Zwei Jahre lang haben 14 Historiker im Auftrag von Staatspräsident Macron gearbeitet, um – wie es offiziell hiess – «die Rolle und das Engagement Frankreichs in Ruanda während der Jahre 1990 bis 1994 zu analysieren». Dafür konnten sie erstmals auch rund 8’000 Dokumente jener Epoche aus den Archiven des Elyseepalastes, verschiedenster Ministerien und des französischen Auslandsgeheimdienstes einsehen.
Herausgekommen ist ein 1200 Seiten starker Bericht, der laut der Tageszeitung «Le Monde» die Geschichte eines französischen Versagens erzählt, ja eines sowohl politischen als auch militärischen, diplomatischen, administrativen, intellektuellen und ethischen Schiffbruchs.
Vernichtendes Urteil
Frankreich, so heisst es in dem Report, habe sich zwar im strikten Sinne nicht zum Komplizen des Völkermords gemacht, aber – und dieses Aber wiegt schwer – es habe sich allzu lange Zeit auf Seiten eines korrupten und gewalttätigen Regimes engagiert, welches schon Jahre vor Beginn des Völkermords zu rassistischen Massakern ermuntert habe. Frankreich, so wörtlich, war von Blindheit geschlagen angesichts der Vorbereitungen zum Völkermord durch die radikalsten Elemente des Huturegimes in der ruandischen Hauptstadt Kigali. Es habe die Situation in Ruanda durch eine postkoloniale Brille betrachtet, ein simples, binäres Schema angewandt, in dem auf der einen Seite der befreundete Hutu stand, verkörpert durch Präsident Habyarimana, und auf der anderen Seite der Feind, den man als «Ugando-Tutsi » bezeichnete, also die FPR, die «Patriotische Front Ruandas» unter Paul Kagamé, dem heutigen Staatspräsidenten des Landes.
Nach dem Attentat auf Präsident Habyarimana – sein Flugzeug wurde bei der Rückkehr in die Hauptstadt Kigali abgeschossen, von wem, ist bis heute nicht geklärt – und dem unmittelbar darauf folgenden Beginn des Völkermords am 6. April 1994, habe Frankreich dann auch noch viel zu lange gezögert, um mit der neuen, provisorischen Regierung, welche den Völkermord betrieben hat, zu brechen. Vielmehr habe die angebliche Bedrohung der ruandischen Regierung durch die «Patriotische Front Ruandas» für Paris weiterhin Priorität gehabt. Alles in allem haben die Forschungsarbeiten der Historikerkomission eine, wie sie schreibt, «schwerwiegende, ja erdrückende Verantwortung Frankreichs» beim Völkermord an den Tutsi ans Licht gebracht.
Präsident Mitterrands Verantwortung
Es ist das besondere Verdienst der Historikerkommission, dass sie es ein Vierteljahrhundert nach dem Tod von François Mitterrand gewagt hat, endlich – so ist man geneigt zu sagen – am Denkmal des Mannes zu kratzen, der 14 Jahre lang (1981–1995) Frankreichs Staatspräsident gewesen war.
Ja das Bild, das von François Mitterrand in diesem Bericht im Zusammenhang mit seiner Ruandapolitik und dem Völkermord gezeichnet wird, ist nachgerade erschütternd.
Der Bericht arbeitet glasklar heraus, dass der gesundheitlich bereits schwer mitgenommene Präsident sich vor und nach dem Ausbruch des Völkermords in seiner Ruandapolitik über alle Usancen, Regeln und Gesetzmässigkeiten hinweggesetzt und eindeutig dafür gesorgt hat, dass z. B. bei Kontakten zur französischen Botschaft in Kigali oder zu den französischen Armeeeinheiten in Ruanda im Grunde illegale Parallelstrukturen aufgebaut wurden – vorbei am Aussenministerium und unter Umgehung der normalen Befehlsstrukturen im Verteidigungsministerium.
«Eine kleine Gruppe von Männern hat eine von den Realitäten losgelöste Politik betrieben», so der Vorsitzende der Historikerkommission. Die kleine Gruppe, das waren der Präsident, sein militärischer Sondergeneralstab im Elysee unter zwei Generälen, die normalerweise nur beratende Funktion haben und vor allem in Sachen Atomwaffen zuständig sind, sowie der Generalsekretär im Präsidentenpalast und der damalige französische Botschafter in Ruanda.
