Frankreich - einst das klassische Asylland schlechthin und lange Zeit zurecht stolz auf diese Tradition – verhält sich in der aktuellen Flüchtlingskrise in erster Linie defensiv, ja verängstigt, verzagt und in gewisser Weise heuchlerisch.
Unverständnis für Deutschland
Die gesamte politische Klasse Frankreichs wurde von der deutschen Haltung gegenüber den Flüchtlingen regelrecht überrumpelt, was da passiert, scheint ihr schlicht nicht geheuer.
Von ganz links und von extrem rechts heisst es zum Beispiel, Madame Merkel hole sich angesichts der überalterten deutschen Bevölkerung Arbeitssklaven ins Land. Jean-Christophe Cambadelis, dem Generalsekretär der sozialistischen Regierungspartei und Alttrotzkisten, fiel dieser Tage nichts anderes ein, als anzumerken, Angela Merkel spiele mit ihrer grosszügigen Flüchtlingspolitik der rechtsextremen Nationalen Front in die Hände!
Bravo, Monsieur. Natürlich muss die deutsche Kanzlerin, wenn hunderttausende Bürgerkriegsflüchtlinge nach Europa streben und anklopfen, erst mal daran denken, dass Frankreich - unter anderem dank der seit 20 Jahren andauernden Unfähigkeit einer gewissen sozialistischen Partei, die den unteren Schichten der Bevölkerung nichts mehr zu sagen hat, ein Problem mit seiner extremen Rechten hat. Folgt man dieser Logik, hätte Angela Merkel auch sagen können, ich habe PEGIDA im Haus und lasse deswegen die Flüchtlinge irgendwo zwischen Mazedonien und Serbien vegetieren.
Angst vor Nationaler Front
Diese Worte kommen aus dem Mund des Vorsitzenden einer Sozialistischen Partei, die keinen Mucks von sich gegeben hatte, als das Flüchtlingsdrama schon längst seinen Lauf genommen hatte. Schliesslich ist man in der Parteizentrale neben dem Pariser Orsay Museum bis über alle Ohren damit beschäftigt zu kalkulieren, wie man die nächste katastrophale Niederlage bei den Regionalwahlen im Dezember möglichst gering halten kann. Da musste erst das berühmte Foto des toten Jungen an einem türkischen Strand erscheinen, damit die Parteizentrale wenigstens ein lausiges Kommuniqué veröffentlichte, in dem sozialistische Bürgermeister im Land aufgefordert wurden, sich zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit zu erklären.
Plötzlich steht man vor der reichlich ungewöhnlichen Situation, dass ein christdemokratische Kanzlerin trotz der Pegida- Bewegung im Land, klar und deutlich sagt: das Asylrecht existiert und wir haben es anzuwenden, es gibt eine Pflicht zur Menschlichkeit, dafür werden wir kämpfen, dafür mache ich mich politisch stark. Währenddessen zeigen sich in Frankreich eine sozialistische Regierung und der Präsident gegenüber der Nationalen Front richtiggehend gelähmt und glänzen mit der Haltung : je weniger man über das Thema spricht, desto besser.
Zwar wird seit wenigen Tagen gebetsmühlenhaft wiederholt, dass das Land bereit sei, im Rahmen der EU - Umverteilung in den nächsten zwei Jahren 24 000 Flüchtlinge aufzunehmen – das wären zehn Menschen pro Monat und pro Departement -und kaum jemand scheint zu merken, dass dies ungefähr so viele sind, wie an einem einzigen Wochenende jüngst am Münchner Hauptbahnhof angekommen. Und auch wenn sich inzwischen über 600 Gemeinden im Land bereit erklärt haben, Flüchtlinge zu akzeptieren, mutet es angesichts der Flüchtlingskarawanen auf dem Balkan merkwürdig an, wenn die Millionenstadt Lille ankündigt, sie könne 100 – in Worten: einhundert - Schutzsuchende akzeptieren.
