«Die Franzosen versinken in einer kollektiven Depression».
Mit diesem Satz wurde jüngst das jährliche «Barometer über das Vertrauen der Franzosen in die Politik» kommentiert, das vom Forschungszentrum der Elitehochschule Science Po und dem Meinungsforschungsinstitut «Opinion Way» jetzt bereits zum fünften Mal erstellt wurde. Und es bringt ebenso verblüffende, wie beunruhigende Entwicklungen in der französischen Gesellschaft zum Vorschein.
Drei Beispiele
Unter anderem ist in den letzten 4 Jahren die Zahl derer, die optimistisch in die Zukunft blicken, von ohnehin nur 45% auf 34% gesunken. 2009 meinten 49% der Franzosen, es gäbe zu viele Ausländer im Land, heute sind es bereits über zwei Drittel.
Vor 4 Jahren waren 30% der Meinung, Frankreich müsse sich stärker vor der restlichen Welt schützen. Seitdem sind es 17% mehr geworden.
Dies sind nur einige von vielen Zahlen, die ein zutiefst verängstigtes Frankreich zeigen, das sich nach aussen hin abschirmen möchte und gleichzeitig, gerade auch in der jungen Generation, wieder stärker auf Traditionen setzt. „Man singt wieder ein Loblied auf die Tradition“, so Brice Teinturier, Meinungsforscher und Co-Autor der Studie. „Man ist offensichtlich der Meinung, dass man über die Zeiten hinweg gewisse Elemente einfach bewahren muss, die man für die Grundfeste der Gesellschaft hält. Dieses Phänomen war in der Mentalität der Franzosen vor 5, 10 oder 15 Jahren in der Art nicht präsent. Heute drängt es aber in den Vordergrund. Ein Grund dafür ist - und die Studie zeigt dies: die Leute fühlen sich im eigenen Land nicht mehr wirklich zu Hause - 62% sagen das! Diese Leute haben das Gefühl, nicht mehr wirklich Teil einer Gemeinschaft zu sein.“
Ein zutiefst misstrauisches Land
Gleichzeitig ist das Misstrauen der Franzosen gegenüber dem Anderen, dem Fremden und Neuen ganz besonders stark ausgeprägt. Eine Zahl der Studie muss man sich in diesem Zusammenhang wirklich vor Augen halten: 79% sagen, man könne nicht misstrauisch genug sein, wenn man es mit jemand anderem zu tun hat. „Stellt man diese Frage“, so der Meinungsforscher, Brice Teinturier, „anderswo auf der Welt, in den USA, in Italien, Schweden oder in anderen Ländern, ist das Ergebnis ein völlig anderes. Dieses Misstrauen ist wirklich charakteristisch für die Franzosen.“
Demokratie funktioniert nicht mehr
Noch spektakulärer sind die Zahlen, wenn es um die Skepsis gegenüber den politischen Institutionen geht: 87% sind in Frankreich der Meinung, dass sich die politisch Verantwortlichen nicht um die Sorgen der Bevölkerung kümmern, sondern in erster Linie um sich selbst und um ihre Karriere. Am ehesten vertrauen sie noch den Gemeinderäten und Bürgermeistern, am wenigsten den Nationalratsabgeordneten und den politischen Parteien. Ganz besonders beunruhigt zeigen sich die Autoren der Studie von der Tatsache, dass die Zahl derer, die meinen, die französische Demokratie als solche funktioniere schlecht oder sehr schlecht, geradezu extrem angestiegen ist: von 48 auf 69% innerhalb von nur vier Jahren - und dass 84% der Franzosen dem Satz zustimmen, man brauche einen starken Mann, um für Ordnung zu sorgen.