Die Rolle der französischen Botschaft
Letzterer hatte bereits 1990 alles getan, um einen ersten warnenden Bericht eines Experten der Region über drohende rassistische Entgleisungen des Huturegimes öffentlich zu desavouieren. Besonders düster war seine Rolle aber nach Beginn des Völkermords. Am 7. April 1994 hat er die französische Botschaft in Kagali geöffnet, aber nicht etwa für Tutsi, die vor dem beginnenden Gemetzel Zuflucht suchten, sondern für all die radikalen Hutu, die für das beginnende Gemetzel verantwortlich waren, einschliesslich des Clans des verstorbenen Staatspräsidenten um dessen Ehefrau Agathe.
Frankreich, sprich der Elysée-Palast, hat es zugelassen, dass in seiner Botschaft die provisorische Regierung gebildet wurde, die den danach 100 Tage dauernden Völkermord betreiben sollte. Der Botschafter habe sich in den letzten Tagen vor seiner Rückkehr nach Paris im April vor allem darum gekümmert, im Garten zwei Tage lang Dokumente zu verbrennen und auf direkten Befehl von Präsident Mitterrand die Familie von Präsident Habyarimana, allen voran dessen Frau Agathe, nach Frankreich zu evakuieren. Agathe Habyarimana lebt übrigens bis heute unbehelligt und diskret in einem südwestlichen Pariser Vorort.
Militärische Kooperation
Der Bericht ruft noch einmal in Erinnerung, dass Präsident Mitterrand ab 1990 damit begonnen hatte, sich verstärkt in Ruanda zu engagieren, die dortige Armee aufzubauen, auszubilden, mit Waffen zu beliefern und fast 1000 französische Soldaten in Ruanda zu stationieren. Innerhalb von nur einem Jahr wurde die Armee des zentralafrikanischen Landes von 5’000 auf 30’000 Mitglieder aufgestockt – fast ausschliesslich mit Hutu. Schon da hätten bei den Verantwortlichen für die militärische Kooperation in Paris die Alarmglocken läuten müssen, so der Bericht der Historikerkommission. Diese eilig rekrutierte Armee Ruandas habe eindeutig einer Söldnertruppe im Dienste des Huturegimes geglichen.
Augen zu und weiter
Geradezu niederschmetternd für Mitterrand und die «kleine Gruppe von Männern» um ihn herum sind die Passagen des Berichts, die sich mit all den Warnungen beschäftigen, die französische Armeeangehörige, der Auslandsgeheimdienst, Beamte im Aussenministerium, NGOs, Forscher und Afrikaexperten schon ab 1990 an den Elysee-Palast gerichtet hatten. Alle, aber auch alle Warnungen über die Radikalisierung des Huturegimes unter dem jungen Präsident Habyarimana, über die mögliche Vorbereitung eines Völkermords, über die Gefahr, dass Frankreich als Komplize dastehen könnte oder über das letztlich relativ geringe Interesse für Frankreich, sich in Ruanda so weitgehend zu engagieren – sie wurden im Elysee-Palast samt und sonders einfach vom Tisch gefegt.
Ja, schlimmer noch: Beamte im Aussenministerium, ein altgedienter General, Botschaftsmitarbeiter oder Geheimdienstoffiziere, die diese Warnungen ausgesprochen hatten, wurden schlecht benotet, strafversetzt oder aus dem Verkehr gezogen.
Warum all das?
