Am kommenden Wochenende wird sich wiederholen, was Frankreich im Mai 2014 bei den Europawahlen schon einmal erlebt hat: Ein grosses Wehklagen wird anheben darüber, dass die rechtsextreme Partei von Marine Le Pen als stärkste Kraft aus landesweiten Wahlen hervorgeht.
Schon im Vorfeld dieser Departementswahlen (mit Ausnahme der beiden Grosstädte Paris und Lyon) darf die rechtsextreme Formation von Marine Le Pen triumphieren: Schon seit Wochen steht diese Partei ganz eindeutig im Zentrum der politischen Diskussion in Frankreich. Die herkömmlichen Parteien verbringen ihre Zeit damit, sich ihr gegenüber zu positionieren, fast alles scheint sich nur noch um die Nationale Front zu drehen und um die Frage, bekommen ihre mehr als 7‘000 Kandidaten in den knapp 2‘000 Kantonen der rund 100 Departements im Land nun 28, 30 oder gar über 30% der Stimmen?
An die Macht
Und noch einen zweiten Erfolg darf die Partei schon vor den Urnengängen am 22. und 29. März verzeichnen: Sie stellt die mit Abstand meisten Kandidaten im Land – in 93% der Kantone sind sie präsent, weitgehend unbekannt und ohne politische Erfahrung, präsentiert als Menschen aus dem Volk wie Du und ich.
Währenddessen bringen es die herkömmlichen Grossparteien PS und UMP gerade mal auf 77%. Ein extrem wichtiges Symbol für die lokale Verankerung des Front National, die noch vor wenigen Jahren überhaupt nicht gegeben war – bei Departementswahlen war die Nationale Front bis 2011 nur unter ferner liefen aufgetaucht. Jetzt aber scheint die mittelfristige und grundlegende Strategie von Marine Le Pen, die die Parteiführung vor nicht mal vier Jahren von ihrem Vater übernommen hat, mehr und mehr aufzugehen: ein Netz von Front National-Aktivisten, Kandidaten und Sympathisanten über das gesamte Land zu legen und möglichst flächendeckend Kader der Partei heranzuziehen und dauerhaft zu installieren.
Diese Entwicklung ist der sichtbarste und vielleicht sogar wichtigste Ausdruck eines Wandels der 1972 gegründeten Partei, seit die Tochter des alten rechtsextremen Haudegens Jean-Marie Le Pen am Ruder ist.
Vater Le Pen wollte nie wirklich an die Macht, Marine Le Pen will es sehr wohl! Dies muss spätestens in den letzten Monaten auch den Letzten im Land klar geworden sein.
Panik
Und prompt beginnt das grosse Zittern, ein Anflug von Hysterie und immense Hilflosigkeit machen sich bei den traditionellen Parteien breit. Angesichts des ständigen Anwachsens der Wählerschaft des Front National gerät die konservative UMP in Panik.
Ihr neuer Parteichef, Ex-Staatspräsident Sarkozy, der 2007 noch viele potentielle FN-Wähler auf seine Seite ziehen und damit die Präsidentschaftswahlen gewinnen konnte, wirkt heute geradezu ratlos und unfähig, eine Linie vorzugeben, wie man es denn mit der extremen Rechten zu halten habe. Zumal er feststellen muss, dass die traditionellen UMP-Wähler mehr und mehr für ein Zusammengehen mit der Nationalen Front im entscheidenden, zweiten Wahlgang plädieren - inzwischen sind es mehr als 55%! Die Grenzen zwischen rechts und rechtsextrem werden von Monat zu Monat durchlässiger, der Rechtsruck der französischen Gesellschaft geht weiter und weiter.
Angst
Und die regierenden Sozialisten? Dort ist die Hilflosigkeit so gross, dass Premierminister Valls persönlich vor einer knappen Woche einschritt und klagend und beschwörend äusserte, er habe Angst um sein Land, Angst, dass Frankreich an der Nationalen Front zerbrechen könnte. Mag sein - doch Angst war in der Politik noch nie ein guter Ratgeber und ist als Argument in der politischen Auseinandersetzung nun wahrlich nicht sonderlich überzeugend.
Marine Le Pen darf sich plötzlich noch genüsslicher die Hände reiben und in ihrer gespielt burschikosen Art ihren potentiellen Wählern zurufen: Schaut sie euch doch an, diejenigen, die an der Macht sind und Euch regieren. Sie haben die Hosen voll, und zwar gestrichen.
Geist des 11. Januar
Naiv hatten die Hinterzimmer-Strategen und die Kolonne von blutlosen Beratern des Staatspräsidenten und Premierministers, die ihre Nasen so gut wie nie über die Grenzen der betuchtesten und verwöhntesten Viertel der französischen Hauptstadt hinausstrecken, geglaubt, der beeindruckende nationale Schulterschluss nach den Terroranschlägen Anfang Januar mit rund vier Millionen Demonstranten, die gegen Terror und Fanatismus auf die Strasse gegangen waren, könnten den Sozialisten und der Linken wieder etwas Oberwasser verschaffen. Doch von wegen.