Frankreich - nein Danke
Als Präsident Hollande vor zwei Wochen dem deutschen Nachbarn angeboten hatte, ausserplanmässig 1´000 Flüchtlinge aus dem überfüllten München zu übernehmen, da berichteten Frankreichs Medien prompt 24 Stunden lang rund um die Uhr über die Ankunft der ersten 200, als handle es sich um eine grosse Staatsangelegenheit - an den drei Aufnahmeorten in der Region Paris tummelten sich mehr Journalisten als Flüchtlinge. Gleichzeitig mussten die Beamten des französischen Amtes für Asylgewährung, OFPRA, die sich am Münchner Hauptbahnhof aufhielten, gestehen, dass sie dort Mühe hatten unter den Flüchtlingen überhaupt Kandidaten zu finden, die nach Frankreich wollten. So mancher Autobus war am Ende nur zur Hälfte besetzt.
Trotzdem entblödete sich ein ehemaliger Minister unter Präsident Sarkozys, Patrick Devedjian, nicht zu twittern: "Die Deutschen haben uns unsere Juden genommen, jetzt schicken sie uns ihre Araber". Der Mann ist Nachfahre von armenischen Flüchtlingen.
Im unwürdigen Dschungel von Calais
Während der Nachbar Deutschland 2015 mit bis zu 800´000 Asylantyrägen rechnet, verkündete Präsident Hollande jüngst fast stolz, dass die Zahl in Frankreich mit 60´000 im Vergleich zum Vorjahr stabil bleiben werde. Es hat sich unter Flüchtlingen offenbar herumgesprochen, dass ein Asylverfahren in Frankreich im Schnitt zwei bis drei Jahre dauert, dass die Anerkennungsquote nicht mal bei 30 Prozent liegt und dass es für zwei Drittel aller Asylsuchenden im Land schlicht keine Unterkünfte gibt.
Frankreichs Asylsystem ist seit Jahren hoffnungslos unterdimensioniert und das mit voller Absicht. Im unwürdigen Dschungel von Calais an der Kanalküste, wo 3000 Migranten kampieren, kündigte der Premierminister jüngst an, man werde eine Zeltstadt für 1500 Menschen errichten, im Januar - also mitten im Winter - werde sie fertig sein! Das riecht nach blankem Zynismus.
Flüchtlinge, Schutzsuchende und Arbeitsmigranten scheinen zu wissen, dass ihnen in Frankreich mittlerweile ein rauher Wind entgegen weht, selbst Frankophone unter ihnen ziehen heute andere Länder vor. Dabei hatte Frankreich das Asylrecht schon in der Verfassung von 1793 verankert, hat zum Beispiel nach dem ersten Weltkrieg über 60´000 Armenier aufgenommen, die dem Völkermord in der Türkei entkommen waren, 1939 innerhalb weniger Wochen 500´000 Spanier, die vor Franco geflüchtet waren, oder 1979 noch unter Präsident Giscard d'Estaing 130´000 vietnamesische Boatpeople ins Land gelassen. Heute, 2015, scheint Frankreich von diesem Geist der Aufnahmebereitschaft Lichtjahre entfernt zu sein.
"Invasion, Überschwemmung"
Der Essayist Raphael Glucksmann, Sohn von André Glucksmann, hatte letztes Wochenende in Paris eine Solidaritätsdemonstration für die Flüchtlinge organisiert, gekommen waren nur rund 5000 Menschen. „Als syrische Flüchtlinge die Grenze nach Ungarn überschritten haben", so Glucksmann, "da hielten sie Porträts von Angela Merkel in Händen und nicht die von François Hollande oder irgendeines französischen Politikers. Wir, die wir uns ständig gegenüber der ganzen Welt brüsten, dass wir das Land der Menschenrechte sind – wir sollten mal kurz innehalten, nachdenken und schauen, was um uns herum in Europa passiert, in Deutschland, aber auch in Österreich. Dann würden wir sehen, dass dort die humanistischen Werte, die wir angeblich so grossartig verkörpern, weitaus lebendiger sind, als hier bei uns.“
Frankreich ist in der gegenwärtigen Krise weit davon entfernt, ein privilegiertes Ziel der Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak zu sein. Trotzdem taten Politiker der Konservativen und der extremen Rechten in den letzten Tagen so, als würde das Land überflutet, forderten das Ende von Schengen und die sofortige Einführung von Grenzkontrollen. Ex-Präsident Sarkozy sowie Front National Chefin Marine Le Pen malten gar das Gespenst an die Wand, die Flüchtlinge würden schon bald aus Deutschland nach Frankreich kommen, weil hierzulande die Sozialleistungen angeblich besser seien.
