Frankreich werkelt und wurstelt vor sich hin. Der Präsident laviert, wie er es in seiner gesamten politischen Karriere, besonders als Vorsitzender der Sozialistischen Partei, immer getan hat, bemüht um unwahrscheinliche Kompromisse. Von daher auch sein bisheriges Image, ein Weichei zu sein.
Die Unternehmer schimpfen in diesen Wochen wie die Rohrspatzen angesichts einer Wettbewerbsfähigkeit, die sich nicht einstellen will und von Reformen, die ihnen nicht weit genug gehen, obwohl sie kommendes Jahr mit Abgabenerleichterung in zweistelliger Milliardenhöhe rechnen dürfen. Die Bevölkerung stöhnt unter zusätzlichen Steuern. Rund 1,5 Millionen Haushalte, die bislang nicht veranlagt waren, müssen dieses Jahr ins Staatssäckel einzahlen. Da es deswegen im Land gewaltig zu rumoren begann, hatte der Präsident ein Einsehen und verkündete für 2014 eine Steuerpause. Zwei Tage später sprach der Premierminister von 2015. Was jetzt ?
Dabei erreicht, trotz erhöhter Steuern und 15 Milliarden Einsparungen, die Staatschuld im Haushaltsentwurf einen neuen Höchststand von voraussichtlich 95,1 Prozent des Bruttosozialprodukts.
Zweckoptimismus
Die Franzosen sind angesichts dessen in ihrer Gesamtheit nach wie vor mehr als pessimistisch, sehen nicht, woher ein Hoffnungsschimmer kommen könnte. Also macht Präsident Hollande auf Zwangsoptimismus. Gebetsmühlenhaft wiederholt er seit Jahresanfang, die nach oben steigende Kurve der Arbeitslosenzahl – inzwischen 3,2 Millionen, 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung – werde den Zenith vor Ende 2013 überschritten haben. Wille des Präsidenten! Dumm nur, dass dieser Wille allein nicht ausreicht und das Jahr bald zu Ende geht. Wenn die Zahl jetzt im August erstmals nach 27 Monaten des ständigen Steigens offiziell rückläufig war, dann nur, weil unerklärlicherweise 70‘000 Menschen mehr als in anderen Monaten angeblich ihren Eintrag als Arbeitslose nicht mehr erneuert haben, ohne aber eine Arbeit gefunden zu haben.
Jugend – angebliche Priorität
Hollandes Generationenvertrag, der junge Menschen in Arbeit bringen und die Älteren im Betrieb halten sollte, funktioniert nicht. Gerade mal 10‘000 solcher Verträge sind in sechs Monaten unterzeichnet worden. Das war aber Hollandes Pfund während des Wahlkampfs hinsichtlich der angeblichen Priorität, sich um die Jugend dieses Landes kümmern zu wollen – eine Jugend, die nicht mehr an sehr viel glaubt und, sofern sie gut ausgebildet ist, gerne das Weite sucht.
Die Offensive für Frankreichs Jugend versprach unter anderem auch eine grosse Schulreform. Nach 20-jährigem Wehklagen über den unsäglichen kontraproduktiven Rhythmus für Frankreichs Schüler war nun aber endgültig eine Veränderung angekündigt. Frankreichs Schüler haben so viele Ferientage, wie sonst kaum andere Kinder und Jugendliche in Europa, dafür aber ellenlange Schultage, an denen sich in den letzten Stunden kein Mensch mehr konzentrieren kann. Selbst dieser kleine Schritt scheitert jetzt aber an festgefahrenen Strukturen, an der Schwerfälligkeit der französischen Gesellschaft. Der Erziehungsminister hat dieser Tage nach Widerständen von Eltern, Lehrern und Gemeinden angekündigt, dass sich bis 2017 nichts ändern werde. Da sind dann aber schon wieder die nächsten Präsidentschaftswahlen.
Schwerfälligkeiten
A propos Schwerfälligkeit. Seit rund zwanzig Jahren kann man in weiten Teilen der Bretagne das Leitungswasser nicht mehr trinken. Seit ebenso langer Zeit kennt man den Grund: Die intensive Schweinezucht in dieser Region hat das Grundwasser grossflächig kontaminiert, ganz abgesehen von den Algenmassen, die die nordbretonische Küste nun seit Jahren in stinkende Landschaften verwandeln und ebenfalls auf den versickernden Schweinemist zurückzuführen sind. Nun, da aus Brüssel, nach über einem Jahrzehnt der Verwarnungen, Strafen in zweistelliger Millionenhöhe drohen, sagt der französische Bauernverband, man müsse den Landwirten mehr Zeit lassen. Nochmal zwanzig Jahre, oder fünfzig?