Der so viel beschworene Geist des 11. Januar hat sich schon längst wieder verflüchtigt und Marine Le Pen und ihre Partei, die den Einheitsdemonstrationen ferngeblieben waren, gehen nicht geschwächt, sondern sogar eher gestärkt aus dieser Episode hervor. Denn die Wählerschaft der rechtsextremen Walküre war und ist mitnichten Charlie. Ihr sind die satirische Wochenzeitung, das Recht auf Satire und Gotteslästerung, der Kampf für freie Meinungsäusserung und die Grundfreiheiten überhaupt gründlich wurscht. Ihr Feind ist und bleibt der Muslim und mit ihm all die Millionen Franzosen, die eine etwas dunklere Hautfarbe haben. Die Attentate wurden von Islamisten begangen, also muss man in den Augen der Front National-Sympathisanten den Islam bekämpfen. Und wer kündigt diesen Kampf und dieses simple Denkmuster in Frankreich am lautstärksten an? Marine Le Pen. Mit anderen Worten: die Terroranschläge und das daraus resultierende Klima im Land dürften sich an den zwei kommenden Wahlwochenenden für die Nationale Front eher positiv auswirken.
Symbole
Vielleicht gelingt es der FN zwei oder drei, vielleicht auch vier Departements für sich zu gewinnen, das heisst: im zweiten Wahlgang mehr als 50% der Stimmen auf sich zu vereinen. So zum Beispiel das Departement Var am Mittelmeer, wo die Stadt Frejus schon von einem Bürgermeister der Nationalen Front verwaltet wird. Oder rund um Avignon das Departement Vaucluse, wo Marine Le Pens Nichte ihren Wahlkreis hat, welcher sie in die Pariser Nationalversammlung gewählt hat. Vielleicht sogar das einst tief sozialistische und kommunistische Departement Pas-de-Calais oder das Departement Aisne, 100 Kilometer nordöstlich von Paris, wo die Rechtsextremen bei den Europawahlen fast 42% erzielten.
Für den Front National wären es weitere, wichtige Symbole auf dem Weg zur Macht. Die Entwicklung, wonach diese Partei in den Köpfen der Franzosen eine Partei wie alle anderen auch geworden ist, würde dadurch nur noch gefördert.
Das flache Land
Ausserdem wird man am Ende feststellen müssen, dass die Nationale Front nicht mehr nur in ihren klassischen Hochburgen in Südostfrankreich und im Norden und Nordosten, in den ehemaligen Stahl- und Bergbauregionen des Landes, exzellente Ergebnisse erzielt, sondern dass 30% Stimmen für die extreme Rechte mittlerweile auch in Regionen möglich sind, die bislang unbeleckt, für die Nationale Front unzugänglich blieben, wie etwa die Bretagne oder der Südwesten des Landes mit radikalsozialistischer Vergangenheit - selbst in der Heimat von Jaurès, in Albi und Umgebung, strömen die Wähler heute zur Nationalen Front bzw. zum „Mouvement Bleu Marine“, der marineblauen Bewegung, was fast niedlich und weniger abschreckend klingt als Front.
Noch vor zehn Jahren undenkbar: das flache Land, das ländliche, dörfliche Frankreich, optiert heute massenhaft für Marine, wie die Parteichefin fast überall vertraulich genannt wird. Es sind Landstriche, die sich verlassen fühlen, wo Häuser mit geschlossenen Fensterläden jahrelang und massenhaft zum Verkauf stehen und verfallen, kein Bäcker und kein Bistrot mehr zu finden sind, ganz zu schweigen von Postämtern oder Ärzten. Es sind leise vor sich hinsterbenden Landschaften, in denen plötzlich reihenweise die Dämme gegenüber dem Front National gebrochen sind.
Generalprobe
Diese landesweiten Departementswahlen mit demselben Mehrheitswahlrecht und mit zwei Durchgängen, wie bei den Präsidentschaftswahlen, sind für Frankreichs extreme Rechte nichts weniger als eine Generalprobe für das Jahr 2017.
Bis dahin wird Frankreichs politische Klasse vor sich hin zittern und sich damit zu beruhigen versuchen, dass landesweit gesehen zwischen 30 und 50,1% noch eine Menge Spielraum ist.
Und doch sagt man sich: sollte durch irgendein Wunder im Mai 2017 in der Stichwahl, im 2. Wahldurchgang für das Amt des französischen Staatspräsidenten, ein Kandidat der Sozialisten und nicht der Vertreter der konservativen UMP Marine Le Pen gegenüberstehen - es wäre bei der derzeitigen Stimmung im Land tatsächlich nicht mehr auszuschliessen, dass der Kandidat der Sozialisten den kürzeren zieht.
Zu zahlreich sind heute schon die rechtskonservativen Wähler, die bereit sind im entscheidenden Durchgang für Marine Le Pen zu stimmen, sollte der Kandidat der UMP im ersten Durchgang ausscheiden. Zu zahlreich aber auch die linken Wähler, die in der Stichwahl es nicht übers Herz bringen würden - wie einst 2002 beim Duell Jacques Chirac/Jean Marie Le Pen - für den Kandidaten der Konservativen zu stimmen, vor allem wenn er Nicolas Sarkozy heissen sollte.