Auch gegen Europa
Mit anderen Worten: der Pessimismus im Land ist extrem. Die französische Gesellschaft ist misstrauisch, verunsichert, verlangt nach Autorität und Orientierungspunkten und ist ganz überwiegend der Meinung, dass es mit dem Land bergab geht. Das Misstrauen gegenüber der Politik und den Medien nimmt zu und gleichzeitig wird auch die Haltung der Franzosen gegenüber Europa immer kritischer und skeptischer.
70% der Bevölkerung möchten die Entscheidungsbefugnisse der EU reduzieren und diese wieder stärker auf nationaler Ebene etabliert sehen. Die Zahl der Befürworter einer Rückkehr zum französischen Franc ist in einem Jahr um 5% auf ein Drittel der Bevölkerung gestiegen und gerade mal die Hälfte der Franzosen hält die EU an sich überhaupt noch für eine gute Sache.
Zersplitterte Gesellschaft
Ob beim Thema Europa, bei Fragen wie Globalisierung, Einwanderung, Autorität, Ordnung oder beim Ruf nach einem starken Mann - in den beiden grossen, jetzt veröffentlichten Studien über den Zustand der französischen Gesellschaft, wird ein Phänomen als besonders besorgniserregend herausgestrichen: der immer grösser werdende Unterschiede zwischen den verschiedenen sozioprofessionellen Kategorien, zwischen der Mittel- und Oberschicht auf der einen und der Unterschicht auf der anderen Seite, die von einer enormen Zersplitterung der französischen Gesellschaft zeugt. Es sei, so einer der Autoren der Studie, als ob die Befragten nicht mehr im selben Land lebten. Nur ein Beispiel unter Dutzenden: die Kategorie der leitende Angestellten hat noch zu 55% Vertrauen in die EU, unter Arbeitern sind es gerade mal 20%. „Die Fragmentierung der Gesellschaft“, so der Meinungsforscher, Brice Teinturier, „wird immer massiver. Es fällt deswegen auch immer schwerer und macht immer weniger Sinn, generell von den Franzosen zu sprechen. Nimmt man z.B. die Kategorie der leitenden Angestellten, so ist ihre Vision hinsichtlich der Globalisierung und der Zukunft gar nicht so pessimistisch. In der Unterschicht dagegen ist das Ergebnis spektakulär anders, ja sogar zutiefst beunruhigend.“
Ein Versuch
Auch angesichts dieses Phänomens hat der Soziologe und Historiker, Pierre Rosanvallon, Professor am renommierten Collège de France, vor wenigen Wochen jetzt ein bemerkenswertes Langzeitprojekt angestossen. Ausgehend von der Feststellung, dass sich viele Franzosen zusehends nicht mehr richtig repräsentiert und von den Institutionen schlicht nicht mehr wahrgenommen fühlen, hat er unter dem Titel „ Raconter la vie/Das Leben erzählen“ mit einem zehnköpfigen Team eine interaktive Webseite und eine Buchreihe zu günstigen Preisen ins Leben gerufen, um den so genannten „Unsichtbaren“ in der Gesellschaft das Wort zu erteilen, gleichzeitig aber auch Forscher, Journalisten und Schriftsteller zu Beiträgen aufgefordert.
„Es gibt immer mehr Menschen in der Gesellschaft“, so Rosanvallon, „die quasi stumm sind und nichts zu sagen haben. Sie leben in ihrer Ecke, sind isoliert, haben das Gefühl, dass man sie vergessen hat, sind einsam und haben den Eindruck, dass sie in der Gesellschaft einfach nicht mehr zählen.“
Das hat, so Rosanvallon weiter, Entmutigung und Enttäuschungen zur Folge, die unter anderem dazu führten, dass immer mehr Menschen den Rufen der Populisten folgen und dass ein gewaltiges Misstrauen um sich greift. Misstrauen komme aber gerade daher, dass man die anderen nicht kennt. Die Folge davon sei wiederum, dass man sich auf sich selbst zurückzieht und andere ausgrenzt. Das Erstarken der politischen Extreme rühre auch daher, dass man die Gesellschaft nicht mehr so sieht, wie sie wirklich ist, sondern nur noch durch das Prisma von Stereotypen und Trugbildern, die gerade durch das Unwissen über den anderen genährt werden.