Die Gründe, die François Mitterrand bewogen haben könnten, sich ausgerechnet in Ruanda, dieser ehemaligen belgischen Kolonie, ab 1990 derart zu engagieren und bis zum schrecklichen Ende an Präsident Habyarimana und an dessen Clique festzuhalten, bleiben auch nach diesem Bericht im Dunklen. Mitterrand, bis über seinen Tod hinaus von den meisten als grosser Staatsmann anerkannt, hat im Fall Ruanda sein eigenes Land in eine Situation hineinmanövriert, die dem damals so oft beschworenen «Land der Menschenrechte» mehr als unwürdig war. Auch der Historikerbericht kann nur den seit zwei Jahrzehnten bemühten Grund ins Feld führen, der jedoch schon in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht glaubhaft und sehr unwahrscheinlich erschienen war: Präsident Mitterrand habe das französischsprachige Ruanda, das er als vom Nachbarn Uganda bedroht sah, welches seinerseits unter angloamerikanischem Einfluss stand, absolut im Einflussbereich Frankreichs halten wollen. Angesichts der für Paris quasi nicht vorhandenen ökonomischen Interessen ein geradezu hanebüchenes geopolitisches Argument.
Schaltstelle im Elysée-Palast
Die tragischste und zynistische Gestalt in dieser Tragödie ist aber wohl der Mann, der von 1997 bis 2002 unter Premierminister Jospin und Präsident Chirac zu Zeiten der Kohabitation Frankreichs Aussenminister war, als solcher damals auch über die Landesgrenzen hinweg hohes Ansehen genoss und seitdem als aussenpolitischer Experte in Medien, bei Kolloquien und auf internationalen Kongressen zwei Jahrzehnte lang hoch gehandelt wurde.
Die Rede ist von Hubert Védrine, Sohn von Jean Védrine, eines alten Freundes und Mitarbeiters von … François Mitterrand. Er war von 1992 bis 1995 Generalsekretär im Elysée, mit anderen Worten die Schaltzentrale im Präsidentenpalast. Der Bericht der Historikerkommission macht klar, dass in Sachen Ruanda alles über seinen Schreibtisch ging und Védrine, angesichts des durch seine Krebserkrankung schon schwer gezeichneten Mitterrand, die ausführende Hand war und dafür sorgte, dass die Direktiven des offensichtlich völlig störrisch gewordenen Präsidenten umgesetzt wurden. Die Historiker haben nichts gefunden, was darauf hindeuten würde, dass der Mann, der seit Jahrzehnten auch der Direktor des «Instituts François Mitterrand» ist und damit sozusagen der Tempelhüter der Ära Mitterrand, versucht hätte, mässigend einzuwirken, im Gegegenteil. «In jeder Krisensituation hat eine Anmerkung für radikalere Optionen plädiert und für weitere Spaltungen gesorgt», heisst es in dem Bericht.
Kritik am Präsidalsystem
Die Historikerkommission nimmt auch kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, in diesem Zusammenhang das monarchische Präsidialsystem der 5. Republik anzuklagen. Ein System, in dem es am Ende des 20. Jahrhunderts möglich war, dass ein einsamer Mann im Elysée-Palast ohne jede Kontrolle des Parlaments und unter Missachtung aller Warnungen, selbst aus seinem eigenen Aussen- oder Verteidigungsministerium, unter Missachtung aller Kritik in einer Art postkolonialen Verbohrtheit ein offen rassistisches System in Afrika unterstützt hat.
Und weil eine normale Kontrolle der Exekutive, wie sie in einer modernen Demokratie selbstverständlich wäre, in diesem Präsidialsystem nun einmal nicht funktioniert, war es auch möglich, dass man es an höchster Stelle im Staat nach dem Völkermord in Ruanda geschafft hat, ein Vierteljahrhundert lang jede Mitverantwortung Frankreichs zu vertuschen. Bis zum Erscheinen dieses Berichts. Und auch der musste erst vom heutigen Staatspräsidenten persönlich in Auftrag gegeben werden.
Archive
Dieser Präsident hat auch angeordnet, dass die Historiker die Möglichkeit bekamen, bisher nicht zugängliche Archivbestände aus den Jahren 1990–1994 auszuwerten. Doch klar ist auch: zu gewissen Dokumenten hatten die Experten keinen Zugang oder die Dokumente gelten als verschwunden oder wurden wahrscheinlich zerstört.
Die Archive von Mitterrands Sohn, Jean-Christophe Mitterrand, der bis 1992 als Afrikaberater im Elysée-Palast fungierte, bevor er eher unrühmlich den Hut nehmen musste, sind angeblich nicht aufzutreiben.
