Hebt man wieder mal zufällig den Kopf vor einem der Rathäuser, ertappt man sich dabei, nur noch zynisch zu schmunzeln beim Anblick der drei bedeutungsschweren Wörter. Wäre es nicht an der Zeit, diese Inschriften herauszumeisseln ? Denn wer glaubt in Frankreich heute wirklich noch an diese Devise , wer hält sich noch daran, wer lechzt noch danach, wer kämpft im Frankreich des Jahres 2011 noch für die Umsetzung der darin verkörperten Werte?
Liberté
Seit rund zehn Jahren ist in Frankreich, erst unter dem Druck des Innenministers, Nicolas Sarkozy, dann des Präsidenten Nicolas Sarkozy, ein freiheitsraubendes Gesetz nach dem anderen erlassen worden. Darunter fallen allein ein Dutzend Gesetze zur inneren Sicherheit, die zum Teil verabschiedet wurden, als die Anwendungsdekrete des vorhergehenden Gesetzes noch nicht mal veröffentlicht waren. Seit Jahren gilt das Motto: „Höhere Strafen und Wegsperren, so lange wie möglich."
Prävention oder offener Strafvollzug sind Fremdwörter geworden. Dabei wird der Zustand der französischen Gefängnisse von nationalen und internationalen Gremien regelmässig als menschenunwürdig und katastrophal bezeichnet. Dasselbe gilt mittlerweile für Frankreichs Psychiatrie. In den Augen des Präsidenten sind psychisch Kranke gefährlich und ebenfalls wegzuschliessen, entweder in psychiatrischen Krankenhäusern oder einfach in Gefängnissen. Nach Angaben von Experten sind ein Viertel der französischen Häftling psychisch krank und hätten eigentlich in den Haftanstalten nichts verloren.
Und wie ist es mit der Freiheit der Franzosen im Alltag bestellt, wo man sich von Jahr zu Jahr stärker gegängelt fühlt? Von wegen Laissez-faire! „Irgendwann“, so sagte jüngst einer am Tresen, „werden sie uns noch verbieten, miteinander zu schlafen oder uns vorschreiben, wie man es machen muss.“
Oder der Polizeigewahrsam, der auch bei kleinen Vergehen zur Regel geworden ist? Man muss sich vorstellen: Bis zu 800.000 Franzosen sind unter Präsident Sarkozy pro Jahr in den Genuss eines mehrstündigen Aufenthalts in einem Polizeikommissariat gekommen, Leibesvisitation inbegriffen, oft wegen Lappalien, wie kleiner Verkehrsdelikte. Konkret heisst das: Man dreht sich an einer belebten Pariser Strassenkreuzung ein mal im Kreis und hat statistisch gesehen ein oder zwei Personen vor sich, die im letzten Jahr einmal in Polizeigewahrsam waren.
Und das Gesetz gegen das Tragen der Burka ? Geht es da wirklich nur um die Freiheit und die Würde von einigen hundert Frauen, oder ist es nicht auch eine Beschneidung einer individuellen Freiheit und erneut ein Mittel, bestimmte Mitbürger zu stigmatisieren? Im Rahmen einer Informationskampagne über das Gesetz hat man 400 000 Plakate drucken lassen, auf denen eine martialisch aussehende Marianne, die Inkarnation der Republik, mit freier Stirn und offenem, stählernen Blick den darunter stehenden Leitsatz verkörpern soll, der da lautet: „Die Republik lebt unverschleiert“ – schon hängen diese Plakate an den Eingangstüren von Gasthäusern in Dörfern, wo noch nie ein Muslim, geschweige denn eine den Nikab tragende Frau gesehen worden wäre.