Parlament der Unsichtbaren
Ronsavallon nennt seine Initiative das „Parlament der Unsichtbaren“ und spricht von einem demokratisch – moralischen Vorhaben. In gewisser Weise ist es auch ein Versuch, mit zu helfen, die Brüche, die sich durch die Gesellschaft ziehen - und mit ein Grund für den in Frankreich herrschenden Pessimismus sind - zumindest ein Stück weit wieder zu kitten.
Der bekannte Soziologe und Historiker will mit seinem Projekt möglichst vielen unter den Menschen das Wort erteilen, über die man so gut wie gar nicht oder nicht genügend spricht, ihre Existenzen, Lebenserfahrungen und Lebensbedingungen ans Tageslicht holen, damit auch der Begriff „Volk“ wieder einen konkreten Inhalt bekommt, zu etwas Lebendigem, Vielfarbigem und Vielfältigen wird und das französische Volk, so wie es eben ist, in seiner ganzen Vielfalt wahrgenommen werden kann.
Und sei es nur, so Rosanvallon, um beispielsweise die heutige Welt der Arbeiter wirklich zu fassen und zu beschreiben. „Früher waren die Arbeiter in den grossen Industriezentren vereint, in den Fabriken der Stahl- oder der Automobilindustrie, wo sie durch ihre Konzentration ein bestimmtes Gewicht hatten. Im Vergleich dazu ist die Arbeiterklasse heute völlig zersplittert. Das Gros der Arbeiter findet man heute in den Logistikzentren, in den Plattformen der Fuhrunternehmen. Es sind die unzähligen Lieferanten, Lagerarbeiter und Handlanger in Supermärkten oder Kaufhäusern. Es ist eine zersplitterte und unsicher gewordene Welt, die bisher aber kaum noch richtig beschrieben worden ist“.
Erste Erfolge
Die Initiative Pierre Rosanvallons kann nach einem Monat schon stolz auf ihren Erfolg sein: 50 Erzählungen, Portraits, Erfahrungsberichte und Reportagen, zwischen 5 und 15 Seiten stark, sind bereits auf der Webseite zu lesen - eine Krankenpflegerin, eine Buchhändlerin, eine 20-jährige Farbige aus der Vorstadt, die es in eine Pariser Elitehochschule geschafft hatte oder der Zugführer einer Pariser Metro beschreiben ihren Alltag und ihre Erfahrungen. In der Buchreihe von «Raconter La Vie» sind bereits 5 Werke erschienen, etwa über das Alltagsleben eines Lieferanten im Verkehrschaos der Hauptstadt, und auch drei namhafte Schriftsteller haben bereits ihre Mitarbeit zugesagt. Im März wird die mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnete Annie Ernaux ihre Beobachtungen über das Leben in ihrem Supermarkt in einer nordwestlichen Pariser Vorstadt veröffentlichen.
Pierre Rosanvallon ist Historiker und hat bei seinem Projekt natürlich auch an das 19. Jahrhundert gedacht und an die Bedeutung eines Victor Hugo, Honoré de Balzac oder Emile Zola, aber auch der damals überaus populären Chansonniers, wenn es darum ging, die Gesellschaft jener Zeit, so wie sie war und gerade auch aus der Perspektive der Underdogs zu beschreiben – zu Zeiten, als die entstehende Arbeiterklasse noch nicht mal ein Stimmrecht hatte und von daher auch nirgendwo repräsentiert war – es sei denn eben in der Literatur und in den Chansons.
Von daher war es kein Zufall, dass 1885, als Victor Hugo starb, mehr als eine Million Franzosen die Strassen in Paris säumten, über die sich der Trauerzug vom Triumphbogen bis ins Pantheon mehr als 8 Stunden lang hinschleppen sollte.