Noch ein Beispiel für die Schwerfälligkeit gefällig? Ebenfalls seit gut zwanzig Jahren weiss man, dass das System der beruflichen Fortbildung in Frankreich im Grunde ein einziger Skandal und völlig ineffizient ist. Jährlich werden ca. 35 Milliarden Euro verpulvert an Abertausende Unternehmen, die mit Weiterbildung ihr Geld machen. Nur 10 bis15 Prozent dieser Summe kommen aber denen zugute, die es am nötigsten hätten: den Arbeitslosen. Ja schlimmer noch: Je besser ausgebildet und je höher in der Hierarchie, desto mehr Fortbildung geniessen Frankreichs Arbeitnehmer. Und warum ändert sich seit Jahren nichts an dieser ohnehin schon skandalösen Situation? Weil dahinter auch noch ein richtiger Skandal steckt: Aus den Riesensummen für berufliche Fortbildung wird über dunkle Kanäle seit Jahren das ein oder andere abgezwackt, um sowohl die Gewerkschaften als auch die Arbeitnehmerverbände in diesem Land mitzufinanzieren! Die Regierung hat angekündigt, mit diesem Zustand nun endgültig aufräumen zu wollen. Man möchte fast wetten, dass ihr auch das nicht gelingt.
Präsident Hollande kann nicht mal mehr in der Aussenpolitik punkten, wie das mit der alles in allem erfolgreichen Intervention in Mali der Fall war, nach der in dem afrikanischen Land sogar einigermassen korrekte Wahlen abgehalten werden konnten. Im Syrienkonflikt hat er sich jetzt mit seiner offensiven Haltung für Militärschläge in eine Sackgasse manövriert, wurde vom britischen Parlament und von Obama im letzten Moment allein gelassen und musste zuschauen, wie Russland und die USA wie in guten alten Zeiten als die zwei Grossmächte in Genf verhandelten und Paris links liegen liessen.
Hollande im Keller
Als „glücklicher Sisyphus“ hatte sich François Hollande zu Beginn seiner Amtszeit bezeichnet. Den Fels aus Staatsschulden, schwächelnder Industrie und Massenarbeitslosigkeit rollt er immer noch vor sich her. Dass er dabei wirklich glücklich ist, scheint unwahrscheinlich. Seine Beliebtheitskurve jedenfalls ist jüngst in einer Umfrage auf gerade noch 23 Prozent abgestürzt – das zweitschlechteste Ergebnis in der gesamten Geschichte der 5. Republik. Nur François Mitterrand lag im Jahr 1991, allerdings nach zehn Jahren der Amtsausübung, noch um ein Prozent niedriger.
Ausgerechnet zum gleichen Zeitpunkt feiert die Nachbarin Angela Merkel nach acht Jahren an der Macht einen wahren Triumph. Für Hollande eine weitere Schlappe – schliesslich hatte er schon seit Beginn seines Wahlkampfs Ende 2011 ziemlich unverhohlen auf die Genossen der SPD gesetzt und von einem Europa geträumt, das sich nach Links entwickelt. Und seine Parteifreunde, darunter der Parlamentspräsident und einige seiner Minister, hatten noch vor wenigen Wochen den Mund ziemlich voll genommen, Frankreich müsse, was Europas richtige Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik angeht, die Konfrontation mit Deutschland suchen. Seit dem 22. September klingen diese Worte aus dem Mund des Parlamentspräsidenten Claude Bartolone ein wenig anmassend – auch wenn er sie jetzt wie zum Trotz noch einmal wiederholt hat.