Und die freie Meinungsäusserung? Sich etwa über den Präsidenten lustig machen, ihn karikieren, des Präsidenten eigene Worte benutzen, um zu demonstrieren - man überlegt es sich besser zwei Mal, bevor man zur Tat schreitet. Denn Nicolas Sarkozy tut in diesen Fällen regelmässig, was keiner seiner Vorgänger je getan hatte: Er führt Klage. „Hau ab, du armer Trottel“, hatte der Präsident einst zu einem Bürger gesagt, der sich weigerte, ihm die Hand zu schütteln. Als ein Demonstrant Monate später dieses Zitat auf einem Pappkarton hoch hielt, wurde er nach einem Prozess zu einem Bussgeld von 30 Euro verurteilt. Demonstranten mit Sarkozymasken werden vorübergehend festgenommen. Da strahlt die Freiheit doch geradezu aus allen Poren.
Kein Wunder dass es in solchen Zeiten auch mit der Pressefreiheit nicht besser bestellt ist. Innerhalb weniger Jahre ist Frankreich im internationalen Vergleich auf den 41. Platz abgerutscht und könnte noch tiefer sinken. Gerade in den letzten Wochen hat im öffentlich-rechtlichen Fernsehen erneut ein Grossreinemachen eingesetzt – gleich drei, eher kritische Sendungen sollen nach dem nächsten Sommer eingestellt werden, darunter - welch Zufall - die des Journalisten und Schriftstellers Franz- Oiliver Giesbert, der gerade eben ein ausgesprochen Sarkozy-kritisches Buch veröffentlicht und damit das Missfallen des Präsidenten erregt hat. Selbst die Henri-Nannen-Stiftung in Hamburg scheint sich um die französische Pressefreiheit Sorgen zu machen und verleiht den Henri-Nannen-Preis 2011 für Verdienste um die Pressefreiheit dem legendären satirischen Wochenblatt „Le Canard Enchainé“.
Nicht zu vergessen schliesslich die jüngste Einschränkung von Freiheiten für Frankreichs Bereitschaftspolizisten. Ihnen hat man doch tatsächlich beim Kantinenessen oder beim Katering in ihren Kastenwagen, wenn sie in den Strassen stundenlang auf Demonstrationen zu warten haben, den Viertelliter Rotwein gestrichen. Es folgte ein Aufschrei der Entrüstung aller Polizeigewerkschaften - genützt hat es nichts.
Égalité
Und das Wort Gleichheit? Es ist in wirtschaftsliberalen Zeiten auch in Frankreich im Grunde zu einem Schimpfwort geworden. Trotz Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Stimmung so, als wäre es unanständig, dieses Wort in den Mund zu nehmen. Die Kluft zwischen den ganz Reichen und den Armen ist in den letzten vier Jahren unter Präsident Sarkozy, trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen, ständig grösser geworden. Der Präsident kann heute tun und lassen, was er will, er ist und bleibt der Präsident der Superreichen, seit er mit ihnen seinen Wahlsieg im Nobelrestaurant „Le Fouquet's“ gefeiert hat, anschliessend auf der Yacht eines befreundeten Milliardärs aufs Mittelmeer verschwand und kurz danach, quasi als erste Amtshandlung, den Vermögendsten im Land Steuergeschenke in Milliardenhöhe machte.
Und die Gleichheit vor dem Gesetz? Es darf gelacht werden.
Innerhalb von 48 Stunden wurde einerseits der ehemalige Innenminister Pasqua von einem Berufungsgericht im so genannten „Angola Gate“ freigesprochen, wo im Grunde ausser Frage stand, dass er in den 90er Jahren von einem Waffenhandel mit den Machthabern in Luanda profitiert hatte. Und nach fünfeinhalb Jahren wurde das Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung gegen die zwei Polizisten eingestellt, die in Clichy sous Bois die Jugendlichen verfolgt hatten, welche in ein Transformatorenhäuschen geflüchtet und an Stromschlag gestorben waren - der Auslöser für die wochenlangen Vorstadtrevolten 2005. Dieser Freispruch kam zustande, obwohl es Aufzeichnungen von Telefongesprächen unter den Polizisten gibt, die klar bezeugen, dass sie sich sehr wohl der Gefahr bewusst waren, die für die Jugendlichen bestand.