Auch über die Rolle von Paul Barril, ehemaliger Chef einer von Mitterrand geschaffenen Sicherheitseinheit im Elysée-Palast, konnte die Historikerkommission nichts herausfinden. Die reichlich zwielichtige Gestalt, die wegen zwei Skandalen im Elysée hatte seinen Hut nehmen müssen und sich als privater Sicherheitsberater weiter verdingt hatte, war just im April 1994, beim Abschuss der Präsidentenmaschine und zu Beginn des Völkermordes in Ruandas Hauptstadt Kigali aufgetaucht und stand Präsident Habyarimana und dessen Frau Agathe sehr nahe.
Besonders erbärmlich stand es aber offensichtlich um die Archive des Sondergeneralstabs von Präsident Mitterrand im Elysée-Palast, der besagten «kleinen Gruppe von Männern». Ein einziger Karton konnte aufgetrieben werden, wo doch das Thema Ruanda die beiden Generäle dieses Sondergeneralstabs und ihre Mitarbeiter zwischen 1990 und 1994 ganz besonders stark beschäftigt hatte.
Macron und Vergangenheitsbewältigung
Eines muss man Staatspräsident Macron lassen. Was die Aufarbeitung von problematischen Kapiteln der jüngeren französischen Geschichte angeht, hat er Mut bewiesen und seine Versprechen gehalten.
Nach einem historisch zu nennenden Bericht über Frankreichs Rolle in Algerien, der bald 60 Jahre nach Ende des Algerienkriegs als Grundstock für eine geschichtliche Aufarbeitung der Ereignisse in beiden Ländern und für eine mögliche Versöhnung zwischen ihnen dienen soll, liegt jetzt dieser beeindruckende Report über Irrungen und Wirrungen eines Teils der französischen Afrikapolitik in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts mit all ihren erschreckenden Konsequenzen vor.
Ein Desaster
Besonders schockierend ist nach der Lektüre des Berichts, dass Frankreich sich heute im Grunde eingestehen muss, in jener Zeit zwischen 1990 und 1994 einen Präsidenten und eine Regierung gehabt zu haben, die einen Völkermord zugelassen und sich auf jeden Fall so verhalten haben, als hätten sie von allem nichts gewusst und vor allem überhaupt nichts kommen sehen. Eine Staatsführung, die entweder unfähig oder völlig verblendet, zu Selbstkritik und einer vernünftigen Analyse nicht in der Lage war .
Noch am 30. Juni 1994 hatte Mitterrand in einer geheimen Sondersitzung zum Thema Ruanda doch tatsächlich geäussert: «Vor dem Attentat gegen das Flugzeug des ruandischen Präsidenten hat mich niemand auf besondere interethnische Dramen in Ruanda aufmerksam gemacht.»
Ja der kleine Zirkel um François Mitterrand hat es sogar geschafft, nach dem Völkermord über Jahre hinweg die skandalöse These weiter zu verbreiten, als habe es in Ruanada im Grunde zwei Völkermorde gegeben, als hätte sich das rassistische Huturegime durch einen Völkermord nur vor einem anderen Völkermord geschützt, den die Tutsi an ihnen begehen wollten oder zum Teil begangen hätten .
Als der damalige Aussenminister, Alain Juppé, am 16. Mai 1994 erstmals öffentlich von einem Völkermord an den Tutsis sprach, wurde er vom Elysée-Palast quasi umgehend zurückgepfiffen, mit der Sprachregelung, es handle sich um gegenseitige Massaker.
Dazu passt auch, dass Mitterrand und sein Umfeld den Abschuss der Präsidentenmaschine Habyaraminas und die damit verbundene Auslösung des Völkermords stets den so genannten «Uganda-Tutsi», der «Patriotischen Front Ruandas», in die Schuhe geschoben haben. Wider besseres Wissen, wie der Historikerbericht nun zeigt. Er zitiert Quellen des französischen Auslandsgeheimdienstes nur wenige Tage nach dem Attentat, die eine Verantwortung der «Patriotischen Front Ruandas» beim Abschuss der Präsidentenmaschine kategorisch ausschlossen und eher radikale Hutukreise als Täter vermuteten.