Marine Le Pen verstieg sich dabei angesichts der Flüchtlingsmassen zu dem Vergleich mit der Invasion der Barbaren im 4. Jahrhundert, sprach von einer Überschwemmung mit Migranten, klagte, die Einwanderung in Frankreich sei heute vollständig ausser Kontrolle geraten. Diese Überschwemmung mit Fremden würde zu Lohnsenkungen führen, die Sozialversicherung ruinieren, Defizite und Kriminalität in Frankreich erhöhen.
Der Grundtenor ist rechtskonservativ
Der von der Nationalen Front unterstützte Bürgermeister der südfranzösischen Stadt Bezier begab sich dieser Tage von Kameras, Polizisten und Übersetzern begleitet in eine heruntergekommene, leerstehende Sozialwohnung, in der sich syrische Flüchtlinge niedergelassen hatten, um ihnen mit der blau weiss roten Schärpe über der Brust theatralisch zu verkünden, sie seien in dieser Stadt nicht willkommen, sie hätten die Türen aufgebrochen und Wasser und Strom gestohlen.
Die immer wieder aufkeimende Debatte über die Nationale Identität Frankreichs, geschürte Ängste vor Islam und Überfremdung, mehr als 10 Prozent Arbeitslosigkeit und 9 Millionen Arme im Land und gleichzeitig verzagte Linksparteien, die so gut wie keine Ideen mehr produzieren, sorgen dafür, dass der Grundtenor in der öffentlichen Diskussion Frankreichs – gerade auch bei den Themen Immigration und Asyl - mehr und mehr von konservativ - reaktionären Positionen bestimmt ist.
„Alles Fremde abzulehnen“, sagt Raphael Glucksmann, „und sich auf sich selbst zurückziehen, ist in Frankreich in den letzten Jahren hoffähig geworden. Politisch unkorrekt zu sein ist «in». So können die Leute ihrem Hass freien Lauf lassen. Menschen, die alles geopfert haben, um unter Lebensgefahr das Mittelmeer zu überqueren, werden jetzt hier von Politikern mit einer Überschwemmung oder einem Wasserrohrbruch verglichen. Und kaum jemand hält da selbstbewusst dagegen. Wenn man aber will, dass sich die öffentliche Meinung weiterentwickelt, muss man ein Projekt skizzieren, einen Horizont aufzeigen und offen sagen, bis wohin man gemeinsam mit den Flüchtlingen gehen will. Das aber macht die Linke hierzulande schon seit vielen Jahren nicht mehr, folglich haben wir diesen Rechtsruck in unserer Gesellschaft, dem nichts mehr entgegen steht.“
Tiefsitzender Pessimismus
Die Art und Weise wie Frankreich in den letzten Wochen mit der Flüchtlingskrise umging und die ablehnende Haltung gegenüber Migranten in immer weiteren Kreisen der französischen Politik und der Bevölkerung sind auch ein Ausdruck des allgemeinen, tief sitzenden Pessimismus, der in diesem Land herrscht und laut Umfragen in Europa so einzigartig ist. Und sie sind die Folge der schleichenden, aber seit zwei Jahrzehnten stetigen Ausbreitung des Gedankenguts der rechtsextremen Nationalen Front, das in der Zeit der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy auch noch quasi von höchster Stelle gefördert worden war.
Sinnbild dafür bleibt bis heute das damals geschaffene „Ministerium für Immigration und Nationale Identität“. Die Konsequenz: Ein sozialistischer Präsident und seine Regierung trauen sich inzwischen schlicht nicht mehr, der Herausforderung der Flüchtlingskrise offensiv und positiv zu begegnen, betreiben vielmehr eine Art Vogel-Strauss-Politik in der Hoffnung, das Gros der Schutzsuchenden werde schon nicht nach Frankreich kommen.
Ein ehemaliger französischer Diplomat sagte jüngst, angesichts der Bildes, das Frankreich zur Zeit in dieser Krise abgebe, solle man gefälligst die Kandidatur für die Olympischen Spiele 2024 und für die Weltausstellung 2025 zurückziehen. Für eine erfolgreiche Kandidatur müsse ein Land ein Bild der Weltoffenheit vermitteln können. Frankreich sei dazu gerade nicht in der Lage.