – eine Anomalie. Diese Anomalie bereitete den Physikern Kopfzerbrechen, weil sie anzeigte, dass an der klassischen Physik etwas nicht stimmte.
Die subersive Idee: Energie in «Paketen»
Max Planck mühte sich ebenfalls mit dem Problem ab, und er korrigierte die auf klassischer Grundlage gewonnene Formel. Aus klassischer Sicht strahlt ein Körper Energie kontinuierlich ab. Planck traf nun die «revolutionäre» Annahme, dass der Schwarze Körper Energie nur in «Paketen» – Quanten – abgibt. Das liess sich durch nichts aus der klassischen Physk begründen, sein Fund war, wie ihn Planck selber beschrieb, eine «glücklich erratene Interpolationsformel». Sie enthielt nicht nur die beiden bekannten Naturkonstanten der Elektrodynamik und Thermodynamik – Lichtgeschwindigkeit und Boltzmann-Konstante –, sondern auch eine neue, welche zum Emblem der Quantentheorie werden sollte: das Planck’sche Wirkungsquantum, abgekürzt mit dem Buchstaben h.
Die Trägheit des Paradigmas
Planck tat etwas, das typisch ist für das Vorgehen der Forscher angesichts einer Anomalie. Sie geben ihre Theorien nicht gleich auf, sondern «schräubeln» an ihnen etwas herum, bis sie mit den Beobachtungen übereinstimmen. Das gilt vor allen für Grosstheorien wie die klassische Physik mit ihren im Lauf von fast zwei Jahrhunderten bestens bewährten Gesetzen.
Wie der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn in seinem wegweisenden Buch «Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen» schreibt, erweisen sich solche Theorien als bemerkenswert träge gegenüber Innovationen. Sie haben zuweilen sogar etwas Dogmenhaftes, weil sie bewährte Erklärungswerkzeuge sind. Kuhn nannte sie «Paradigmen». Man gibt sie nicht einfach so auf. Wenn die Physiker auf ein Phänomen stossen, das sie mit ihren herkömmlichen Begriffen nicht erklären können – eine Anomalie –, dann suchen sie zunächst nach Tricks, um das Paradigma vor der Anomalie zu «retten». Man kann ein Paradigma mit einem soliden Flugzeug vergleichen. Anomalien schlagen Löcher in seinen Rumpf, aber es bleibt flugtauglich.
Die Quantentheorie verdankt sich eigentlich einem solchen Trick. Damit sei nicht gesagt, dass er allein das klassische Flugzeug zum Absturz gebracht hatte. Dazu bedurfte es mehr: der Häufung von «Einschusslöchern», die grossflächig anzeigten, dass etwas mit der klassischen Physik nicht stimmte. Eine andere, im Rücklblick entscheidende Anomalie hatte auch mit der Wechselwirkung von Licht und Materie zu tun: der photoelektrische Effekt. Davon im Crashkurs 2.