Sündenbock Roma
Derweil spielt Manuel Valls, Hollandes Innenminister, den Sarkozy – zuständig für kernige Sprüche und eine demonstrativ harte und unnachgiebige Haltung in Sachen innere Sicherheit. Nicolas Sarkozy hatte im Sommer 2010 wegen seiner öffentlichen Stigmatisierung der Sinti und Roma über die Grenzen Frankreichs hinaus Empörung ausgelöst und sich selbst bei der Kommission in Brüssel Ärger eingehandelt. Heute, drei Jahre später, sagt ein sozialistischer Innenminister nichts anderes als der konservative Präsident damals: Die Roma gehörten nach Rumänien und Bulgarien zurück und damit basta, sie seien in Frankreich beim besten Willen nicht zu integrieren. Wörtlich: „Eine Mehrheit der Roma ist nicht dazu berufen, in Frankreich zu bleiben.“ Vor allem handelt Manuel Valls auch um keinen Deut anders als seine konservativen Vorgänger: Die Räumungen von Lagern und Barackensiedlungen sowie die Ausweisungen von Roma gehen weiter, wie vor der Wahl von Präsident Hollande zum Staatspräsidenten. Und wie vor drei Jahren schreibt EU-Kommissarin Vivianne Reding den Franzosen erneut ins Stammbuch, sie hätten gefälligst die in der EU gültigen Freiheitsrechte zu respektieren.
De facto ist der kläglich-peinliche Auftritt des Innenministers vor allem im Zusammenhang mit den in sechs Monaten stattfindenden landesweiten Gemeinderatswahlen zu sehen, für die der Wahlkampf bereits begonnen hat. Und Manuel Valls tut nichts anderes als die Konservativen und die extremen Rechten in diesen Fällen auch: Er stempelt ohnehin verletzliche Gruppen der Bevölkerung zu Sündenböcken.
Etwas ist faul ...
Es riecht dieser Tage wieder einmal nicht sehr gut in diesem Land, irgendetwas fault still und leise, aber beständig vor sich hin.
Da werden zwei im Prinzip honorige, konservative Senatoren dabei ertappt, wie sie sich während einer offensichtlich etwas langweiligen Sitzung der Zweiten französischen Kammer über Präsident Hollande und seine Regierung unterhalten und dabei vergessen, dass ihre Mikrophone geöffnet sind. Der 70-jährige Eric Doligé, ein früherer Unternehmer, spricht da von Mordgelüsten. Ihm gehe es wie den meisten der Franzosen, er ertrage Hollande und seine Bande nicht mehr. Er habe eine Liste von 40 Leuten, auf die man schiessen lassen müsse, auf all die, die in der Regierung sind. Worauf dem Bürgermeister von Marseille und Senator, dem 74-jährigen Jean-Claude Gaudin, nichts besseres einfällt als zu sagen, er könne ja die Kalaschnikows liefern. Natürlich alles ein Witz, aber ein ziemlich schlechter. Es gibt nur die Tonaufzeichnung dieser unziemlichen Konversation, doch man kann sich lebhaft vorstellen, wie sich die beiden betagten Herren mit wackelnden Bäuchen unter den goldverzierten Decken des Senats lachend auf die Schenkel schlagen, als sässen sie an irgend einem beliebigen Stammtisch .
Fillon und Nationale Front
Und weil die Stimmung im Land so ist, wie sie ist und sowohl die Konservativen als auch die Sozialisten sechs Monate vor den Kommunalwahlen bereits panische Angst vor der Nationalen Front und Marine Le Pen bekommen, fängt nun auch noch der als biederer Provinzbürger getarnte ehemalige Premierminister François Fillon an, der Nationalen Front hinterher zu laufen, sich anzubiedern, zu versuchen, es ihr gleich zu tun. Dass er noch im letzten Jahr Nicolas Sarkozys stark rechtslastigen Wahlkampf in aller Deutlichkeit kritisiert hatte, scheint plötzlich Schnee von gestern. Bei der ewigen Frage, wie hält man es als konservative Partei im zweiten Wahlgang mit den Rechtsextremen für den Fall, dass der Kandidat der eigenen UMP-Partei nach dem ersten Durchgang ausgeschieden ist und in der Stichwahl dann ein Sozialist einem Vertreter der Nationalen Front gegenübersteht, war vor zehn Jahren noch eindeutig klar: Man rief die eigenen konservativen Wähler dazu auf, für den sozialistischen Kandidaten zu stimmen und nannte das die Republikanische Front gegen die extreme Rechte.
Ein paar Jahre später schon galt dann nur noch die Parole: Weder-noch Die bürgerlichen Parteien UMP und Zentrum gaben also keine Empfehlung mehr ab. Und was sagte nun Herr Fillon jüngst auf die Frage, wie er sich in so einem Fall verhalten würde? Antwort: Er würde dazu aufrufen, für den Kandidaten zu stimmen, der weniger sektiererisch ist!