Oder man denke an Florence Woerth, die Frau des ehemaligen Haushaltsministers Eric Woerth, die auf dem Höhepunkt der Bettencourt-Affäre wegen all zu offensichtlicher Interessenkonflikte ihren Job bei der Firma aufgeben musste, die sich um die Verwaltung des Vermögens der L'Oreal Erbin Lilliane Bettencourt kümmerte. Dieser Tage hat sie vor dem Arbeitsgericht auf eine Million Euro Schadenersatz geklagt. Ein normal sterblicher französischer Arbeitnehmer muss schon auf die erste Vermittlungsverhandlung vor einem Arbeitsgericht mindestens acht Monate warten. Bis ein gesprochen und er möglicherweise Recht bekommt, vergehen im Schnitt fast drei Jahre. Für Madame Woerth hat das zuständige Arbeitsgericht bereits nach zwei Wochen einen Termin für ein erstes Vermittlungsgespräch gefunden.
In den Spitzenetagen des französischen Fussballverbandes hat man ebenfalls jüngst die Gleichheit mit Füssen getreten und hinter verschlossenen Türen überlegt, ob bei der Talentförderung für die künftige französische Nationalelf ab dem Alter von zwölf Jahren Quoten für aus Nord- und Schwarzafrika stammende junge Franzosen einzuführen seien – nach dem Motto: Es gibt in Frankreichs Jugendnationalmannschaften einfach zu viele Schwarze.
Fraternité
Und die Brüderlichkeit - wo ist die bitteschön geblieben? Man nehme nur ein Beispiel und schaue sich an, wie Frankreichs Regierung und der Präsident zur Zeit mit ein paar tausend Tunesiern umspringen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um das Mittelmeer zu überqueren, und von Italien aus in ihrer überwiegenden Mehrzahl zu Freunden und Verwandten nach Frankreich wollen. Von Wellen, von einer Flut ist die Rede, von einem massenhaften Ansturm illegaler Einwanderer - eine schamlose, demagogische Übertreibung, die jedoch im Einklang mit dem herrschenden Klima im Land steht. Denn hier diktieren Marine Le Pen und ihre rechtsextreme Nationale Front, die man mittlerweile verharmlosend "populistisch" nennt, weiterhin die Themen der politische Diskussion.
Präsident Sarkozy riskierte beim Muskelspiel in dieser Affäre sogar eine echte Krise mit dem Nachbarland Italien. Dabei kommen jährlich so oder so rund 300 000 Ausländer nach Frankreich - fast ebenso viele verlassen das Land wieder. Niemand kann wirklich verstehen, warum ein paar tausend Immigranten mehr in einem Land wie Frankreich plötzlich ein Problem für die Innere Sicherheit und die Aufrechterhaltung der Ordnung darstellen sollen. Doch der Innenminister spielt mit den Tunesiern kalt und zynisch Pingpong, schickt sie wieder nach Italien zurück oder lässt sie verhaften, wohl wissend, dass sie nach kürzester Zeit von Gerichten wieder auf freien Fuss gesetzt werden müssen.
Die Tunesier, die es bis Paris geschafft haben, dort aber weder Familie noch Freunde haben, stranden unter der Ringautobahn der französischen Hauptstadt, schlafen zu Hunderten im Freien, werden von der Polizei gejagt oder bei der Essensausgabe verhaftet. Nach zwei Tagen sind auch sie wieder auf freiem Fuss. Auf diese Weise werden junge Tunesier mit der knallharten Realität der französischen Metropole konfrontiert. Hier schert sich niemand darum, dass sie Bürger eines Landes sind, das sich seine Freiheit erobert hat und dafür in den letzten Monaten von aller Welt mit pathetischen Worten beglückwünscht wurde.
Doch von Freiheit und Brüderlichkeit haben die jungen Tunesier seit ihrer Ankunft im Land der Menschenrechte wahrlich nichts gespürt. Man behandelt uns hier, sagt einer, schlechter als die Hunde. Dabei wäre es ein Leichtes, für diese Gestrandeten Arbeitsplätze zu schaffen, indem man sie etwa damit beauftragt, im ganzen Land die Devise „Liberté, Egalité, Fraternité“ von den Mauern der französischen Rathäuser zu entfernen.