Mit anderen Worten: Ein ehemaliger französischer Regierungschef stellt heute die Sozialistische Partei und die Nationale Front auf ein und dieselbe Ebene, stellt der extremen Rechten einen Persilschein aus und bestätigt ihr indirekt, dass sie eine Partei ist wie jede andere auch. Nicht zu Unrecht sagte Front-National-Chefin Marine Le Pen, François Fillon sei wirklich ihr bester Wahlhelfer. Denn mit seiner Äusserung hat er verunsicherten konservativen Wählern in der Tat einen Freibrief ausgestellt, gleich extrem rechts zu wählen .
Sündenbock Islam
Natürlich – und darauf darf man sein letztes Hemd verwetten – wird in dem beginnenden Kommunalwahlkampf auch das Thema Islam wieder gründlich breitgetreten werden. Man wird wieder Stimmung machen gegen Bauprojekte von Moscheen und sich gleichzeitig heuchlerisch darüber empören, dass Muslime auf Frankreichs Strassen beten. Gegen das rechte Wochenblatt „Valeurs Actuelles“ ist gerade schon von der „Union der jüdischen Studenten Frankreichs“ Klage eingereicht worden wegen Anstachelung zum Rassenhass. Die Zeitung mit einer Auflage von 100‘000 Exemplaren hatte auf ihrer Titelseite eine mit dem Niqab verschleierte Marianne-Büste abgebildet unter der Überschrift: „Einbürgerungen – die Invasion, die man uns verschweigt“, mit Untertiteln, die da lauten: „Islam, Immigration – wie die Linke unsere Bevölkerung verändern will“ und „Das Gewicht der Muslime wird immer stärker“.
Gleichzeitig sorgt seit einer Woche ein Buch zum Thema Muslime in Frankreich für eine interessante Polemik. Geschrieben von dem renommierten Journalisten Claude Askolovitch, seit jeher ein Linker und zugleich ein nicht praktizierender Jude. Titel des Buches: „Diese Muslime, die Frankreich nicht will“. Wohl erstmals überhaupt kommt in Frankreich aus dieser Ecke eine fundamentale Kritik des versteinerten und allzu rigiden Laizismus, der ein Zehntel der heutigen französischen Bevölkerung permanent massregele und ihm das Alltagsleben erschwere, vor allem Verbote ausspreche und jede Toleranz zusehends vermissen lasse. Es ist ein flammendes Pamphlet, welches an die Politiker und die Gesellschaft appelliert, sich endlich einzugestehen, dass sich Frankreich verändert hat, kompliziert und bunt gemischt und eben auch muslimisch geworden ist und dass es endgültig Zeit wäre, dieser Realität ins Auge zu sehen.
Djihad-al-nikah
A propos: Es soll noch mal einer sagen, fundamentalistische Radikalislamisten hätten mit Sex überhaupt nichts am Hut, ja würden ihn verteufeln.
„Nikah“ lautet im arabischen das Wort für Beischlaf, „Nak“ ist das Verb für den Geschlechtsverkehr, was im Indikativ der 3. Person Singular ergibt: „i-nik“. Von dort zum vulgärfranzösischen „il nique“ ist es wahrlich nicht weit. Französische Soldaten in Algerien sollen den Terminus Ende des 19. Jahrhunderts erstmals in ihr Kasernenfranzösisch übernommen haben, bevor er vor mehr als zwanzig Jahren in den französischen Vororten mit dem Rap und der Gruppe „Nique Ta Mère“ erneut auftauchte und sich seitdem in der Vulgärsprache dauerhaft festgesetzt hat.
Nicht dass einem das alles einfach so geläufig gewesen wäre, mitnichten. Doch ein Zeitungsartikel dieser Tage hatte aufhorchen lassen und zur Recherche bewegt. In dem Artikel hiess es, dass jüngst hunderte junge Tunesierinnen nach Syrien verfrachtet wurden, um den Gotteskriegern vor Ort wohlgefällig zu sein und zu Dutzenden schwanger wieder nach Tunesien zurückkehrten. Bei dieser besonderen Art von Zwangsprostitution handle es sich aus Sicht von Islamisten in Tunis durchaus nicht um Sünde oder um ein Verbrechen, sondern um den „djihad-al-nikah“, zu Deutsch: den „Heiligen Krieg des Sex“.
„Nique ta mère“ möchte man den heuchlerischen Djihadisten und den als Korangelehrte getarnten Zuhältern in Tunesien da doch zurufen.